E-Book, Deutsch, 340 Seiten
Nolte Schreckliche Gewalten
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95757-427-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 340 Seiten
ISBN: 978-3-95757-427-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eines Nachts verwandelt sich Hilma Honik in einen Werwolf und tötet ihren Mann. Von nun an sind ihre beiden Kinder auf sich selbst gestellt: immer in der Angst, die Bestialität liege in der Familie und könne auch von ihnen Besitz ergreifen. Während sich Iselin dafür entscheidet, in ihrer Heimatstadt Bergen mit ihren Mitbewohnerinnen die Terrorzelle »Mädchen im System« zu gründen, bereist Edvard die Ränder der Sowjetunion auf seinem Weg nach Afghanistan. Es beginnt eine fantastische Sinnsuche durch das 20. Jahrhundert und die Unwägbarkeiten menschlichen Verhaltens. In seinem zweiten Roman zeichnet Jakob Nolte einen schwarzen Regenbogen des Horrors über die Welt und erweist sich dabei als detailverliebter Nihilist und Meister des Wahnwitzes.
Jakob Nolte, geboren 1988, wuchs in Barsinghausen am Deister auf. Seine Theaterstücke wurden mehrfach prämiert und an zahlreichen Bühnen Europas gespielt. Sein Debütroman ALFF wurde mit dem Kunstpreis Literatur 2016 ausgezeichnet. Im selben Jahr war er Stipendiat der Villa Kamogawa in Kyoto. Sein Roman Schreckliche Gewalten war für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Autoren/Hrsg.
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(die kein Herz hatte. In ihrem Brustkorb lebte eine Art Insekt. Ein Tier, weitaus intelligenter als Mensch und Seehund. Dieses Tier beherrschte die norwegische Sprache und konnte so mit Sofia kommunizieren. Es hatte die Form eines Herzens und sein Körper imitierte die Funktionen eines Herzens, mit dem einzigen Unterschied, dass es sich seiner selbst bewusst war und dass Zusammenziehen und Entspannen der Herzkammern kein Reflex, sondern ein willentlicher Vorgang waren. Dieses Tier, welches keinen mit dem menschlichen Sprachvermögen zu artikulierenden Namen besaß, konnte entscheiden, ob Sofia leben oder sterben sollte. Es konnte außerdem nach eigenem Ermessen ihre Körpertemperatur bestimmen, sodass es, wenn es Sofia bestrafen wollte, auf 30° oder 29° Celsius abkühlte, was ihr ein unmöglich zu ertragendes Frostgefühl verursachte. Die Macht über sie demonstrierte das Wesen zum ersten Mal während des Julfests des Jahres 1964. Es war Bescherung. Sofia litt schrecklich unter der brennenden Kälte in ihrer Brust. Sie weinte und schluchzte und schrie wie ein Schwein, dem die Kehle durchgeschnitten wird. Tränen liefen ihr in Sturzbächen über die Wange, sie sabberte und röchelte mit weit aufgerissenen, vor Qual geweiteten Augen. Sie hatte die Kontrolle verloren, sie hatte Angst, verrückt zu werden. Sie hielt dem Schmerz nicht stand. Sie warf sich auf den Boden und strampelte mit ihren Beinen und ihren Armen. Ihre Lippen liefen blau an, sie verfluchte diesen Tag, sie hasste diesen Tag und den Peiniger in ihrem Brustkorb. Sie wusste nicht, womit sie dieses Leid verdient hatte. In diesem Moment ihres zwölften Lebensjahres hatte sie zum ersten Mal das ungeheure Verlangen, tot zu sein. Sie konnte es sich nicht erklären. Sie kreischte, wie kalt ihr sei, nur immer wieder diese paar Worte. Der Rotz hatte ihr ganzes Gesicht verschmiert. Ihre Verwandten deckten sie fest ein, kochten Tee und versuchten, sie irgendwie warmzuhalten. Und gerade als der Hausarzt in die (sehr) warme Stube kam, stieg die Temperatur des Wesens, das anstatt von Sofias Herz in ihrem Körper lebte, wieder an. Der Hausarzt konnte nichts feststellen, bekam einen Grog und ein paar Plätzchen angeboten, die er aber dankend ablehnte, um möglichst schnell zu seiner eigenen Familie zurückzukehren, und verließ das