E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Norbury Die Fischtreppe
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95757-487-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Reise flussaufwärts
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-95757-487-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Neugeborenes war Katharine Norbury in einem Liverpooler Kloster zurückgelassen worden. Ihre Adoptiveltern zogen sie liebevoll auf, lehrten sie, die Wunder der Natur zu erkennen, und doch hatte sie stets das Gefühl, etwas Unnennbares zu vermissen. Nach der Diagnose einer schweren Krankheit und der Fehlgeburt eines lang ersehnten zweiten Kindes beschließt sie, zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter Evie einem Flusslauf von der Meermündung bis zu dessen Quelle zu folgen. Was als Trauerarbeit und Ablenkung gedacht war, gerät im Laufe der Reise durch eine beeindruckende Natur mehr und mehr zu einer Suche nach dem Leben selbst. Am Ende findet Katharine nicht nur die Quelle des Flusses, sondern auch ihren eigenen Ursprung.
Katharine Norbury, in Liverpool geboren, arbeitete lange als Produktionsassistentin fürs Fernsehen, bevor sie sich im Zuge einer schweren Krankheit eigenen Schreibprojekten zuwandte. Dabei entstand ihr 2015 veröffentlichter Debütroman The Fish Ladder, für den sie gleich mehrere Auszeichnungen und Nominierungen in Großbritannien erhielt. Sigrid Ruschmeier arbeitet seit fast dreißig Jahren als literarische Übersetzerin in Berlin. Sie hat unter anderem Werke von Elizabeth Bowen, Sybille Bedford, Grace Paley, Salman Rushdie, Fay Weldon sowie Bill Bryson, Sebastian Haffner, Marianne Faithfull, Rudolf Vrba ins Deutsche verbracht.
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Humber
Auf der Landkarte sieht der Spurn Point, ein wenig rechts von Hull, wie eine auseinandergebogene Haarnadel aus. Er ragt in die Nordsee und biegt dann wieder landeinwärts. Die Landzunge trennt die breite Mündung des Humber von der mächtigen Nordsee. An ihrer Spitze stehen zwei mittlerweile funktionslose Leuchttürme, weil die Landzunge alle zweihundertfünfzig Jahre bricht und sich wieder neu bildet. Hinter einem Leuchtturm ist eine Seenotrettungsstation, aber auch sie wird mit Sicherheit bald aufgegeben. Denn die momentane Inkarnation des Spurn geht angeblich ihrem Ende entgegen. Die über ihn verlaufende Straße aus flachen, quadratischen Platten, unter der sich die Landzunge geschmeidig wie eine Katze bewegt, muss ständig ausgebessert und dort neu angelegt werden, wo der Rücken des Landes zur Ruhe gekommen ist. Ich hatte Evie gerade ihren Gutenachtkuss gegeben. »Wo willst du hin?«, fragte sie. »Zum Spurn Point.« »Wo ist der?« »Auf der anderen Seite von England. Mehr oder weniger in einer geraden Linie von hier aus. Ich bin morgen Nachmittag zurück«, sagte ich. Evie bettete ihren Kuschelhund Jerome neben das Kopfkissen. »Ich dachte, wir fahren morgen zum Cottage.« »Das können wir doch auch übermorgen machen. Schafft ihr das so lange allein, du und Grannie?« »Ja!«, sagte sie. »Wir wollen backen.« Sie warf mir einen langen einschmeichelnden Seitenblick zu. »Sing ›Long and Winding‹.