E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Odyssey Oona Crate
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-522-61021-6
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Rätsel des schwarzen Turms
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-522-61021-6
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geheimnisvolle acht Jahre lang schuftete Shawn Thomas Odyssey in einem 140-Sitze-Theater (Gerüchten nach, spukt es dort) in Santa Barbara, Kalifornien. Er arbeitete dort als Schauspieler, Musiker, Bühnenarbeiter, Kulissenbauer und -maler, kümmerte sich um die Besetzung und war derjenige, den man in den dunklen Unterbauch des Theaters schickte, wo er rostige, alte Requisiten und mit Spinnen übersähte Perücken fand. Nach seiner waghalsigen Flucht aus der lebensgefährlichen Bühnenkunst, arbeitete er ebenso todesmutig als Komponist für Filmmusik, das Fernsehen und Videospiele. Als wären diese abschreckenden Arbeiten noch nicht genug gewesen, versuchte er sich dann auf einem noch Furcht erregenderen Gebiet: Er schrieb alle möglichen bösartigen Geschichten, Theaterstücke und Bücher und wurde ganz besessen davon auf einem Feld zu forschen, das er 'Das Dark-Street-Phänomen' nennt. Er ist mit einer mysteriösen Tänzerin verheiratet, die er während seiner Zeit im Spuk-Theater kennengelernt hat und genießt es, neben dem leidenschaftlichen Sammeln von Zauberstäben, in einer Band, deren Name bis zum heutigen Tag geheim gehalten wird, ungewöhnlich gefährliche Musik zu machen. Shawn lebt in Kalifornien.
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Montag, 14. Mai 1877
»Magie ist eine unbeständige Sache«, sagte die zwölfjährige Oona Crate. »Ich ziehe Dinge vor, die funktionieren.«
Deacon saß schweigend und ahnungsvoll auf ihrer Schulter. Argwöhnisch sträubte der verzauberte Vogel seine glänzenden, nachtschwarzen Federn, während die beiden durch das Fenster des Dark-Street-Zauberladens spähten, wo Oonas Onkel die neuesten magischen Wunderdinge verkaufte: gefiederte Zauberwedel, die beim Staubwischen kicherten, und Schwämme, die eine Melodie gurgelten. Nie verlöschende Lampen und unschmelzbares Eis – zwei Verkaufsschlager des Zauberers – lagen in den Regalen bereit, um verkauft oder als Geschenke verpackt zu werden. Doch Oona hatte heute wenig Lust, den Laden zu betreten. Genauso wenig wie alle anderen, wie es schien.
Der Geschäftsführer, Mr Alpert, ein grauhaariger alter Mann mit gewaltigem Überbiss und Brillengläsern so groß und rund wie Untertassen, saß müßig hinter dem Tresen. Seine vergrößerten Augenlider waren fast geschlossen, als würde er jeden Augenblick einnicken. Der Anblick des leeren Geschäfts konnte den Eindruck vermitteln, dass Magie genauso aufregend war, wie Apfelscheiben beim Trocknen zuzuschauen. Also kein bisschen spannend. Und der Laden selbst sah offen gestanden aus, als müsste er dringend renoviert werden.
Direkt nebenan erstreckte sich dagegen eine frisch gestrichene Ladenfront zwischen dem Zauberladen auf der einen und dem Schuhmacher auf der anderen Seite. Hinter den weit geöffneten Türen herrschte umtriebige Geschäftigkeit. Ein großes Schild über dem glänzenden Schaufenster verkündete: MR WILBER’S WELT MODERNER WUNDER. Einkäufer und Neugierige drängten sich durch die Türen von Mr Wilbers fantastischem Laden, wo von modernsten Zahnbürsten und Fahrrädern bis zu Fotozubehör und neumodischen Waffeleisen beinahe sämtliche technische Gerätschaften, die im Jahr 1877 auf den Markt gekommen waren, feilgeboten wurden.
Mr Wilber, ein schlaksiger Bindfaden von einem Mann, mit flachem Gesicht und überproportionalem Adamsapfel, wirkte nie gelangweilt, wie das bei Mr Alpert so oft der Fall war, was nach Oonas Vermutung darauf zurückzuführen war, dass Mr Wilber viel zu beschäftigt war, die Erwartungen seiner nach technischen Neuerungen schreienden Kundschaft zu erfüllen.
