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Oates | Wache halten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Oates Wache halten

Roman | Ein Geschichte über Trauer und Verlust, Einsamkeit und Realitätsflucht | »Ein Fiebertraum von einem Roman« New York Times
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7530-0110-4
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman | Ein Geschichte über Trauer und Verlust, Einsamkeit und Realitätsflucht | »Ein Fiebertraum von einem Roman« New York Times

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-7530-0110-4
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Michaela und ihr Mann sind in die wunderschöne, aber unheimliche Landschaft New Mexicos gezogen, um dort an einem renommierten akademischen Institut zu arbeiten. Doch dann erkrankt Gerard schwer, und schon bald gleicht ihr Leben einem Albtraum. Mit siebenunddreißig Jahren steht Michaela vor der erschreckenden Aussicht, Witwe zu werden - und vor dem Verlust von Gerard, dessen Identität ihre eigene stark geprägt hat.

»Wache halten« ist eine Erkundung des rohen Wahnsinns von Trauer und eine wahrhaftige Liebesgeschichte, die sich mit den großen Fragen unserer Existenz auseinandersetzt.



Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport, New York, geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. 2019 erhielt sie den Jerusalem Prize. Joyce Carol Oates lebt in Princeton, New Jersey, wo sie Literatur unterrichtet.

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2

Die Wache

Wichtig ist nur eines: Er darf nicht sterben.

Er muss atmen. Er darf nicht aufhören zu atmen.

Sauerstoff rinnt in langsamem, stetigem Strom durch einen durchsichtigen Plastikschlauch in seine Nasenlöcher.

Infusionen fließen in seine Adern, er war stark dehydriert.

Er ist weder völlig bei Bewusstsein noch völlig bewusstlos. Du nimmst an, dass er dich hört, sein Gesicht ist nicht unbewegt, der Ausdruck wechselt ständig, die Augen hinter den geschlossenen Lidern sind aufmerksam, lebhaft.

Du bist so aufmerksam und lebendig wie selten in deinem bisherigen Leben und willst unbedingt, dass dein Mann atmet.

Bittest verzweifelt. In kindlicher Hoffnung, gegen alle Vernunft. Redest auf deinen Mann ein: Atme! Hör nicht auf!

Flehst, wie du dir nie vorgestellt hättest, einmal am Bett eines sehr kranken Mannes zu flehen, klammerst dich an seine Hände, die (wie du in naiver Hoffnung begeistert feststellst, du wirst dich lange daran erinnern) genauso warm sind wie deine eigenen und (wie du glaubst) gerade noch spürbar reagieren – wenn du seine Finger drückst, reagiert er, wenngleich nur schwach, wie jemand, der mit den Gedanken woanders ist.

Verlass mich nicht! Bitte verlass mich nicht! Ich liebe dich so sehr, ich kann ohne dich nicht leben …

Eine Bitte, eine Drohung, ein Versprechen, ein Schwur – kann ohne dich nicht leben.

Klägliche Worte, vergebliche. Worte, so oft gesprochen im Laufe der menschlichen Geschichte und nie anders als vergeblich.

Nichts da! Der Schädelgott der Wüstenhochebene um Santa Tierra lacht höhnisch.

Die Angst vor dem Tod (deines Ehemanns) zermürbt dich, der Stolz hat dich verlassen, wie der Urin deines Ehemanns durch den Katheter in seinem Penisstummel tröpfelt.

Stolz, Würde, gesunder Menschenverstand, sie sind verschwunden. Wohin?

(In einen Plastikbeutel, diskret unter dem Bett befestigt.)

Bittest den sich quälenden Mann: Atme!

Wie es dazu gekommen ist und warum – dein Leben mit dem Leben dieses Mannes verbunden.

Warum er und warum du. In Liebe.

Man fragt sich schon – sind wir im tiefsten Innern, in unseren prägenden Erinnerungen Kinder, vereint in der Angst vor dem totalen Verlust?

