Buch, Deutsch, Band 63, 359 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 446 g
Reihe: Geschichte und Geschlechter
Die Wahrnehmung sexueller Gewalt in Russland 1880-1910
Buch, Deutsch, Band 63, 359 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 446 g
Reihe: Geschichte und Geschlechter
ISBN: 978-3-593-39957-7
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Europäische Länder
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung. 7
Spurensicherung – Sexuelle Gewalt in der Forschung. 14
Vergangenheit hören. 24
Vergangenheit als fremdes Land?. 32
Vergangenheit schreiben. 36
1. Ein geheimnisvoller Selbstmord:
Der Fall Elizaveta Ceremnova 1882–1887 in Moskau. 44
Sexuelle Gewalt im russischen Recht. 52
Der Weg durch die Instanzen. 59
Theater und Hotel Ermitaz: Keine Orte für anständige Frauen. 66
Selbstmord als Ausdruck des Ichs. 81
Individuum und Recht. 87
2. An einem Sonntag im August: Der Fall Sarra Bekker
und die Bedeutung des Hymens, 1883–1885. 100
Geschichten fur den Boulevard. 108
Wer ist schuld – 'Mironovic oder Semenova'?. 118
Wie viel Sexualität hat ein Kind?. 133
Die Gerichtsmedizin als objektiv(ierend)e Wissenschaft. 139
3. Der geschändete Körper als nationales Politikum:
Der Fall Marija Spiridonova 1906. 166
Die Revolution von 1905 und (sexuelle) Gewalt. 172
Spiridonovas Brief. 181
Eine von uns. 189
Ikonographien sexueller Gewalt. 193
4. Französische Sitten in der russischen Hauptstadt?
Sexuelle Gewalt an Kindern um 1908. 209
Der Umgang mit den Opfern. 214
Kinderprostitution. 224
Selbstmord. 239
Pornographie und die Ligen der freien Liebe. 250
5. Väter der Dekadenz: Die Wahrnehmung der Täter
nach 1907. 259
Djulu: Held oder Simulant?. 262
Was ist das nur für ein Mensch? Psychologien pädophiler Täter. 271
Djulus Erben – eine privilegierte Gesellschaft. 286
Der feine Unterschied – sexueller Missbrauch in den städtischen
Unterschichten. 295
Ganz wie im alten Rom – Dekadenz um 1910. 304
Schluss: Remember the future, imagine the past. 312
Quellen und Literatur. 329
Lasst hundert Blumen blühen…. 357
Einleitung
Das Wort "Frau" war mit glühenden Buchstaben in Pawels Gehirn eingebrannt; er sah es als erstes auf jeder neu aufgeschlagenen Seite; er hörte, wenn sich Leute leise unterhielten, wie sie das Wort "Frau" hinauszuschreien schienen - und es ward für ihn das unbegreiflichste, phantastischste und schrecklichste aller Wörter.
Leonid Andreev, Im Nebel (1902)
Marija Surovceva starb am 07. Oktober 1909, gegen sieben Uhr abends. Aus den Putilov-Werken am südwestlichen Stadtrand Sankt Petersburgs strömten die Arbeiter in die umliegenden Kneipen oder direkt nach Hause. Die Prostituierte Marija Surovceva und der Bauer Denisov hatten sich in einer Wohnung ganz in der Nähe der Werke zum Zechen getroffen. Denisov begann Surovceva zu belästigen, doch sie wollte sich auf seine Annäherungsversuche nicht einlassen. Zunächst konnte sie sich noch wehren, doch schließlich packte er sie, drehte ihr die Arme auf den Rücken und fesselte sie, dann griff er sich den Stiel eines Schrubbers und ungeachtet der verzweifelten Schreie Surovcevas, führte er ihr den Stiel immer wieder in ihre Geschlechtsorgane ein. Nicht das Stöhnen der Armen und auch ihr Flehen halfen nichts.
