E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Noll Obenrum frei
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-407-86894-7
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stillen, wie es zu dir und deinem Baby passt
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-407-86894-7
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ramona Noll hat als Stillberaterin und systemische Familientherapeutin bereits über 1.000 Familien dabei begleitet, ihren eigenen, selbstbestimmten Weg durch die Stillzeit zu finden. Sie ist Mutter von vier Kindern und hat selbst insgesamt 85 Monate gestillt. Sie wohnt mit ihrer Familie in Lahnstein.
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Obenrum frei machen
Kleine Zeitreise des Stillens
Im 18. Jahrhundert (also vor gar nicht so langer Zeit) war Stillen nach Bedarf das »Normale«, Wochenbett wurde empfohlen und natürlich viel Hautkontakt mit dem Baby. Es gab erste medizinische Studien und Aufzeichnungen darüber, dass Stillen dem Baby guttut und es in seiner Entwicklung unterstützt. Und da das Baby kurz nach der Geburt ja nur einen kleinen Magen hat, soll und darf es natürlich auch öfter kleine Portionen trinken. Klingt vertraut? Ja, wir kommen langsam wieder dahin.
Nach und nach fanden die Mediziner (mit Absicht nicht gegendert, da Ärztinnen damals noch lange nicht selbstverständlich waren …), es brauche eine Regelmäßigkeit. Alles, was irgendwie nicht in geordneten Bahnen verläuft, »animalisch« sein könnte, musste in Regeln gepackt werden, denn alles Unregelmäßige könne auf eine Krankheit hinweisen. So kam man schnell auch auf das Stillen: Bitte nur alle zwei Stunden das Baby an die Brust führen; alles andere ergebe keinen Sinn, verwöhne die Kinder und berge Risiken für Körper und Geist.
Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war´s dann ganz vorbei mit der Freiheit beim Stillen. Die Lungenfachärztin Johanna Haarer formulierte 1934 in »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« Vorgaben für den Umgang mit Säuglingen, die es einzuhalten galt. Das Buch stand mit dem leicht veränderten Titel »Die Mutter und ihr erstes Kind« bis in die 1980er-Jahre in den Buchhandlungen. Liebe und Geborgenheit im Wochenbett? Stillen nach Bedarf? Bonding? Fehlanzeige. Der Wochenfluss wurde als infektiös bezeichnet und als Gefahr für Mutter und Kind gesehen. So sollten die beiden diese erste Zeit am besten getrennt voneinander verbringen. Damit das Kind von Anfang an vor dem Verwöhnen geschützt wird, durfte es nur alle vier Stunden zur Mutter zum Stillen, in der Nacht gar nicht.
Das sitzt. Und zwar tief. Seit fast 100 Jahren geistert dieses Denken, dass man Babys nicht »verwöhnen« darf und schön nach Zeitplan stillen soll, nun schon in unseren Köpfen herum. Manche Mütter haben es (auch damals schon) trotzdem getan. Haben ihr Kind gestillt, wann und wie lange sie wollten, haben es herumgetragen oder bei sich schlafen lassen. Aber hui – wehe, das hat jemand erfahren! Und hey, auch heute noch habe ich Familien vor mir sitzen, die fast flüstern, wenn sie erzählen, dass ihr Kind bei ihnen im Elternbett schläft. Oder dass sie »immer noch« stillen. Die »alten Regeln«, Ammenmärchen, Mythen und Sorgen, das Baby zu »verwöhnen«, stecken bis heute in uns allen drin. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sich unsere Eltern und Großeltern mit genau diesen Vorstellungen konfrontiert sahen und sie nach bestem Wissen und Gewissen weitergaben. Sie meinten es wohl gut, ganz sicher nicht böse, aber hatten eben selbst diese starren Richtlinien erlebt anstelle einer liebevollen Begleitung in Wochenbett und Stillzeit. Es dauert mindestens drei Generationen, bis neues Wissen etabliert ist. Wir bleiben also dran.
Stillen ist politisch
Es ist schon ein bisschen verrückt, dass wir das einzige Säugetier sind, das dauerhaft sichtbare Brüste hat. Bei den anderen bilden sie sich ausnahmslos nach dem Abstillen wieder zurück. Alle Menschen haben Brüste, in unterschiedlicher Ausführung, und dennoch darf nicht jede sie frei zeigen. Sobald es einen »Nippelblitzer« bei einer Frau gibt, wird daraus ein Skandal. Frauenbrüste werden auf Instagram zensiert, Männerbrüste nicht. »Sex sells« ist immer noch okay, Stillen in der Öffentlichkeit verpönt.
