E-Book, Deutsch, 485 Seiten
Nylander Mittsommermörder
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98690-717-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Schweden-Krimi
E-Book, Deutsch, 485 Seiten
ISBN: 978-3-98690-717-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Anders Nylander ist das Pseudonym eines deutschen Bestsellerautors, der in Nordfriesland lebt. Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seinen Schweden-Krimi »Mittsommermörder«.
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Kapitel 2
Die Bäume des Kronobergsparken zeigten die erste herbstliche Laubfärbung. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich der Sommer verabschiedete. In zwei Monaten würden die Kinder, die jetzt in Begleitung ihrer Mütter auf dem Spielplatz tobten, johlend mit ihren Schlitten vom Hügel der idyllischen Grünfläche im Herzen Stockholms nahe dem alten jüdischen Friedhof hinabsausen, auf dem die letzte Beisetzung vor über einhundertfünfzig Jahren stattgefunden hatte.
Jonas Nyström stand am Fenster und verfolgte mit den Augen einen Jogger, der in den Park einbog und diesen in wenigen Minuten durchmaß. Zweihundertfünfzig Meter waren keine Distanz, die zu sportlichen Höchstleistungen herausforderte. Und auch der Hügel hier in einem der Stockholmer Bergparks stellte kein unüberwindbares Hindernis dar, selbst wenn er mit vierzig Metern die höchste Erhebung dieses direkt neben Stockholms City gelegenen Stadtteils Kungsholm war, der, dichtbesiedelt, seinen Bewohnern urbane Lebensqualität bot.
Der Jogger hatte den Park durchquert und war in einer der Seitenstraßen mit den hohen Häusern verschwunden, deren sehenswerte Architektur Jonas Nyström immer wieder bei seinen kurzen Spaziergängen in der Mittagspause begeisterte.
»Guten Morgen, Nyström«, wurde er von einer Stimme in seinem Rücken aus seinen Betrachtungen gerissen.
»Hej«, antwortete Jonas, drehte sich um und nickte seinem Vorgesetzten zu. Polisintendent Henning Tällberg trug ein Netbook unter dem Arm und nahm am Kopfende des Tisches Platz. Die graue Hose, das am Kragen offene Hemd und das dunkelblaue Sakko passten gut zur drahtigen Erscheinung des Mittfünfzigers. Der kurze Bürstenhaarschnitt mit den nicht mehr zu leugnenden Geheimratsecken war graumeliert, ebenso wie der sorgfältig gestutzte Vollbart.
»Was veranlasst uns zu einer außerplanmäßigen Dienstbesprechung?«, wollte Jonas wissen.
»Warten wir noch, bis die anderen da sind«, wich der Abteilungsleiter aus, dessen Rang dem eines englischen Chief Superintendent entsprach und mit einem deutschen Kriminalrat vergleichbar war.
Die nächsten zwei Mitarbeiter betraten den Raum, murmelten einen Gruß und nahmen schweigend Platz. Jonas tat es ihnen gleich, griff nach der Thermoskanne, die in der Mitte des Tisches stand, und schenkte den Kollegen ein.
»Sie auch?«, fragte er Tällberg.
Der Polisintendent schüttelte den Kopf und sah dabei auf die Uhr. Tällberg wirkte nervös, eine Verhaltensweise, die Jonas selten bei ihm beobachtet hatte. Auch den beiden Kollegen schien es aufgefallen zu sein. Der Chef galt als ausgeglichene und besonnene Persönlichkeit. Sie respektierten ihn, nicht nur aufgrund seiner Erfahrung, sondern auch wegen seiner sozialen Kompetenz und Menschenkenntnis.
»Morgen«, sagte Tällberg jetzt. Dr. Henrik Forsberg war eingetroffen.
