E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 173 mm x 244 mm
Nouwen / Whitney-Brown Loslassen und fliegen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-86256-791-1
Verlag: Neufeld Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Henri Nouwens ungewöhnliche Freundschaft mit Zirkus-Artisten
E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 173 mm x 244 mm
ISBN: 978-3-86256-791-1
Verlag: Neufeld Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im unvollendeten, letzten Buchmanuskript von Henri Nouwen geht es um seine inspirierende Begegnung mit den Flying Rodleighs, die er in Freiburg im Zirkus Barum erstmals erlebte.
Die Trapez-Artisten um Rodleigh Stevens – renommierter Zirkuskünstler in fünfter Generation – traten im Schweizer Circus Nock sowie im Österreichischen Nationalcircus Elfi Althoff-Jacobi auf, bevor sie einige Jahre mit dem Zirkus Barum unterwegs waren.
Über die Jahre entwickelte sich eine ungewöhnliche Freundschaft. Henri Nouwen begleitete die fünf im Wohnmobil auf ihren Auftritten durch Deutschland. Und arbeitete an einem Buch …
Henri Nouwens Freundin und Kollegin Carolyn Whitney-Brown präsentiert nun erstmals seine unveröffentlichten Trapezschriften, eingerahmt von der wahren Geschichte, wie Nouwen während eines Herzinfarkts von Rettungssanitätern und der Feuerwehr durch ein Hotelfenster geborgen wurde.
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KAPITEL 2
Dennie knöpft Henris Hemd auf und schiebt sein Unterhemd hoch, um sein Herz abzuhorchen. In dem Zimmer ist es nicht besonders kalt, aber für Henri ist es ungewohnt, seine Brust zu entblößen, erst recht vor anderen Menschen. Er zittert. * * * EINIGE MONATE NACH SEINER BEGEGNUNG mit den Flying Rodleighs las Henri den abgetippten Text seiner diktierten Worte über die Trapeztruppe noch einmal durch und lächelte bei der Erinnerung an diese Tage, über denen ein ungewöhnlicher Zauber lag. Mit den Fingern strich er durch seine dünner werdenden Haare und dachte über den Text nach, der noch nicht so richtig erfasste, was er sagen wollte. Oder besser, das war nicht so, wie er es gern ausgedrückt hätte. Sein Ziel war nicht, seine eigene Begeisterung zu beschreiben, vielmehr sollte der Leser dasselbe empfinden wie er. Frustriert seufzte er auf. Er wollte eine Geschichte erzählen von seiner Schwärmerei für die Flying Rodleighs und von seiner Zuneigung zu dieser Truppe. Zwar war er ein erfolgreicher Schriftsteller, doch bisher hatte er es nie mit einer Geschichte versucht. Immer neugierig, immer bereit, zu lernen, kaufte er zwei Bücher übers Schreiben. Einige Passagen in Theodore Cheneys Buch Writing Creative Nonfiction schienen genau das zu beschreiben, was er gern umsetzen würde. Verwende konkrete Details, vermerkte er am Rand. „Entwickeln Sie die Geschichte nacheinander, eine Szene nach der anderen“, unterstrich er. Er versuchte es erneut, entwarf eine genau durchdachte Szene in Europa, in der er selbst Verfasser geistlicher Schriften war und an einem Buch über Liebe und innere Freiheit schrieb. Der Besuch in der süddeutschen Stadt Freiburg ist immer ein großes Vergnügen für mich. Die friedlichsten und angenehmsten Erinnerungen der letzten Jahrzehnte sind mit dieser Stadt verbunden, die so wunderschön zwischen dem Rhein und den Ausläufern des Schwarzwalds gelegen ist. Im April 1991 war ich wieder für