Was du am meisten liebst, das verlierst du. Der Preis für deine Liebe ist der Verlust.

Wohin ein grausamer, launischer Gott deinen Mann (und dich) zum Sterben geführt hat.

Ein Fehler, in diese abgelegene Gegend zu kommen. Ein Abenteuer, hatte Gerard gesagt.

Nicht dass Santa Tierra, New Mexico, weniger als eine Autostunde von Albuquerque entfernt, wirklich abgelegen wäre. Ein kleineres und weniger gentrifiziertes Santa Fe.

Wochen und Tage verbringt ihr schon in der für euch neuen Landschaft. Sie vergehen quälend langsam, während die Minuten schnell verrinnen.

Zu schnell! Zu schnell! Ein Grundprinzip der Physik: Die Zeit beschleunigt sich, je näher der Aufschlagpunkt rückt.

Denn dein Ehemann, den du mit einer fieberhaften Verzweiflung liebst, die dich überrascht, atmet nicht mehr normal. Schon seit Wochen fällt ihm das Atmen schwer, und jetzt wurde ihm ein Atemschlauch angelegt, der reinen Sauerstoff in sein Gehirn leitet. Schon seit Wochen strengt das Atmen ihn erkennbar an, eine Strapaze, die sich in seinem Gesicht zeigt und die auch zu deiner geworden ist.

Denn du hilfst ihm zu atmen. Du bist überzeugt, dass du ihm zu atmen hilfst.

Es ist kein regelmäßiges Atmen, kein Atmen wie nach einem Taktmaß, ungezwungen und leicht, sondern ein keuchendes Luftholen, und zwischen den Atemzügen gibt es Pausen, Zäsuren, vergleichbar den Fehltritten in Träumen, wenn man schwankt, stolpert, eine Treppenstufe oder einen Bordstein hinunterfällt und mit einem Ruck aufwacht.

Diese Pausen beim Atmen deines Mannes, schrecklich anzuhören, beängstigend.

Ursprünglich lautete die Diagnose Lungenentzündung. Dann ein Blutgerinnsel am (linken) Lungenflügel. Dann (metastasierter) Krebs am (linken) Lungenflügel, bei einem Scan entdeckt.

Dann: noch mehr. Und jetzt noch mehr.

Ihr hattet beide davon gesprochen, einmal gemeinsam durchzugehen, was seit der Einlieferung ins Krankenhaus alles geschehen ist. Hattet davon gesprochen, es gäbe irgendwann einmal eine Zeit, in der ihr gemeinsam eine Auszeit nehmen und umso besser begreifen könntet, was da geschehen ist und geschieht.

So eine Auszeit hat es aber nicht gegeben.

Und langsam dämmert dir, dass es so eine Auszeit auch nicht geben wird.

Du kannst nur eines tun: nach der Hand deines Mannes greifen. Auf ihn einreden – Atme!

Wo diese kräftigen Finger doch einmal deine hielten, deine (kleinere) Hand mit seiner umschlossen. Genauso wie die Seele deines Mannes, großmütiger als deine, deine (verletzte, geschrumpfte) Seele umschloss und ihr Auftrieb gab.

Jetzt sprichst du Gerard Mut zu. Hoffst verzweifelt, dass du ihm Mut zusprichst. Du siehst allmählich ein, dass du keine wichtigere Aufgabe im Leben hast, als Gerard Mut zuzusprechen.

Drängst blind vorwärts in den rapide kleiner werdenden Raum eurer (gemeinsamen) Zukunft, als verkleinerte er sich nicht rapide, sondern wäre unbegrenzt.

Wie können wir das begreifen, ein sich unendlich ausdehnendes Universum?, hatte Gerard sich gefragt.

Im Grunde gar nicht.

Aus der Perspektive der Endlichkeit können wir die Unendlichkeit nicht begreifen.

Aus der Perspektive unseres (kleinen) Lebens können wir die Größe unseres Todes nicht begreifen.