Surovceva erlag ihren Verletzungen noch am Tatort; Denisov wurde verhaftet. Mehr erfahren wir aus dieser Meldung in der einschlägigen lokalen Boulevardzeitung Gazeta-kopejka vom 08. Oktober 1909 nicht. Wir wissen nicht, wer die Polizei verständigte. War es Denisov selbst? Gab es NachbarInnen, die Surovceva flehen, schreien und stöhnen hörten? Waren es womöglich diese NachbarInnen, die nicht selbst einschritten, sondern die Polizei riefen? Und wer war Denisov? Wir wissen lediglich, dass er "Bauer" gewesen war, ein Standesbegriff im ausgehenden Zarenreich, der nichts über Beruf, Herkunft oder Bildung aussagte. Und wer war Marija Surovceva? Welches Leben hatte sie gelebt? Arbeitete sie wirklich als Prostituierte? Oder legte vielmehr das Verbrechen, dessen Opfer sie geworden war, nahe, dass sie Prostituierte gewesen war? Würde man(n) eine keusche und moralisch integre Frau derart quälen? Wollte Denisov Surovceva bestrafen und wenn ja, wofür? Dafür, dass sie eine Prostituierte war, oder dafür, dass sie eine Frau war? War womöglich "Frau" auch für Denisov das schrecklichste aller Wörter? Wir wissen es nicht. Die Gazeta-kopejka ließ der ersten, relativ kurzen Meldung keine ausführlichere folgen.
Was wir jedoch wissen, ist, dass die russischen Zeitungen am Beginn des 20. Jahrhunderts Sex & Crime-Geschichten im Überfluss zu bieten hatten. Die Zeitungsseiten seien "blutgetränkt", bemerkte der Kolumnist der Gazeta-kopejka Skitalec im Jahre 1913: Selbstmorde, Eifersuchtsdramen, Rowdytum (chuliganstvo), Raubüberfälle, Terrorismus und nicht zuletzt sexuelle Gewalt. Es verging keine Woche, in der die Zeitungen nicht von Vergewaltigungen oder sexuellem Missbrauch an Kindern berichtet hätten. Sexuelle Gewalt schien so sehr zu einem Phänomen des Alltags, so omnipräsent geworden zu sein, dass der liberale Arzt Dmitrij Žbankov im Sommer 1908 anfing, Fälle sexueller Gewalt zu zählen. Von Juni 1908 bis März 1909 kam Žbankov russlandweit auf 369 sexuelle Gewalttaten. Durchschnittlich ein Vorfall sexueller Gewalt pro Tag im riesigen Russländischen Imperium veranlasste Žbankov, von "traumatischen Epidemien" und von "sexuellen Bacchanalien" zu sprechen. Folgt man der Interpretation Žbankovs, hatte seit der Revolution von 1905 eine "Epidemie sexueller Entfesselung" Russland fest im Griff.
Doch nicht nur das Ausmaß sexueller Gewalt erschütterte die ZeitgenossInnen. Auch wer vergewaltigt wurde, sorgte für Empörung. "Frauen werden vergewaltigt, Kinder, siebzigjährige Greisinnen und achtmonatige Babys". Der "Rekord" soll laut der Gazeta-kopejka die Vergewaltigung einer 103-Jährigen durch ihren Enkel gewesen sein. Nicht also nur die neu erreichte Quantität, sondern auch - wenn man so will - die Qualität sexueller Gewalt gab Anlass zur Sorge. Weibliche Personen, egal welchen Alters, waren vor sexueller Gewalt nicht mehr sicher. Ausgerechnet die Städte - allen voran Sankt Petersburg und Moskau -, die Orte also, die für Aufbruch und Fortschritt, Moderne und Zivilisation standen, schienen besonders gefährliche Orte für Frauen und Mädchen zu sein. Egal ob in Parks, Hotels, Restaurants, auf offener Straße, in Kutschen, auf dem Spielplatz, dem Hof oder zu Hause: Sexuelle Gewalt lauerte überall. Während Gewaltverbrechen wie Morde eifersüchtiger Frauen oder aber Selbstmorde durchaus auch schon vor der Jahrhundertwende regelmäßig in den Zeitungen aufgetaucht waren, war sexuelle Gewalt als Medienphänomen in dieser Breite und Häufung ungewöhnlich und neu. Noch 20 Jahre vorher, in den 1890er Jahren, war sexuelle Gewalt den Zeitungen so gut wie nie eine Meldung wert gewesen. Welche Gründe es gewesen sein mögen, die sexuelle Gewalt zu einem Gegenstand des öffentlichen Interesses haben werden lassen, ist Gegenstand dieses Buches.
