Nössler Tiefe Liebe, freier Fall
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-88769-862-1
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 100 Seiten
ISBN: 978-3-88769-862-1
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
sabel, vom Spiel der Liebe bitter enttäuscht, führt im Hinterhaus einer Berliner Zweizimmerwohnung ein Schattendasein, als sie die wohlhabende Johanna kennenlernt. Im ersten gemeinsamen Urlaub auf der Ferieninsel Madeira meint es das Glück mit den beiden ungleichen Frauen gut, zögerlich traut Isabel wieder zärtlichen Gefühlen. Doch dann wird sie von der dunklen Seite ihrer Vergangenheit eingeholt: Plötzlich taucht die totgeglaubte Agnes vor ihren Augen auf, eine längst ad acta gelegte Affäre scheint mehr zu wissen, als ihr lieb ist, und dann steht auch noch Johannas Ex vor der Tür. Zu viele Figuren beanspruchen im Monopoly des Lebens den Platz an der Sonne, und einmal mehr baut Isabel auf die extravaganten Straßen: Sie führen an den Rand der höchsten Steilküste Europas, direkt in die Tiefe.
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1
Der Wind blies so kräftig, dass er sie beinahe vom Felsen warf. Johanna hatte es vorhergesagt. Johanna kümmerte sich immer um das Wetter. Sie hatte sich gegen diesen Ausflug ausgesprochen, Isabel aber durch nichts davon abbringen können. Isabel hatte zu diesem Aussichtspunkt gewollt, unbedingt, und es musste heute sein, als hinge ihr Leben davon ab. Der Blick von hier oben war als atemberaubend beschrieben. Seit ihrer Ankunft brauchte Isabel ihn täglich, den Blick auf das Wasser. Sie wurde unglücklich, wenn er ihr verwehrt wurde. Das Gelände war schroff und unwegsam und sie musste sorgsam auf ihre Schritte achten. Zu ihrer Freude gebärdete sich das Meer dort unten viel wilder als an den Tagen zuvor. Aufbrausend und zornig. Ihr Meer – denn Isabel betrachtete es als ihres – gefiel ihr am besten mit kleinen Schaumkrönchen, in einem dunklen Türkis. Manchmal war es tiefblau, fast schwarz. Anfangs hatte Isabel sich beklagt, denn es gab sich nicht so entfesselt und gewaltig, wie sie es von einer Atlantikinsel mit Steilküsten erwartet hatte. „Sieht ja aus wie das Mittelmeer“, hatte sie enttäuscht bemerkt. „Na ja, nicht so blau wie das Mittelmeer. Aber genauso langweilig und ruhig.“ Heute jedoch wurde sie entschädigt. Die drei kleinen, unbewohnten Inseln, auf denen eine endemische Wolfsspinnenart beheimatet war, waren heute viel deutlicher zu erkennen als sonst. Das bedeutete schlechtes Wetter, soviel hatte sie inzwischen gelernt. Über die Wolfsspinne hatte Johanna sie morgens beim Frühstück auf der Terrasse aufgeklärt. Johanna hatte auch genussvoll erwähnt, dass jene Spinne mit anderem Namen Tarantel genannt werde. Wie gut, dass das Meer zwischen der giftigen Wolfsspinne dort drüben und Isabel dreitausend Meter tief war. Das richtige Schuhwerk war hier unerlässlich, und obgleich Isabel den Eindruck hatte, an ihren Füßen hingen tonnenschwere Gewichte und sich zuerst mit der Begründung, sie fahre doch nicht in die Alpen, gegen sie gewehrt hatte, war sie nun froh über ihre robusten, roten Bergstiefel. Sie belächelte die Touristen, die Sandalen oder Turnschuhe trugen und sich deswegen wahrscheinlich irgendwann, wenn sie vom Fels rutschten, den Hals brechen würden. Ihr täten sie dann kein bisschen leid. Inzwischen war sicher mehr als eine Stunde vergangen und sie hätte längst wieder umkehren müssen. Johanna würde schon warten. Sie hatte zwar gesagt „lass dir ruhig Zeit“, doch nun würde sie sich bestimmt fragen, wo Isabel so lange blieb. Vielleicht würde sie sich sogar Sorgen