« Ich nahm ihre Hand und fing an, »The Long and Winding Road« von den Beatles zu singen. Bald schlief Evie tief und fest. Ich schob ihr eine Locke hinters Ohr, beugte mich über sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und legte meinen Kopf neben ihr Gesicht. Eine Weile lang lauschte ich ihrem Atmen. Ich hatte immer schon zu dem Leuchtturm laufen wollen, und meine Mutter redete mir nun gut zu. Außer in den paar Stunden, die Evie in der Schule verbrachte, war ich das ganze letzte Jahr nicht allein gewesen, aber meine Mutter und ihre Enkeltochter sahen sich nur in den Schulferien. Da der Spurn Point den äußersten Rand einer Flussmündung bildet, passte er sogar zu unserem Ferienthema, wenn auch der Humber kein Fluss ist, dem man vom Meer zur Quelle folgen kann. Sein Name bezieht sich nämlich nur auf die Mündung. Vor langer Zeit, als das Eis zu schmelzen begann, war dort ein Süßwasserfluss entstanden. Doch er wurde von der ansteigenden Nordsee verdrängt, und heute bezeichnet der Name den Abschnitt ab dem Zusammenfluss der Flüsse Ouse und Trent; später kommen noch der Ancholme und der Hull hinzu. Um Mitternacht war ich immer noch unschlüssig. Ich saß am Fußende des Bettes meiner Mutter, und wir tranken Tee. »Wenn du jetzt losfährst«, sagte sie, »bist du rechtzeitig zum Sonnenaufgang da.« Ihre Augen waren vergissmeinnichtblassblau, und ihre knochigen Hände lagen zart, aber biegsam wie Federn in meinen. Sie war einundachtzig. Eine wunderbare Frau und passionierte Wanderin; sie hätte keine Sekunde lang gezögert. Ich küsste sie auf die weiche Wange, lachte und ging in die Sommernacht hinaus, die wegen des Scheins der Straßenlaternen schwarz erschien. Eine Karte brauchte ich nicht. Ich ließ den Motor an und fuhr nach Osten, an Manchester vorbei, in den Morgen. Die Pennines zu überqueren war aufregend – die M62 ist die höchstgelegene Autobahn Englands –, die Fahrt ging überraschend schnell. Dann verlief die Straße entlang des nördlichen Humberufers. In Hull reihten sich Meile um Meile die Hafenanlagen aneinander. Jetzt hätte ich doch gern eine Karte gehabt. Aber ich kannte ja mein Ziel: die Landzunge, die das Meer vom Fluss trennt. Wenn ich dem Fluss folgte, würde ich dort ankommen. Und trotzdem … Ich hatte nicht angenommen, dass der Spurn Point so weit hinter der Stadt lag. Gegen Osten erstreckte sich weit das flache Land, zeichnete sich ab vor der unvollkommenen, mäßigen Dunkelheit. Ich fuhr durch einen Weiler: malerisch, verschlafen. Eine weiße Triple-Stretchlimousine parkte frech auf dem Dorfanger. Der Hof einer Farm war vollgestellt mit Roma-Wohnwagen, eine Holzwindmühle ließ den Kopf einer lebensgroßen Clownspuppe nicken. Ein Kraftwerk. Ein Windpark. Müll und Strandgut am Rand der bewohnten Welt. Ich musste an Dungeness denken, wo der Filmemacher Derek Jarman seine letzten Jahre in einem geschindelten, schwarz geteerten Fischerhaus verbrachte und dem blaugrauen Kies, auf dem es stand, einen Garten abrang, während sich sein einst so scharfer Blick zunächst verdunkelte und dann ganz erlosch. Es gibt ein Foto von ihm als Knut der Große, in einen Umhang gehüllt und mit einer Halskette aus Schwimmern einer Angelrute. Lächelnd inszeniert er sich zwischen Land und Meer und gebietet den Wellen zurückzurollen. Vielleicht auch als König Lear. Ein Kämpfer gegen das sterbende Licht, die näherkommende See. Obwohl ich an Dungeness erinnert wurde, kam es mir zugleich ganz anders vor. Enger und härter. Diese Landschaft hatte etwas unerwartet Weiches und Weites. Im Dorf Easington sah ich Schilder zum Spurn Point. Auf dem Parkplatz dort zu parken wirkte übertrieben. Es gab ja gar keinen Verkehr. Ich stellte das Auto trotzdem dort ab. Neben dem Parkplatz lag ein Campingplatz. Ich schloss ab, ging zurück, prüfte, ob wirklich abgeschlossen war. Ärgerte mich, weil ich das tat. Es war nicht mal zwei Uhr nachts. Wer würde jetzt hierher kommen? Ich