Mich interessiert die Wahrnehmung sexueller Gewalt. Was überhaupt galt als sexuelle Gewalt? Wer interessierte sich für sexuelle Gewalt und warum? Was interessierte an sexueller Gewalt? Wie erklärte man sich sexuelle Gewalt? Welche Vorstellungen existierten über Opfer und Täter? Welche Entwicklungen in den sich überschlagenden Zeiten des Fin de Siècle beeinflussten die Wahrnehmung sexueller Gewalt? Und welche Auswirkungen hatte dies wiederum auf die Wahrnehmung von Opfer und Täter?
Die Wahrnehmung sexueller Gewalt, so meine These, änderte sich in den Jahren zwischen 1880 und 1910 grundlegend. Das eingangs geschilderte Beispiel Surovcevas und vor allem die Tatsache, dass ihr Fall mehr Fragen eröffnete als Antworten lieferte, mag bereits ein erster Hinweis darauf sein, dass es bei sexueller Gewalt, wie die Medien sie präsentierten, in den seltensten Fällen um die eigentliche Tat ging. Vielmehr standen die Taten für etwas anderes, für den Zeitgeist des Fin de Siècle etwa, für die Verrohung der Sitten, für die drohende Apokalypse oder für die Degeneration der russischen Gesellschaft. Die Omnipräsenz sexueller Gewalt seit 1907 war mitnichten ein Zeichen für die Aufbruchsstimmung des russischen Imperiums, das seit den Großen Reformen der 1860er Jahre sowie dem Industrialisierungs- und Urbanisierungsschub der 1890er Jahre eine beachtliche Entwicklung hinter sich hatte. Russland befand sich spätestens seit 1904 in einer Krise; oder wie es Mark Steinberg unlängst formulierte: Russland erlebte eine Neuauflage der "times of troubles". Dass ausgerechnet sexuelle Gewalt dazu diente, den desolaten Zustand Russlands zu illustrieren, halte ich für keinen Zufall. Dies gilt es in diesem Buch zu erklären.
Die Zeitungen waren seit 1907 voll mit Geschichten über sexuelle Gewalt. Doch gab es deutliche Unterschiede im Hinblick darauf, welche Fälle in den Augen der Publizisten viel und welche Fälle weniger Aufmerksamkeit verdienten. Die meisten Fälle sexueller Gewalt blieben Dreizeiler. Zu diesen Fällen, die weniger Aufmerksamkeit erhielten, gehörte der Fall Surovceva. Eine Frau, die mit einem Schrubberstiel zu Tode vergewaltigt worden war, gab eine Meldung von ein paar Zeilen her. Es waren andere Fälle sexueller Gewalt, die die Zeitungen zum Aufmacher auf Seite eins erklärten. Zumeist waren es auch genau diejenigen Fälle, anlässlich derer sich Menschentrauben vor dem Sankt Petersburger Bezirksgericht auf dem Litejnyj Prospekt bildeten, weil man hoffte, dem Prozess beiwohnen zu dürfen. Diese Gerichtsfälle waren veritable Spektakel und glichen eher Theateraufführungen als Prozessen zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung. Warum also wurden manche Fälle sexueller Gewalt zum Skandal, der die gesamte städtische Gesellschaft zu beschäftigen schien, und andere nicht? Was charakterisierte die Fälle, die mehr Aufmerksamkeit
erhielten als andere? Welche Trends und Entwicklungen konzentrierten sich in diesen Fällen? Es wird sich zeigen, dass vor allem die Fälle sexueller Gewalt Aufmerksamkeit erlangten, bei denen die Antworten nicht leicht zu finden und die Interpretationsmöglichkeiten für das Geschehene groß waren. Je unverständlicher die Tat, desto größer das Interesse an ihr. Aber welche Akte sexueller Gewalt wiederum schienen den ZeitgenossInnen verständlich(er) zu sein als andere? Und welche Akte wurden überhaupt als sexuelle Gewalt verstanden?
Inwiefern und in welche Richtung sich die Wahrnehmung sexueller Gewalt wandelte, ist die Kernfrage dieses Buches. Aber wer waren diejenigen, die wahrnahmen? Auch wenn im Akt sexueller Gewalt Täter und Opfer in der Regel unter sich blieben, von den Wirkungen sexueller Gewalt waren viele Menschen betroffen: Eltern und Verwandte, FreundInnen und Bekannte, Polizisten und Untersuchungsrichter, Gefängniswärter und Gerichtsmediziner, Richter und Geschworene, Psychologen und LehrerInnen, Journalisten und Feministinnen. Sie alle nahmen sexuelle Gewalt wahr - ob als Verführung oder Vergewaltigung, ob als Ausnahme- oder Normalzustand. Gelegentlich hinterließen diese Menschen Zeugnisse. Selten in Tagebüchern und Memoiren, ein wenig öfter in Erzählungen oder Romanen, häufig in Gerichtsakten und regelmäßig in Zeitungen. Von den Tätern und Opfern erfahren wir wenig, über sie umso mehr.