Oona seufzte. Der Tag war strahlend hell, und die Luft war sauber. Der Geruch nach frischem Frühlingsgrün und staubigem Kopfsteinpflaster drang in jeden noch so schattigen Winkel der Straße vor. Nach einem Blick auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe des Zauberladens strich Oona über ihre spitzenbesetzte Haube und ihr Haar. Seit dem gestrigen Zwischenfall mit der Guillotine war es keinen Millimeter gewachsen, und jetzt zupfte sie ständig daran herum, um es zu glätten – ein schier aussichtsloses Unterfangen.
»Du musst vorsichtiger sein!«, lautete der Rat ihres Onkels bezüglich des Zwischenfalls, bei dem ihr fast der Kopf abgehackt worden war. Seine Worte waren sehr direkt und sein Tonfall ungewöhnlich streng. »Ich gebe nur meine Zustimmung zu deiner Detektivgeschichte, wenn du mir versprichst, dass du dich nie wieder in so eine gefährliche Situation bringst. Ich meine es ernst, Oona! Igregious Goodfellow ist Schurke, Dieb und mordlustiger Irrer in einer Person. Du hattest riesengroßes Glück, dass nur deine Haare in die grässliche Guillotine dieses Halunken geraten sind. Du hättest ihm niemals in sein geheimes Versteck folgen dürfen. Als du herausgefunden hast, dass er das Schmuckgeschäft der Horton Familie ausgeraubt hat, hättest du die Sache der Polizei überlassen sollen.«
Oona hatte bei diesem Vorschlag die Augen verdreht. Ihr Onkel musste doch wissen, dass man der Polizei nicht trauen durfte. Seit fast drei Jahren, als Oberinspektor White die Leitung übernommen hatte, betrachteten sowohl gesetzestreue Bürger als auch Kriminelle das Polizeikommissariat der Dark Street als einen Witz. Noch nie zuvor hatte das Verbrechen in der Straße derart floriert.
»Du hast Glück gehabt, dass du dich von den Fesseln befreien konntest, bevor dieser Wahnsinnige die Klinge gelöst hat«, fuhr ihr Onkel in strengem Ton fort, »und dass Deacon so schnell zur Polizei geflogen ist … sonst … sonst …« Der Zauberer seufzte und schüttelte den Kopf. »Du bist doch noch ein Kind, Oona. Und du bist nicht dein Vater.«
Diese Worte hatten wehgetan. Oona musste sich auf die Zunge beißen, um den Zauberer nicht darauf hinzuweisen, dass auch er nicht ihr Vater war, und dass ihr Vater tot war und sechs Fuß tief unter der Erde des Dark-Street-Friedhofs begraben lag. Aber warum sollte sie das zur Sprache bringen? Es hätte ihn nur traurig gemacht.
Ihr Onkel mochte nicht der großartigste Magier sein, der jemals das Amt des Dark-Street-Zauberers innehatte – einige schätzten seine magischen Fähigkeiten sogar nur als mittelmäßig ein – aber er war mit Sicherheit der großartigste Onkel und Vormund, den ein Mädchen wie Oona sich erhoffen konnte. Und außerdem hatte er schließlich eingelenkt und sie ihrer magischen Verpflichtungen entbunden, damit sie ihr Interesse an der Detektivarbeit besser verfolgen konnte. Was hätte sie mehr von ihm verlangen können? Also hatte Oona versprochen, keinen lebensgefährlichen Verbrechern hinterherzuschnüffeln … wenn es sich vermeiden ließ.
In diesem Augenblick schaute sie in Richtung Norden, und blickte die Dark Street hinab, die letzte der Feenstraßen, die die Welt der Menschen mit der sagenumwobenen Welt der Feen verband. Die breite Kopfsteinpflasterstraße erstreckte sich ohne Unterbrechungen durch Kreuzungen oder Stichstraßen über gut dreizehn Meilen und bildete eine Welt für sich. Die Gebäude erhoben sich am Gehsteigrand wie schiefe Zähne, die in einen zu kleinen Mund gequetscht worden waren. Sie schienen sich gegenseitig zu stützen und es sah aus, als würde der Einsturz eines Hauses eine Kettenreaktion auslösen, bei der die anderen wie eine Reihe von Dominosteinen, eins nach dem anderen, ebenfalls umfallen würden.