machen? Johanna kannte ihr kleines, wohlgehütetes Geheimnis: Isabel war nicht schwindelfrei. Eine Schwäche, die sie seit nunmehr sieben Tagen mit allen Mitteln zu verbergen suchte, denn vor Johanna war sie ihr unangenehm. Sie wollte, wenn sich der schwindelerregende Abgrund neben ihr auftat, auf keinen Fall nach Johanna rufen und sie um Hilfe bitten, sie wollte nicht zugeben, dass sie nicht in die Schlucht hinunterblicken und, schlimmer noch, womöglich keinen Schritt mehr weitergehen konnte. Sie wollte Johanna gefallen. Johanna zu gefallen, war lebensnotwendig. Überlebenswichtig. Außerdem passte diese Schwäche ihrer Meinung nach überhaupt nicht zu ihr. Isabel wäre gern großartig gewesen und ganz ohne Angst. Ihre Bemühungen waren allerdings vergeblich, denn Johanna entging nichts. Gleich bei der ersten Wanderung war ihr aufgefallen, was mit Isabel los war. Wie viel Zeit war vergangen? Eine Stunde? Mehr als eine Stunde? Dieser Ort raubte ihr jedes Zeitgefühl. Johanna würde auf sie warten, das wusste sie, und ungeduldig werden. Doch Isabel wollte nicht zurück. Noch nicht. Sie wollte einfach hier oben sitzen bleiben, mitten im Wind, der so kräftig wehte, dass man ihn zu Hause Sturm nennen würde. Sie wollte hinunterblicken und an nichts denken. Dass es möglich war, an nichts zu denken, erschien ihr wie ein Wunder. Johanna verstand nicht, dass Isabel so oft aufs Meer sehen musste, belächelte sie sogar, und das versetzte Isabel jedes Mal einen kleinen Stich. Isabel hatte lange nach dem richtigen Wort gesucht, dem passenden, nach dem einzigen, das diesen Zustand beschreiben konnte. Sie hatte dringend ein Wort gebraucht! Und dann war es ihr endlich eingefallen. Es war so einfach wie wahr. Das richtige Wort, es hieß: Glück. Plötzlich war es da. An diesem windigen Ort, mit Blick auf das türkisfarbene Meer, dachte sie nicht an Widrigkeiten und Kümmernisse. Sie dachte nicht an ihre dunkle Wohnung daheim, in der sie wie ein Grottenolm hauste, die sie seit fast einem Jahr nicht mehr geputzt hatte und die allmählich in den Zustand der Verwahrlosung überging. Was sich inzwischen wohl alles in den breiten Fugen zwischen den Dielen auf dem Fußboden tummelte? In zwei Wochen würde Isabel dorthin zurückkehren müssen. Doch zwei Wochen erschienen ihr im Augenblick endlos, und bis es so weit war, bis der Tag der Abreise käme, würde sie einfach nicht daran denken. Sie dachte an nichts. An gar nichts. Hier dachte sie nicht darüber nach, was künftig sein würde, und ebenso wenig dachte sie an die dunkle, schwere Trauer, die hinter ihr lag und die sie in einen ganz besonderen Abgrund gezogen hatte, aus dem sie lange Zeit nicht hatte emporklettern können. An diesem Ort war ihr Kopf vollkommen leer und es war ihm noch nie so gut gegangen. Ein wenig getrübt wurde Isabels Glück nur durch die unzähligen Touristen. Nach Johannas begeisterten Schilderungen am Abend zuvor hatte Isabel sich eine Einöde ausgemalt und nicht Heerscharen von Wanderern, die sich wie sie vom starken Wind nicht hatten abschrecken lassen. Isabel wollte allein sein, nur für sich. Allein genießen. Sie wollte sogar für einen kurzen Moment ein bisschen einsam sein, nur ein kleines bisschen, dabei hatte sie die Einsamkeit immer gefürchtet. Doch stattdessen klackten nun unentwegt Wanderstöcke rings um sie herum. Das Geräusch, das sie erzeugten, bohrte sich empfindlich in Isabels Kopf, und sie wünschte sich, dass all diese Menschen samt ihrer modernen Freizeitausrüstung einfach verschwänden. Sie hob einen rotbraunen Stein vom Boden auf, Lavaschlacke, staunte darüber, dass er sich ganz leicht in ihren Händen anfühlte und bemerkte zu spät, wie scharfkantig er war. Er verletzte sie an der Hand. Ihre Hände waren fast immer zu trocken, die Haut riss schnell ein und noch heute Morgen hatte sie kurz daran gedacht, Johannas teure Handcreme zu benutzen, es aber wie meistens vergessen. Johanna besaß ein ganzes Arsenal teurer Cremes, für jede Körperpartie eine eigene. „Warte nur, bis du in mein Alter kommst“, sagte Johanna, „dann wirst du es verstehen.