einen Monat dort zu Besuch, um zu schreiben. Die Arche-Gemeinschaft Daybreak in Toronto, bei der ich seit 1986 ein Heim gefunden habe, gibt mir die Freiheit, mindestens zwei Monate im Jahr Abstand zu gewinnen von dem sehr intensiven und hektischen Zusammenleben mit geistig behinderten Menschen und mich frei von Schuldgefühlen „zu verwöhnen“, indem ich Gedanken, Ideen und Geschichten sammele, um neue Visionen zu Papier zu bringen darüber, wie Gottes Geist seine heilende Gegenwart unter uns offenbar werden lässt. Ich liebe Daybreak: Die Menschen, die Arbeit, die Feste, aber mir wird auch zunehmend bewusst, dass diese Menschen meine Zeit und Energie so vollständig in Anspruch nehmen, dass es praktisch unmöglich ist, die Frage aufkommen zu lassen: „Worum geht es hier überhaupt?“. Ich verbrachte den größten Teil meines Tages im Gästezimmer im zweiten Stock eines kleinen Hauses der Franziskaner und schrieb über „das Leben der Geliebten“. In den vergangenen Jahren haben die Bewohner von Daybreak mir geholfen, die einfache, aber tiefe Wahrheit wiederzuentdecken, dass alle Menschen, behindert oder nicht, die geliebten Töchter und Söhne Gottes sind, und dass sie wahre innere Freiheit finden können, wenn sie diese Wahrheit für sich in Anspruch nehmen. Diese geistliche Erkenntnis berührte mich so tief, dass ich einen ganzen Monat lang darüber nachdenken und schreiben wollte in der Hoffnung, dass ich in der Lage sein würde, mir selbst und anderen zu helfen, die tiefsitzende Gefahr der Selbstzurückweisung zu überwinden. „Verfasser von Sachbüchern begrenzen sich darauf, uns zu zeigen, wie sie die Dinge in der Welt sehen, und sie überlassen es dem Leser, zu interpretieren, was das alles bedeutet.“ Henri unterstrich diesen Satz, und dieses Mal erzählte er die Geschichte ohne Interpretation. Diese Zeit in Freiburg sollte jedoch einzigartig werden. Sie bescherte mir ein unvorstellbares Geschenk, das für mich vollkommen überraschend kam: das Geschenk eines ganz neuen Bildes davon, dass die Menschheit geliebt ist – ein Bild, das mich über viele Jahre hinweg beschäftigen würde. Es war so unerwartet, so erfrischend und so aufschlussreich, dass es mich auf eine ganz neue Reise führte, auf eine Reise, die ich mir so nie hätte vorstellen können, nicht einmal in meinen kühnsten Träumen. Ich will Ihnen erzählen, wie es dazu kam. Alles begann mit meinem Vater, der in den Niederlanden lebt und mich gern in Freiburg besuchen wollte. Während der einen Woche seines Besuchs ließ ich meine schriftstellerische Arbeit ruhen; wir verbrachten unsere Zeit damit, „bestimmte Orte zu besuchen“. Wegen der Herzschwäche meines Vaters konnten wir zwar keine langen Spaziergänge unternehmen, und da die Besichtigung von Museen und Kirchen zu anstrengend für ihn gewesen wäre, suchte ich als Unterhaltung für uns Konzerte und Filme heraus. Ich durchforstete die Zeitung und erkundigte mich nach interessanten Veranstaltungen. Jemand meinte scherzend: „Nun, der Zirkus ist in der Stadt!“ Der Zirkus, der Zirkus! Schon lange hatte ich keinen Zirkus mehr besucht – seit meinem Besuch im Ringling-Barnum and Bailey Circus in New Haven in Connecticut war mir das nicht einmal mehr in den Sinn gekommen. Ich fragte also meinen Vater: „Hättest du Lust, mit mir in den Zirkus zu gehen?“ Ich spürte ein kleines Zögern, doch dann antwortete er: „Ich würde gern mitkommen. Lass uns hingehen.