Haus Hirsch. Der Parasit hatte vor der Küste Jomfrulands auf ein Opfer gelauert und war auf Sofia gestoßen, die irgendwo in den etwas tieferen Gewässern planschte. Sie hatte bloß einen kleinen Stich gespürt und dachte, dass ein Fisch sie vielleicht gebissen oder ein kleiner Stein sie beim durch die Wellen verursachten Umherwirbeln getroffen habe oder dass es vielleicht ein kleiner Krebs gewesen wäre, der sich an sie gekniffen hätte, aber als sie sich untersuchte, fand sie bloß ein winziges Loch unter ihrer Achselhöhle, aus dem ein dünner Faden Blut rann. Innerhalb eines halben Jahres fraß sich das Tier seinen Weg zum Herzen und dann Stück für Stück Sofias Herz und wandelte seine Gestalt von einer schnecken-, oder wattwurmähnlichen zu der eines Herzens. Sofia war da gerade acht. Wie sollte sie ahnen, dass dieses Empfinden von Schmerz, Unwohlsein oder Kribbeln keine normalen Gefühle des Wachsens und Älterwerdens waren? Außer einem gelegentlichen Ziehen, das sie und ihre Eltern aber auf eine Lungenschwäche zurückführten, änderte sich in ihrem Leben nichts. Sie ging weiterhin zur Schule, verliebte sich selten und entwickelte ein Interesse für professionelles Feldhockey. Nachts sah sie in die Sterne und ihr wurde schwindelig. Jeder dieser Punkte war ein auf sie gerichteter Zahn. Und all diese Zähne bewegten sich langsam auf sie zu. Ihr war, als säße sie in einem uferlosen Maul. Sie nahm Unterricht im Voltigieren, was für die Kleinfamilie eine finanzielle Belastung darstellte. Sie liebte das Fernsehen. Sie war hundertdreiundvierzig Zentimeter groß, hatte blondes Haar und trug kräftige Röcke. Sie und ihre Eltern lebten in Drammen, einer Stadt ein paar Kilometer südwestlich von Oslo. Sie hatte keine weiteren Geschwister. Ihre Mutter arbeitete in einer Schiffswerft und ihr Vater kümmerte sich um den Haushalt. Gelegentlich verkaufte er eingelegte Früchte, Marmelade, Kuchen, Kekse, Biskuits, Bonbons, Konfekt, Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, Quiches, Schnitzereien, Lose, Wasserpistolen, kleinere Instrumente, Luftgewehre, Schals, Handschuhe, Socken, Fäustlinge, Elektronikartikel, Sammelfiguren, Samosas, Spielgeld, Geld aus aller Welt, Münzen, Schachbretter, Damespiele, alte Fotografien, Schallplatten, Bücher, Hefte, Comics, Spielfiguren, Spiegel, Spiegelchen, Döschen, Handseife und Schaffelle auf den Märkten in der Umgebung. Sofia war am 9. April des Jahres 1952 geboren worden. Die Wohnung ihrer Eltern war klein und gemütlich. Ihre Mutter beschwerte sich immer über all den Krimskrams (wie sie es nannte), der rumflog. Ihr Vater wurde dann ganz niedergeschlagen und bekam das Gefühl, sein Leben vertan zu haben. Wenn ihre Mutter ihn so sah, nahm sie ihn in den Arm, wischte ihm die Tränen aus den Augenwinkeln und bedankte sich aufrichtig für seine Hingabe und Fürsorge. Sie hatte starke Oberarme und Hände, die etwas anfassen konnten. Das Wesen in ihrem Brustkorb nannte Sofia der Einfachheit halber Arachne. Sofia und Arachne verstanden sich nach einer Weile des Kampfes um ihren Körper ganz gut. Es kam selten vor, dass Arachne Sofia vorschrieb, was sie zu tun hatte. Manchmal meldete sie sich sogar einige Tage oder Wochen überhaupt nicht. Sie war nicht bösartig. Sie wollte bloß möglichst lange in Sofias Brustkorb verharren und sich dort der Nährstoffe bedienen, die durch Sofias Blut zirkulierten. Arachne war experimentierfreudig. So liebte sie es, wenn Sofias Blut von Adrenalin durchtränkt war. Auch Alkohol gefiel ihr. Und Arachne hatte eine Schwäche für isotonische Salzwasserlösungen. Es gab Tage, da war ihr Sofias Blutplasma zu fade und sie verlangte nach etwas anderem, nach etwas Sterilerem und Kälterem. So kam es, dass Sofia bereits mit vierzehn Jahren leichterhand ihre Venen fand und