O'Brien Aus Dalkeys Archiven
1. Auflage, neue Ausgabe 2012
ISBN: 978-3-0369-9139-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-0369-9139-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Dem Spott im besonderem Maße ausgesetzt werden beispielsweise Frömmigkeit, intellektuelle Abstraktionen wie J. W. Dunnes und Albert Einsteins Theorien über Zeit und Relativität oder etwa der heilige Augustinus und James Joyce, in deren Stimmen Teile des Romans (und als solcher ist der Text zweifellos zu bezeichnen) erzählt werden. Außerdem lässt O'Brien in diesem Buch unter anderem auftreten: den hochtrabenden Nebendarsteller Sergeant Fottrell, der sich durchaus ernsthaft mit der Verwandlung des Menschen in ein Fahrrad auseinandersetzt, Mick und Hackett, die hartnäckig um die Gunst der jungen Mary buhlen, nicht minder leidenschaftlich dem Alkohol zusprechen und nicht zuletzt den absonderlichen Wissenschaftler De Selby davon abzuhalten versuchen, die Welt durch Zerstörung derselben zu retten. Übersetzt und durchgesehen von Harry Rowohlt.
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2
»Bei unserem verstümmelten Freund scheint es sich um einen hübschen Fall von Segotia zu handeln«, bemerkte Hackett von seinem Ohrensessel aus. De Selby hatte sich entschuldigt, um »die ärztliche Versorgung meines podalen Pollex« in Angriff zu nehmen, und die Besucher blickten neugierig in seinem Wohnzimmer umher. Es war von länglichem Zuschnitt, geräumig, mit niedriger Decke. Eine gefirnißte Täfelung lief in einer Höhe von etwa achtzehn Zoll um alle vier Wände, welche darüber hinaus von einer verblichenen grünen Tapete bedeckt waren. Es gab keine Bilder. Zwei übervolle Bücherregale aus Mahagoni standen in Nischen zu beiden Seiten des Kamins, und auf der unmöblierten Seite des Zimmers stand eine große Druckerpresse. Über den Raum verteilt waren viele Stühle, in der Mitte stand ein kleiner Tisch und an der entferntesten Wand ein klobiger Tisch, auf dem sich allerlei naturwissenschaftliche Instrumente und Werkzeuge befanden, einschließlich eines Mikroskops. Etwas, das wie eine starke Lampe aussah, schwebte über all diesem, und links davon war ein Klavier von der Firma Liehr; auf dem aufgeklappten Deckel lehnten Noten. Es war eindeutig eine Junggesellenwohnung, aber sauber und ordentlich. War er vielleicht Musiker, Mediziner, Theopneumatiker, geodätischer Chemiker … ein Gelehrter?
»Auf jeden Fall hat er es hübsch hier«, sagte Mick Shaughnessy, »und sehr schön abgelegen.«
»Er ist die Sorte Mensch«, erwiderte Hackett, »die in so einem geheimen Hauptquartier so ziemlich alles aushecken könnte. Vielleicht ist er gefährlich.«
Bald erschien De Selby wieder, strahlend, und nahm seinen Platz im Zentrum ein, wobei er mit dem Rücken zum leeren Kamin stand.
»Eine oberflächliche vaskuläre Verletzung«, bemerkte er liebenswürdig, »und nun gereinigt, desinfiziert, eingeschmiert sowie mit einem Verband versehen, der sogar wasserundurchlässig ist.«
»Meinen Sie, Sie wollen weiterhin schwimmen gehen?« fragte Hackett.
»Gewiß.«
»Bravo! Wackerer Mann.«
»Aber nicht doch –: das gehört zu meinem Beruf. Übrigens: Wäre es wohl unhöflich, wenn ich mich nach dem Beruf der beiden Herren erkundigte?«
»Ich bin ein kleiner Beamter«, erwiderte Mick. »Ich verabscheue den Job, seine rohe Atmosphäre und das Gesindel, das mir im Büro Gesellschaft leistet.«
»Ich bin noch schlimmer dran«, sagte Hackett in gespielter Trauer. »Ich arbeite für meinen Vater; er ist Juwelier, hat aber stets ein Auge auf die Schlüssel. Keine Gelegenheit für eine Gehaltsaufbesserung. Ich vermute, man könnte mich ebenfalls als Juwelier bezeichnen, oder vielleicht als Hilfsjuwelier. Oder als Gipskneter.«
»Sehr interessante Arbeit. Ich verstehe nämlich selbst ein wenig davon. Schleifen Sie Steine?«
»Manchmal.«
»Ah ja. Nun, ich bin Theologe und Physiker, beides Wissenschaften, die in viele andere hineinspielen, in die Eschatologie und die Astrognostik zum Beispiel. Der Frieden in diesem Teil der Welt macht echtes Denken möglich. Ich glaube, meine Forschungen sind fast abgeschlossen. Doch ich würde Sie gern einen Augenblick lang unterhalten.«
Er setzte sich ans Klavier, und nach einigen langsamen Phrasen brach etwas aus ihm hervor, das Mick im stillen als eine überstürzte chromatische Amöbenruhr bezeichnete, etwas, das in dem Sinne »brillant« war, als es unfertig und, zumindest für seine Ohren, ohne Zusammenhang war. Ein vernichtender Akkord machte dem Durcheinander ein Ende.
»Nun«, sagte er und erhob sich, »was halten Sie davon?«
Hackett blickte weise.
»Ich glaube, ich habe Liszt in einem seiner weniger beherrschten Augenblicke erkannt«, sagte er.
»Nein«, antwortete De Selby. »Die Basis hiervon war der Kanon zu Beginn von César Francks wohlbekannter Sonate für Violine und Klavier. Der Rest war Improvisation. Von mir.«
»Sie spielen ausgezeichnet«, wagte sich Mick schalkhaft hervor.