“ Und so besuchten Franz Johna, seine Frau Reny, ihr Sohn Robert, mein Vater und ich den Zirkus. Es war der Zirkus Simoneit-Barum, der gerade erst in die Stadt gekommen war. Was mich erwartete, wusste ich nicht. Ich wollte nur, dass mein Vater seinen Spaß hatte und wir alle einen guten Abend verleben würden: Fröhliches Lachen, große Überraschungen, angenehme Gespräche und anschließend ein gutes Essen. Auf keinen Fall war ich auf eine Erfahrung vorbereitet, die großen Einfluss haben würde auf mein künftiges Denken, Lesen und Schreiben. Das Programm war wie zu erwarten: Pferde, Tiger, Löwen, Zebras, Elefanten und sogar eine Giraffe und ein Rhinozeros – eine angenehme Unterhaltung, aber wenn da nicht die „Flying Rodleighs“ gewesen wären, hätte ich den Abend bereits nach kurzer Zeit vergessen und wäre zu meinem Buch „The Life of the Beloved“ zurückgekehrt, ohne einen weiteren Gedanken an den Zirkus zu verschwenden. Als letzte Darbietung vor der Pause betraten fünf Trapezartisten, zwei Frauen und drei Männer, in majestätischer Haltung die Manege. Nachdem sie sich zur Begrüßung einmal um die eigene Achse gedreht hatten und ihre weiten, silbernen Umhänge um sich herumwirbeln ließen, nahmen sie die Umhänge ab, reichten sie ihren Assistenten, schwangen sich in das große Netz und begannen mit dem Aufstieg über die Strickleitern zu ihren Podesten ganz oben im Zelt. Von dem Augenblick ihres Erscheinens an verfolgte ich wie gebannt jede ihrer Bewegungen. Die selbstbewusste und fröhliche Art, in der sie die Manege betraten, lächelnd das Publikum begrüßten und dann zum Trapezaufbau hochkletterten, sagte mir, dass ich etwas zu sehen bekommen würde, nein, besser, etwas erleben würde, das diesen Abend zu einem ganz besonderen Erlebnis machen würde. „Eine Szene bildet die Bewegung des Lebens ab; Leben ist Bewegung, Aktion.“ Das gefiel ihm. Mit dem, was er über das Trapez schrieb, wollte er Bewegung und Aktion vermitteln. Seine früheren Bücher enthielten eine Botschaft, die er weitergeben wollte, doch dieses Buch war anders. Die Bedeutung seines Erlebnisses konnte er nicht genau benennen. Aber es war so mächtig und körperlich, dass er es mitteilen wollte. Die folgenden zehn Minuten schenkten mir einen Einblick in eine Welt, die mir bisher verschlossen gewesen war, in eine Welt der Disziplin und Freiheit, der Unterschiedlichkeit und Harmonie, des Risikos und der Sicherheit, der Individualität und Gemeinschaft, und vor allem des Fliegens und Fangens. Ja, das ist es, dachte Henri, als er im Schreiben inne hielt. Fliegen und Fangen. Das ist es, was ich mir immer gewünscht habe. Ich weiß immer noch nicht genau, was an jenem Abend geschehen ist. War es die Anwesenheit meines achtundachtzigjährigen Vaters, die mich in einer Trapezdarbietung, die für viele einfach nur eine von vielen unterhaltsamen Darbietungen in einem zweistündigen Zirkusprogramm ist, einen Hauch der Ewigkeit erkennen ließ? (Bestimmt hatte er etwas damit zu tun, da in seinem Besuch die wundervolle Eigenschaft der gegenseitigen Freiheit und gegenseitigen Bindung zum Ausdruck kam, die entstehen kann, wenn Vater und Sohn älter geworden sind.) Oder lag es daran, dass ich mich so stark darauf konzentrierte, mein eigenes Geliebtsein als ein ewiges Geschenk und die Aufforderung zu verstehen, dieses Geliebtsein auch anderen...