Oona dachte einen Moment lang über die Straße nach, diese uralte Welt zwischen den Welten, mit ihren gewaltigen Glastoren am einen Ende und den riesigen Eisentoren am anderen. Von diesen beiden Zugängen öffnete sich nur das Eisentor, und das nur einmal in jeder Nacht, um Mitternacht, dann schwangen die gewaltigen Türen nach innen auf, an Angeln, so groß wie Häuser, um sich eine Minute lang der ständig wachsenden, aufstrebenden Stadt New York zu öffnen. So lange, wie der Sekundenzeiger für seine Reise um die Uhr brauchte, blieben die Eisentore offen für jeden, der sich entschloss, über die verzauberte Schwelle zu treten. Dies geschah jedoch so gut wie nie. Kaum jemand bemerkte das Tor überhaupt.
In einer Stadt wie New York waren die Leute selbst um Mitternacht zu sehr damit beschäftigt, von einem Platz zum anderen zu gelangen, um irgendetwas Außergewöhnliches zu registrieren. Und wenn doch einmal jemand die Straße plötzlich aus dem Nichts auftauchen sah, tat er oft so, als sei sie nicht da. Manche Leute mochten verwundert hinschauen, doch wenn sie sich noch einmal umdrehten, war die Straße wieder verschwunden, und sie redeten sich ein, dass es eine Sinnestäuschung gewesen sein musste. Nichts weiter. Die Kinder von New York wären sicher eher in der Lage gewesen, die Straße zu sehen als die Erwachsenen, aber um Mitternacht lagen die meisten braven Kinder natürlich sicher in ihren Betten und träumten von noch geheimnisvolleren Orten.
Doch wenn ein Außenseiter sich tatsächlich durch das Tor getraut hätte, wäre ihm der Ort nicht so viel anders erschienen als die Stadt, aus der er gerade gekommen war. Ein Ort voller alltäglicher Leute, die ihr alltägliches Leben lebten – ein Leben mit einfachen Freuden und Betrügereien. Als Erstes würde ihm vielleicht auffallen, dass die Mehrheit der Dark-Street-Bewohner ihre Gespräche in unterschiedlichen britischen Dialekten führten, statt amerikanisch zu sprechen, und dass einige der Einheimischen die Straße als Little London Town bezeichneten. Dann würde ein Besucher bemerken, dass einerlei, welche Jahreszeit in New York herrschte, ob klirrende Kälte oder sengende Sommerhitze, die Temperaturen in der Dark Street luftig und mild waren, und man meist mit einer leichten Jacke oder einem Umschlagtuch auskam. Oder es goss in Strömen, während es in New York vor Trockenheit nur so staubte. Und das waren längst nicht alle Eigentümlichkeiten, denn bei näherer Betrachtung stellten Außenstehende fest, dass hier die Schatten ein wenig dunkler wirkten und man es vermied, auf sie zu treten, damit man nicht hineingezogen wurde. Sie würden eine Welt entdecken, in der das Blau des Himmels tagsüber fast violett schien, und die Sterne nachts so hell leuchteten, dass man bei ihrem Licht lesen konnte. Es war ein Ort, so alt wie der Wind, wo Kerzenbäume als Straßenlaternen dienten, und wo die Straßenuhren nicht nur die Uhrzeit anzeigten, sondern auch Witze erzählten.
Doch noch eindrucksvoller als die Entdeckung neuer verzauberter Dinge war für den einfühlsamen Besucher der unterschwellige Eindruck verloren gegangener Magie – eine Straße, die mehr Magie vergessen hatte als Regentropfen auf die Erde gefallen waren. Es war eine uralte Straße aus einer Zeit vor der Zeit. Vor der Errichtung der eisernen und gläsernen Tore, vor dem Bau des Pendulum Hauses, vor der Ernennung des ersten Zauberers, und sogar noch vor dem Kampf der Magier des Altertums gegen die Armeen der mächtigen Feenkönigin hatte es die Dark Street schon gegeben. In irgendeiner Form war sie immer da gewesen, eine Brücke zwischen der fantastischen und der gewöhnlichen Welt,...