sich ein paar Milligramm unterschiedlichster Flüssigkeiten injizieren konnte. Es war offensichtlich, dass sie die Sklavin Arachnes war, und das für den Rest ihres Lebens. Allerdings ging es Sofia nicht wirklich schlecht. Denn die Intelligenz Arachnes überstieg die aller anderen Personen in ihrem Umkreis bei Weitem und sie standen immerhin in einer symbiotischen Herr-und-Knecht-Verbindung zueinander. Arachne hatte großes Interesse daran, dass es mit Sofia voranging. Weswegen sie ihr bei ihren Hausaufgaben und Schularbeiten half und ihr Tipps gab, wie sie sich zu verhalten hätte. Arachne verstand alles um sie herum in kürzester Zeit. Ihr Denkvermögen überstieg das von Computern und Gehirnen um Äonen. Ob es um Sprachen oder Wissenschaften ging, spielte keine Rolle. Das Einzige, was sie verweigerte, waren Auskünfte zu ihrer Herkunft oder Rasse (bei diesem Wort musste Arachne auflachen (eine Eigenart, die sie sich angewöhnt hatte, um flüssiger mit Sofia zu kommunizieren), wie albern und falsch die Menschen doch in ihren Kategorien wären, überhaupt dieser fehlgeleitete Zwang zum Benennen). Genauso nahm Arachne keinen Einfluss auf Sofias Privatleben. Welche Musik sie hörte oder mit wem sie ihre Nachmittage verbrachte, war ihr gleichgültig. Sie wollte nur das Adrenalin schmecken, weswegen sie sie immer wieder dazu bewegte, Extremsport zu machen oder zumindest Sport oder sich mehr zu trauen, als sie es normalerweise tun würde. Was Sofia oft zugute kam. Sie war routiniert darin geworden, Leute kennenzulernen, und fand sich schnell in Fremdstädten zurecht. In Sofias Pubertät gab es noch eine Reihe von Momenten, in denen sie sich gegen ihre Herrin (beziehungsweise ihr Herz) auflehnte. Doch am Ende fügte sie sich hörig ihrem Schicksal. Da aber eine der Abmachungen, die die beiden miteinander hatten, war, dass es Sofia untersagt war, anderen von ihrer Knechtschaft zu erzählen, fühlte sie sich von Zeit zu Zeit beispiellos einsam. Die Unmöglichkeit, ihre Empfindungen wahrhaft mitzuteilen, belastete sie sehr. Die Unterhaltungen zwischen den beiden liefen so ab, dass Sofia redete oder murmelte, ganz leise nur, so leise, dass es für ihre Umgegend kaum wahrnehmbar war oder zumindest nicht als Sprache mit darin erhaltenen Informationen, und dass Arachne daraufhin Botenstoffe ins Blut absonderte, die sich in Sofias Sprachzentrum direkt in Worte verwandelten. So gesehen hatte Arachne keine Stimme, sondern nur Sofias Stimme in Sofias Kopf. Was auch auf eine schwere Form der Schizophrenie hinweisen könnte. Dass Sofia nichts über die Kondition ihres Herzens sagen durfte, lag daran, dass Arachne unbedingt verhindern wollte, dass ein Team von Forschenden (ob nun mit Fördermitteln des Staates oder mit privaten) Experimente an ihr durchführte. Arachne legte großen Wert auf ihre Privatsphäre. Sonst konnte sie sich für vieles begeistern. Sowohl für Aufregung als auch für Entspannung. Auch deshalb begann Sofia später, geringe Dosen Opium zu sich zu nehmen. Angefangen hatte dieses Faible nach einer Erkältung und den daraufhin verschriebenen Codeintropfen. Außerdem hatte Arachne Angst vor dem Tod. Es war ihr größter Schrecken. Ihr war klar, dass sie nur so lange leben würde, wie Sofia lebte. Sie konnte sich nicht in ihre ursprüngliche Form zurückverwandeln. Alles, was sie tun konnte, war den körperlichen Tod ihres Wirts abzuwarten, um dann selbst (langsam, eingesperrt) zu sterben. Dies könnte, je nach gesundheitlichem Zustand, mehrere Tage dauern. Sie ernährte sich von Kohlenstoffdioxid. Ihre Hoffnung war, dass Sofias Überreste so schnell verwesen würden, dass sie ein Ei von sich selbst (Arachne konnte sich selbst befruchten) in ein anderes Tier legen könnte. Normalerweise zwang sie ihre Sklaven immer kurz vor dem Tod,...