»Entschuldigung«, gab der weißhaarige Rechtsmediziner kurzatmig zurück. »Wer immer meint, in Schweden sei Autofahren ein pures Vergnügen, hat noch nie die Rushhour in Stockholm erlebt.« Er schloss die Tür hinter sich und wählte den Stuhl neben Tällberg. »Sind wir vollständig?«
Tällberg schüttelte den Kopf. »Wir erwarten noch Dr. Wallberg aus Linköping vom NFC.«
Vom Swedish National Forensic Centre, dem staatlichen kriminaltechnischen Laboratorium, wunderte sich Jonas. Was mochte vorgefallen sein? Auf den langen Fluren des Hauptquartiers der Rikspolisen kursierten noch keine Gerüchte oder Parolen. Wenn sich irgendwo etwas Ungewöhnliches ereignet haben sollte, war die Reichspolizei stets als Erste informiert.
Tällberg hatte sein Netbook aufgebaut und prüfte die drahtlose Verbindung zum Polizeinetz. Testweise warf er ein Bild auf den großen Schirm an der Stirnwand. Er nickte kaum wahrnehmbar, als dort das Staatswappen mit den drei Kronen erschien.
»Gut.« Er räusperte sich. »Fangen wir an.« Tällberg ließ seinen Blick zu jedem Einzelnen der Anwesenden wandern. »Haben Sie schon gehört, was passiert ist?«
Dr. Forsberg senkte den Kopf, während Jonas und die beiden Kollegen ratlos ihren Vorgesetzten ansahen.
»Ich habe lange überlegt, wie ich beginnen kann«, setzte Tällberg an, »fürchte aber, mir fehlen die rechten Worte.« Der Satz war ihm nur stockend über die Lippen gekommen. »Sie alle sind Profis, darum mache ich es kurz. Johan Wax ist tot. Ermordet.«
Stille herrschte im Raum. Nach Sekunden, die sich zu einer Ewigkeit zu dehnen schienen, hörte man Inspektor Markvist, der Jonas gegenübersaß, mit belegter Stimme fragen: »Johan Wax? Unser Johan?«
Tällberg bestätigte es durch ein Nicken.
»Das kann nicht sein«, warf Gripsholm ein, den alle in der Reichspolizei aufgrund seines Namens »Schlossherr« nannten. Unter anderen Umständen hätte der scharfsinnige Analytiker Tällberg angemerkt, dass dieses »Das kann nicht sein« rhetorischer Unfug sei. Wenn jemand vortrug, dass es ein Mordopfer gegeben habe, sei eine solche Bemerkung fehl am Platze. Heute unterdrückte der Polisintendent die Zurechtweisung. Jonas lag auf der Zunge, einzuwenden, dass er erst vor kurzem mit Johan Wax zusammen in der Polizeikantine zu Mittag gegessen habe. Es war keine persönliche Freundschaft, die sie verband, aber über die gemeinsamen Jahre war eine geachtete Kollegialität erwachsen, in der sich beide respektierten. Wax war ein paar Jahre jünger als Jonas gewesen, verheiratet und Vater einer kleinen Tochter.
»Wie ist das geschehen?«, fragte er in Richtung Tällberg. Der Abteilungsleiter knetete nervös seine Finger.
»Ich hätte Ihnen das Folgende gern erspart«, fuhr Tällberg fort. »Es geht aber nicht. Wir sind es Inspektor Wax schuldig.« Erst im zweiten Versuch gelang es ihm, ein Bild von seinem Netbook auf den Bildschirm an der Wand zu projizieren. Es zeigte eine mit Glassplittern und Abfällen übersäte Fläche. Im Hintergrund war eine Freilichtbühne erkennbar.
»Das ist ... Östersund. Badhusparken«, warf Jonas ein und zog die Blicke von Markvist und Gripsholm auf sich.
»Woher kennst du ...?«, fragte Markvist. Jonas blieb Markvist die Antwort schuldig.
»Dort fand am vergangenen Freitag ein Rockkonzert mit der Band Bad Revolution statt. Ich darf unterstellen, dass jeder schon einmal von denen gehört hat.«
»Nur oberflächlich«, wandte Jonas ein. »Ich muss gestehen, dass mir diese Art von Musik nicht liegt.«
»Mir auch nicht«, pflichtete ihm Dr. Forsberg bei.