Du spürst ihn schon, den Verlust, den Schmerz, der dir bevorsteht. Dass du diesen Mann verlieren wirst, den zu kennen du dich im Leben am meisten (und vergeblich) bemüht hast.

Elf Jahre älter als du. Ja, er ist väterlich gewesen, ein Beschützer. Jetzt aber musst du ihn beschützen.

In einer wilden Fantasie bittest du den Onkologen mit der starren Miene: Nehmen Sie Knochenmark von mir, wenn das möglich ist, und übertragen es ihm – retten Sie ihn!

Abstrus, jämmerlich. Du würdest nicht so ein verrücktes Zeug daherreden, wärest du bei Verstand.

Du spürst die Strapaze für das Herz deines Mannes. Sein starkes, beständiges, hoffnungsvolles Herz. Seinen Lebenswillen, den Willen, weiter da zu sein. Du musst ihn festhalten. Für die Dauer seines Lebens und darüber hinaus.

Verlegung ins Hospiz. Eine Wendung, mit der die Straße zu einer Sackgasse wird, auf die keiner von euch beiden gefasst war.

Ungläubig: Das kann doch nicht sein!

Und doch: Geschieht das? So bald?

Beschleunigte Näherung an den Aufschlagpunkt. Keine Zeit zu planen, was ihr hättet planen können – einen bedachteren Tod, einen gemeinsamen Tod. Denn du warst nicht vorbereitet. Warst wie gelähmt, dein Gehirn reagiert langsam. Du hinkst hinterher, taumelst. Wurdest hinausgeschoben auf die Bühne. Blinzelst, geblendet von grellem Licht. Du hast kein Drehbuch, keinen Text. Siehst kein Publikum. Du kannst nur um Änderungen im Drehbuch bitten. Um Gnade.

Ich bin hier, ich hab deine Hand, ich liebe dich – bitte gib nicht auf …

Hörst dich selbst stammeln und flehen. Mit leiser, versagender Stimme. Mit einer Stimme, zitternd vor Angst und zugleich Hoffnung: Du beteuerst deinem Mann, dass er geliebt wird, ja, er wird sehr wohl geliebt. Und weil er geliebt wird, ist er in Sicherheit, wird umsorgt, wird nicht leiden müssen. Wird keine Schmerzen mehr haben, wird vor Schmerzen bewahrt, die schlimmsten Schmerzen hat er hinter sich. Man hat ihn sediert, er treibt auf einem warmen, schimmernden Meer aus Dilaudid-Träumen, in sehr hoher Dosis, die täglich erhöht wird, und ist daher vor weiteren Beeinträchtigungen genauso geschützt wie vor grausamen Hoffnungen, denen du dich aus Unwissenheit, Naivität törichterweise hingegeben hast. Doch die Hoffnung ist nun verflogen, die Sicht ist frei.

Wie ein Zug, der an einer Bahnstation weit draußen auf dem Land abgefahren und hinter dem Horizont schon nicht mehr zu sehen ist – die Hoffnung ist verschwunden.

Und du sitzt nicht in dem Zug. Der Zug Hoffnung ist für dich abgefahren.

Während der Rest eures gemeinsamen Lebens rapide zu Ende geht.

Das könnten meine letzten Tage sein, sagte Gerard vor elf Tagen am Telefon, als er dich kurz nach Dr. N__s Morgenvisite um sieben Uhr anrief.

Unerwartete Worte, von deinem Mann in aller Ruhe ausgesprochen, einer Stimme aus dem Nichts, einer Stimme aus dem Nebel, vernichtende Worte, die du durch das Gesumm in deinen Ohren zuerst gar nicht gehört hast.

Innerlich aufgeschrien: Nein. Nein. Nein. Nein!

Es fehlte nicht viel, und das Handy wäre dir aus den eiskalten Fingern geglitten und auf der Arbeitsplatte gelandet.

(Ruft Gerard dich gerade zum letzten Mal auf dem Handy an? Du willst das nicht glauben: ja, vermutlich.)

Als du im...



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