In den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches betraten Kriminologie, Medizin und Psychologie die Bühne der Wissenschaftslandschaft. Als Disziplinierungsregime steckten sie den Rahmen des Sagbaren ab. Ihre Theoreme, ihre Sprache beeinflusste die Wahrnehmung sexueller Gewalt, dann zum Beispiel, wenn Žbankov sexuelle Gewalt als "Epidemie" kennzeichnete und der Boulevard dies übernahm. Epidemien haben ihre eigene biologische Gesetzmäßigkeit, sie sind ansteckend, man ist ihnen ausgeliefert. Doch diejenigen, die der vermeintlich "epidemischen" sexuellen Gewalt in erster Linie ausgeliefert waren, Frauen und Mädchen, die Opfer, bekamen keine Stimme. Nicht in den Wissenschaften, nicht in den Zeitungen und eigentlich auch nicht vor Gericht. Warum waren es die Lebensgeschichten von Marija Surovceva und anderen Opfern nicht wert, erzählt zu werden? Wie wurden die Opfer, wenn überhaupt, porträtiert und wahrgenommen? Inwiefern unterschied sich die Wahrnehmung von erwachsenen Opfern von der von Kindern? Und wer waren eigentlich die Täter? Welche Porträts zeichneten Journalisten, Anwälte, Richter oder Psychiater von Männern, die angeblich Kinder missbraucht hatten? Welche Erklärungen lieferten sie dafür, dass Männer Frauen oder Kinder vergewaltigten? War es Naturnotwendigkeit oder Kavaliersdelikt, Verbrechen oder Todsünde, Krankheit oder Monstrosität?
In vielerlei Hinsicht war Russland Teil der westeuropäischen Moderne. Die Rolle der Wissenschaften und der Zeitungen, die Durchsetzung eines Rechtswesens, die Stadt als neue Heimat vieler immer noch ländlich verwurzelter Menschen; das alles waren keine Phänomene, die es nur in Russland gegeben hätte.¹¹ In mancher Hinsicht jedoch war Russland durchaus "anders" als das westliche Europa. Die Jahre seit der Revolution von 1905 nahmen große Teile der russischen Gesellschaft - ob konservativ oder liberal - als eine derart einschneidende Gewalterfahrung wahr, dass sie für die ZeitgenossInnen mit den Jahren des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkriegs bis 1921 zu einem Kontinuum der Gewalt verschmolzen. Zu diesem Kontinuum der Gewalt gehörte für viele die Erfahrung und Konfrontation mit sexueller Gewalt. Die grassierende Krisen- und Untergangsstimmung in Russland seit 1905 fand in der "Epidemie" sexueller Gewalt einen gültigen Ausdruck.
An der Wahrnehmung sexueller Gewalt zeigen sich russische Besonderheiten und manche der Verknüpfungen, die in Russland im Zusammenhang mit sexueller Gewalt Sinn machten, machten nur dort Sinn. Dennoch, so möchte ich behaupten, hat Vieles von dem, was ich als Wahrnehmung sexueller Gewalt bezeichne, eine größere Reichweite. In jener Zeit, dem Fin de Siècle, wurden in Russland wie im Westen Muster und Parameter ausgebildet, die die Wahrnehmung sexueller Gewalt zum Teil bis heute beeinflussen oder gar dominieren. Die Tatsache etwa, dass sexuelle Gewalt selten für sich alleine steht, sondern zumeist Ausdruck von etwas anderem ist; die Vorstellungen, die über Täter und Opfer kursieren oder die symbolischen Aufladungen, die ein vergewaltigter Frauenkörper erfährt, sind Wahrnehmungsmuster, die weder an den Grenzen des Russländischen Imperiums halt gemacht noch in den letzten 100 Jahren an Gültigkeit verloren haben. Meine Hoffnung ist also, dass dieses Buch nicht nur für RusslandhistorikerInnen nützlich ist, sondern einen allgemeineren Beitrag liefert zur Geschichte sexueller Gewalt in der Moderne.