»Nur zur Zerstreuung, aber ein Klavier kann ein sehr nützliches Instrument sein. Warten Sie, ich zeige Ihnen etwas.«
Er kehrte zum Instrument zurück, hob das in Scharnieren rastende Oberteil zur Hälfte und entnahm dem Klavier eine Flasche mit gelblicher Flüssigkeit, welche er auf den Tisch stellte. Dann öffnete er eine Tür in den unteren Gefilden eines Bücherregals und holte drei hübsche Stielgläser sowie eine Karaffe hervor, in der sich etwas befand, das wie Wasser aussah.
»Dies ist der beste Whiskey, den man in Irland bekommen kann, fehlerlos hergestellt und vollendet gereift. Ich weiß, Sie werden einen taiscaun nicht ausschlagen.«
»Nichts, was mich froher stimmen würde«, sagte Hackett. »Ich stelle fest, daß die Flasche ohne Etikett ist.«
»Danke«, sagte Mick, der von De Selby ein großzügig eingeschenktes Glas entgegennahm. Er schätzte Whiskey nicht sehr, von anderen berauschenden Getränken ganz zu schweigen, was das betraf. Doch hatten die guten Manieren Vorrang. Hackett folgte seinem Beispiel.
»Dort steht auch das Wasser«, deutete De Selby mit einer Gebärde an. »Man stehle einem Mann nie die Frau und verwässere seinen Whiskey nicht. Kein Etikett auf der Flasche? Sehr wahr. Ich habe den Whiskey selbst gemacht.«
Hackett hatte zur Probe einen Schluck getrunken.
»Ich hoffe, Sie wissen, daß Whiskey nicht in der Flasche reift. Ich muß allerdings sagen, daß dieser gut schmeckt.«
Mick und De Selby nahmen gleichzeitig einen vernünftigen Zug.
»Mein lieber junger Freund«, erwiderte De Selby, »ich weiß alles über Sherryfässer, Temperaturen, unterirdische Aufbewahrungsorte, und was dergleichen Extravaganzen mehr sind. Doch solche Überlegungen stellen sich hier gar nicht. Dieser Whiskey wurde letzte Woche gebrannt.«
Hackett beugte sich auf seinem Sessel vor, alarmiert.
»Wie war das?« rief er. »Eine Woche alt? Dann kann er gar kein Whiskey sein. Guter Gott, wollen Sie, daß unsere Herzen versagen oder unsere Nieren sich auflösen?«
De Selby blickte neckisch drein.
»Wie Sie sehen, Mr Hackett, trinke ich diesen hervorragenden Trank selber. Und ich habe nicht gesagt, er sei eine Woche alt. Ich habe gesagt, daß er letzte Woche hergestellt wurde.«
»Nun, heute ist Sonnabend. Wir brauchen uns nicht um einen oder zwei Tage zu streiten.«
»Mr De Selby«, flocht Mick milde ein, »es steht außer Frage, daß Sie mit dem, was Sie sagten, einen feinen Unterschied herausarbeiten wollten, daß eine gewisse Spitzfindigkeit in Ihren Worten liegt. Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
An dieser Stelle nahm De Selby einen Schluck, den man nur als profund bezeichnen kann, und dann breitete sich über seinem gesamten milden Antlitz ein Ausdruck von apokalyptischer Feierlichkeit aus.
»Meine Herren«, sagte er mit hohler Stimme, »ich habe die Zeit bezwungen. Man nannte die Zeit einen Vorgang, einen Aufbewahrungsort, ein Kontinuum, ein Ingrediens des Universums. Ich kann die Zeit aufheben, ihren offenbaren Lauf negativieren.«
Rückblickend fand Mick es komisch, daß Hackett an dieser Stelle, vielleicht unabsichtlich, auf seine Uhr gesehen hatte. »Bei mir vergeht die Zeit immer noch«, krächzte er.
»Der Lauf der Zeit«, fuhr De Selby fort, »wird in stetem Bezug zur Bewegung der Himmelskörper berechnet. Diese sind als Determinanten für die Natur der Zeit trügerisch. Viele augenscheinlich nüchterne Männer haben die Zeit studiert und sich darüber geäußert – Newton, Spinoza, Bergson, sogar Descartes. Die Postulate von Einsteins Relativitätshumbug sind unwahr, um nicht zu sagen, ausgemachter Schwindel. Er versuchte zu sagen, Zeit und Raum hätten separat keine wirkliche Existenz, sondern könnten nur im Einklang miteinander verstanden werden. Die Beschäftigung mit Astronomie und Geodäsie haben die Menschheit ganz einfach verwirrt. Verstehen Sie?«
Da er Mick ansah, schüttelte dieser entschieden den Kopf, verstand sich aber durchaus dazu, einen weiteren ernsthaften Schluck Whiskey zu nehmen. Hackett runzelte die Stirn. De Selby setzte sich an den Tisch.
»Die Betrachtung der Zeit«, sagte er, »auf intellektuelle, philosophische oder auch nur mathematische Kriteria hin ist Einfalt und ein Zeitvertreib für Liederjane. Bei solchen unschönen Streitereien taucht unweigerlich ein priesterlicher Geck auf, um eine Art Hirnstarrkrampf herbeizuführen, indem er Begriffe wie Unendlichkeit und Ewigkeit ins Spiel bringt.«
Mick fand, es sei schicklich, etwas zu sagen, auch wenn es töricht war.
»Wenn die Zeit illusorisch ist, wie Sie anzudeuten scheinen, Mr De Selby, wie kommt es dann, daß, wenn...