“ Mit überraschend großer Kraft, die sich ihrer Empörung über die geritzte Haut verdankte, warf Isabel den Stein weit weg, traf dabei beinahe einen Wanderer, der daraufhin mit österreichischem Akzent schimpfte und mit seinem Stock in der Luft herumfuchtelte, und rieb vorsichtig über die Abschürfung an ihrer Hand. Seit sieben Tagen waren sie nun auf Madeira. An diesen sieben Tagen hatte Johanna Isabels nahezu unstillbare Sehnsucht, auf das Meer zu blicken, zuerst mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, dann mit leichter Belustigung. Der Stein aus Basalt, den sie danach aufhob, war wesentlich schwerer, hart und glatt. Ganz vorsichtig trat Isabel an den Abgrund heran und blickte nach unten. Immerhin, sie konnte es jetzt und fand sich ungeheuer mutig. Wurde es nicht von Tag zu Tag besser? Sie zögerte kurz und warf den Stein dann mit einer gewissen Befriedigung hinunter, stellvertretend für den, der ihre Hand verletzt hatte. Ihre Erwartung, seinen Weg verfolgen zu können, bis er unten aufschlüge, wurde enttäuscht, denn sie hörte ihn nicht. Sie hörte nur das anhaltende Klacken der Wanderstöcke im Hintergrund und die Wellen, die hundert Meter unter ihr laut gegen den Fels schlugen. Oder waren es zweihundert Meter oder noch mehr? So nah, wie sie gewünscht hätte, wagte sie sich nicht an den Rand, obwohl sie sich gleichzeitig unerklärlich nach der Tiefe sehnte. Aber es könnte jemand da sein. Jemand könnte plötzlich viel zu dicht hinter ihr stehen, ohne dass sie es bemerkte. Johanna wartete weiter unten auf sie, an dem Haus mit den Palmen, das dem Parkwächter der Halbinsel Ponta de São Lourenço gehörte. Der Weg sei ihr heute zu beschwerlich und außerdem sei es viel zu windig. „Aber geh du nur“, hatte sie gesagt, „du hast das alles ja noch nie gesehen. Nimm den Fotoapparat mit, dann kannst du dein Meer fotografieren. Ich lese hier und warte auf dich. Mir geht es gut.“ „Wirklich?“, hatte Isabel gefragt. „Ja, wirklich.“ Isabel und Johanna kannten sich seit vier Monaten. Seit einhundertneunzehn Tagen, um genau zu sein. War das lang oder kurz? War das bereits eine kleine Ewigkeit oder so flüchtig wie ein Windhauch, der nicht blieb, der nichts auszurichten vermochte, höchstens ein Blatt über die Straße fegte? Isabel führte im Geist über die Anzahl der Tage und Wochen Buch. Auch über diese Marotte amüsierte sich Johanna manchmal, und deshalb würde Isabel ihr morgen früh beim Aufwachen gewiss nicht mitteilen, dass nun der einhundertzwanzigste Tag ihrer Bekanntschaft angebrochen sei, obwohl sie es gern täte. Am liebsten hätte sie der ganzen Welt verkündet: Seht her! Ich kenne diese wundervolle Frau seit einhundertzwanzig Tagen! Stattdessen würde sie es für sich behalten und die runde Zahl im Stillen feiern. Seit sieben Tagen waren sie nun hier und an jedem dieser sieben Tage hatte Isabel dem Moment entgegengefiebert, in dem sie endlich aufs Meer würde blicken können, aus nächster Nähe, nicht aus der Entfernung. Und wenn es dann endlich so weit war, starrte sie schweigend auf das Wasser, mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund. Johanna nahm es mit Belustigung zur Kenntnis. Immer lächelte sie...