Ich würde sagen, erst durch meine Schwangerschaft habe ich überhaupt einen gesunden und positiven Zugang zu meinem eigenen Körper gefunden. Auch wenn wir vielleicht der Meinung sind, dass unser Körper uns gehört, wird uns in der patriarchalischen Gesellschaft schon in der frühen Kindheit deutlich vermittelt, dass unser Körper Teil der Gesellschaft ist. Jeder hat dazu eine Meinung. Ich hatte nie ein gutes Vorbild beim Thema Schwangerschaft oder Stillzeit. Ich kannte vor meiner eigenen Stillzeit keine andere Frau, die ihr Kind so lange gestillt hat wie ich meinen Sohn jetzt. Stillen findet nicht statt in der Öffentlichkeit, in unserer Wahrnehmung. Barbiepuppen werden im Set mit Fläschchen verkauft und mit Schnuller. Habt ihr jemals eine Barbie gesehen, die stillt und ihr Baby im Tragetuch hat?! Nein. Weil es sie nicht gibt.
Und das müssen wir ändern. Die Wahrnehmung in der Gesellschaft. Wir müssen sichtbar sein, für Mädchen und für junge Frauen. Wir müssen einander unterstützen, denn das System arbeitet gegen uns. (Nathalie)
Stillen in der Öffentlichkeit, das Recht auf Stillpausen in der Arbeitszeit, Mutterschutz nach einer Fehlgeburt oder Mutterschutz für Selbstständige – Eltern sein ist von Anfang an politisch, keine Frage. Auch das Thema Stillen versus Flaschennahrung gehört dazu. Das auszudiskutieren führt hier zu weit, aber ich möchte dennoch ein paar Gedanken dazu weitergeben.
Nehmen wir die Pre-Nahrung. Sie ist die Wahl, wenn ein Kind nicht oder nur teilweise gestillt wird – und zwar von Geburt an, bis es keine Milch mehr braucht oder verlangt. Das Bewerben von Pre-Nahrung ist in Deutschland verboten, damit das Stillen gefördert und nicht der Anschein erweckt wird, dass die Ersatznahrung mit Brustmilch gleichzusetzen ist. Werbung für Folgemilch ist allerdings erlaubt. Dabei enthält Folgemilch neben Laktose weitere Kohlenhydrate wie Stärke oder Maltodextrin. Sie ist also kalorienhaltiger, macht schneller satt, ist aber schwerer verdaulich und auf keinen Fall für Neugeborene zu empfehlen. Eine Folgemilch (egal ob 1er, 2er oder 3er) ist ernährungstechnisch gesehen überhaupt nicht notwendig. Wenn das Kind Pre nimmt, kann es diese weiterhin trinken und muss nicht auf Folgemilch umstellen.
In Deutschland wurden 2024 ca. 1,21 Milliarden Euro Umsatz mit Babynahrung gemacht. Laut einer Prognose soll er bis ins Jahr 2029 auf 1,6 Milliarden anwachsen. Der Anteil von Babymilch und Säuglingsnahrung steigt dabei jährlich.1 Und obwohl 97 Prozent der Schwangeren angeben, stillen zu wollen, wird in Deutschland sechs Monate nach der Geburt nur noch jedes zweite Kind überhaupt gestillt. Mit »Muttermilch« verdient man eben nicht so viel Geld, und den Firmen steht ein unglaubliches Budget für Werbung von Folgemilch zur Verfügung. Mit geschickten Formulierungen und gutem Marketing suggerieren sie, dass die künstliche Milch nur das Beste sein kann – und alle Eltern wollen doch das Beste für ihr Kind.
Wir sind froh, dass die Forschung aus Brot mit Wasser und Bier eine ordentliche und sichere Säuglingsersatznahrung hervorgebracht hat, keine Frage. Aber die krasse Vermarktung der Produkte, inflationär gebrauchte Sätze, egal ob im privaten Umfeld oder auch von Fachpersonal, wie »Gib doch die Flasche« oder »Mit Pre werden sie auch groß« und mangelnde Aufklärung sorgen dafür, dass die Stilldauer abnimmt oder dass gleich gar nicht mehr gestillt wird. In manchen Ländern hat man es so weit getrieben, dass »Formula« sich sogar viel gesünder anfühlt als die eigene Milch. Daher gibt es u.?a. die Nationale Stillförderung, die sich für das Stillen einsetzt. Für mich muss niemand stillen. Ich gehöre nicht zur sogenannten »Still-Mafia«. Aber es lässt mich immer wieder ratlos zurück, dass häufig lieber gesagt wird: »Nimm doch die Flasche«, als die Familien beim Stillen (und vielen anderen Aufgaben als Eltern) zu unterstützen, und wie wenig insbesondere Eltern und Fachpersonen über Inhaltsstoffe und den sinnvollen Einsatz der Produkte wissen.
Stillen und Feminismus
Immer wieder gibt es Schlagzeilen wie »Stillen behindert den Feminismus«. Oder es wird (gern von Männern) dargelegt, dass das Stillen schuld sei, dass die Väter sich gar nicht gleichberechtigt kümmern können. Ohne darüber nun direkt ein eigenes Buch zu schreiben, möchte ich zu ein paar Gedanken anregen: ...