ging durch Felder und Wiesen, an einigen Häusern vorbei, und war überrascht, in wie vielen Fenstern Licht brannte. Ich hatte nicht gedacht, dass hier so viele Menschen wohnten, beziehungsweise mir vorgestellt, dass sie jetzt schliefen. Ich versuchte, eine in mir aufsteigende Panik zu unterdrücken, eine kribbelnde Angst. Sie hatte sicher mit der unerwarteten Nähe so vieler anderer Menschen zu tun und meiner Schutzlosigkeit allein auf dem Weg zum Spurn Point. Es war wie über die Planke gehen. Natürlich hatte ich mit dem einen oder anderen Vogelbeobachter gerechnet, eine Begegnung zu dieser Jahreszeit und an einem so entlegenen Ort aber für unwahrscheinlich gehalten. Doch nun spürte ich förmlich all die hinter zugezogenen Vorhängen auf Fernseher gehefteten Blicke, sah das an kalten Bierdosen in dieser warmen Sommernacht herunterlaufende Kondenswasser vor mir. Empfand die tiefe Müdigkeit der jungen Mütter mit ihren schlaflosen Kindern, der Schichtarbeiter, der Greise. Scheinwerfer leuchteten auf: ein Range Rover der Polizei. Er hielt an – teigige Gesichter, kleine, harte Augen musterten mich skeptisch. Vorsichtshalber hob ich die Hand. Wen suchten sie? Schmuggler? Selbstmörder? Prostituierte? Sie erwiderten meine Geste nicht und fuhren weiter, hinaus zum Point, zur Spitze. Wo der Sandarm sich aus dem Land erhob – sodass beide, Fluss und Meer, zu sehen waren –, befand sich eine Ansammlung von Fertighütten aus Wellblech und Beton. Autos standen verstreut davor. Die Chromteile eines alten BMW schimmerten, die Fenster waren von innen beschlagen. Eine Nissenhütte hatte offenbar als Café für Leute gedient, die zum Point wollten, doch die verwitterten Schilder schienen mittlerweile nutzlos zu sein. Die Autos wiesen allerdings darauf hin, dass hier noch jemand lebte, Außenseiter, Randgestalten. Ich hatte geplant, bis zur Spitze der Landzunge zu laufen, an der Fluss und Meer sich trafen, und mich dann irgendwo hinter dem Leuchtturm schlafenzulegen. Ich hatte den Tag hier verbringen, alles erkunden, in mich aufnehmen und dann zurück zu meiner Mutter fahren wollen. Aber mir war nicht klar gewesen, wie hell die Nacht sein würde. Bald nach Mitternacht hatte sich alles verschattet, verfüllt, doch seitdem hellte sich der Himmel allmählich auf. Zuerst war er dunkelblau, jetzt mit lichteren Streifen durchsetzt. Die Formen im blassen Sand vor mir waren leicht zu erkennen, die Farben traten langsam hervor wie auf einem sich entwickelnden Polaroidfoto. Die Polizisten fuhren wieder an mir vorbei. In ein paar Minuten hatten sie die Reise gemacht, für die ich durch die Nacht gefahren war. Ich ging zur Flussmündung. Ihr Ufer war flach und fruchtbar, grüne Marsch, brauner Schlick. Es knallte in einem fort, als schnalzten hundert Zungen. Marschgase, nahm ich an. Und der Humber selbst. So weit und real wie der Tod. Ein paar Meilen flussaufwärts verband eine bei Selbstmördern beliebte Hängebrücke Lincolnshire mit dem East Riding von Yorkshire. Ich fragte mich, ob einer von ihnen bis hierher getrieben und angeschwemmt worden war. Ich hatte Angst, aufs Wasser zu schauen, Angst davor, was ich sehen würde. Einen aufgeblähten Hund, die bleichen Glieder wie Stuhlbeine in den blinden Himmel gereckt. Oder Schlimmeres. Mein Unbehagen wurde stärker, als ich ein unverkennbares Geräusch hörte, ein tiefes Vibrieren, einen Cantus planus, das Zusammenfließen vieler Stimmen. Zuerst hielt ich die Luft, das Zusammentreffen des Flusswindes mit dem Meereswind für die Ursache, aber in der bleichen Nacht erkannte ich das...