»Scheint am Alter zu liegen«, stichelte Gripsholm.
»Wie auch immer. Diese Rockband ist im ganzen Land für harte und kompromisslose Musik bekannt. Ihre Anhänger entstammen überwiegend der rechten Szene und treten für ein ›Schweden den Schweden‹ ein. Die Auftritte der Band werden häufig von Gewaltexzessen begleitet. Alkohol- und Drogenmissbrauch gehören zum Programm.«
»Warum untersagt man in solchen Fällen nicht die Auftritte?«, wollte Jonas wissen. »Der Veranstaltungsort ist öffentliches Areal. Da kann man die Genehmigung verweigern.«
Tällberg nickte in sich gekehrt. »Ein schwieriges Thema. Sie wissen, dass Jämtlands Län eine sehr dünnbesiedelte Provinz ist. Auf einer Fläche, die etwa zwölf Prozent der Gesamtfläche Schwedens entspricht, leben nur einhundertzwanzigtausend Menschen. Das sind zwei Einwohner je Quadratkilometer. Alles ist weitläufig. Natürlich war die Stadtverwaltung Östersunds gewarnt, als das Konzert in ihrer Stadt geplant wurde. Man wollte es nicht. Die Einwilligung wurde erst erteilt, als die Jugend der Provinz massiv protestierte und drohte, das öffentliche Leben der Stadt lahmzulegen. Bad Revolution ist derzeit total angesagt. Die jungen Leute kennen die Band, ohne in der Mehrzahl der Fälle deren politischen Hintergrund zu verstehen. Es geht um die Musik, um das Ereignis, um das Gemeinschaftsgefühl, das eine solche Veranstaltung hervorruft. Man kann nicht aus Vorsicht der Jugend alles verbieten. Auch wenn uns Älteren manchmal die Einsicht fehlt, müssen wir das akzeptieren.«
»Und uns dem Druck der Straße beugen«, warf Markvist ein. Seine Stimme troff vor Zynismus.
»Leider.« Tällberg zuckte hilflos die Schultern. »Die Band, für die, die es nicht wissen, wird von uns beobachtet, genau genommen von der Säpo.«
»Die Sicherheitspolizei? Gibt es einen terroristischen Hintergrund?« Jonas sah fragend in die Runde.
»Das Bild ist diffus«, räumte Tällberg ein. »In den Texten der Rockband wird mehr oder weniger unverhohlen zum Kampf gegen Ausländer aufgerufen. Ausländer in deren Sinne sind Menschen mit anderer Hautfarbe.«
»Also Rassenhetze«, stellte Jonas fest.
»So ist es«, bestätigte Tällberg.
»Und deshalb war Johan Wax der Band auf der Spur?« Jonas schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Das war nicht Wax’ Bereich.«
»Bad Revolution ist in der Vergangenheit nicht nur wegen fragwürdiger bis krimineller Aufforderung zur Jagd auf Andersfarbige aufgefallen, sondern im Umfeld der Band und bei deren Auftritten sind wir, wie ich bereits erwähnte, auf massiven Drogenkonsum bis hin zu exzessivem Missbrauch gestoßen. Wax war in Östersund, um die Szene vor Ort zu erkunden und das Umfeld des Rockkonzerts in Augenschein zu nehmen. Wir beobachten die Musiker und deren Management schon eine Weile.«
»Man könnte mit einem entsprechend umfangreichen Polizeiaufgebot eine Razzia durchführen«, sagte Gripsholm.
»Kaum«, erklärte Tällberg. »Die örtlichen Polizeikräfte sind dazu zu schwach. Es hätte einen Aufruhr gegeben, dem man nicht gewachsen gewesen wäre. Die aufpeitschende Musik, Unmengen von Alkohol, und die Masse, die sich bei solchen Gelegenheiten selbständig macht und unkontrollierbar wird, hinderten uns...