Nössler Kleiner toter Vogel. Thriller
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-88769-880-5
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 100 Seiten
ISBN: 978-3-88769-880-5
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nach dem Tod ihrer Tante Helene muss Johanna in das kleine schwäbische Dorf fahren, in dem Helene lebte. Die dörfliche Idylle ist trügerisch. Johanna fühlt sich unwohl, will zurück nach Berlin. Zwei Tage später findet sie eine ermordete Frau auf der Terrasse. Wer hat die Frau getötet? Wie kommt sie ausgerechnet auf ihre Terrasse? Plötzlich geschehen weitere Morde in dem kleinen Nest und in Berlin. Johanna steckt mitten in einer Mordserie - Ist auch sie bedroht? Hochspannend.
Und ganz nebenbei erzählt die Autorin subtil und augenzwinkernd aus der Perspektive einer Großstädterin von den Eigenheiten eines typischen schwäbischen Dorfes und seinen Bewohner/innen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 3
Am Morgen war der Nebel verschwunden und mit ihm die Angst. Es war hell. Sehr hell für Ende Oktober. Johanna registrierte ihre Umgebung, wusste schnell, wo sie war. Sie tastete nach ihrer Armbanduhr auf dem Stuhl. Kurz vor zehn, schon so spät. Was sie am Abend nicht für möglich gehalten hatte, war eingetreten: Sie hatte lange und tief geschlafen. So gut wie schon seit Wochen nicht mehr. Ausgerechnet hier, in dem fremden Haus, in dem ihre Furcht gestern Abend noch so groß gewesen war, dass sie geglaubt hatte, sie könnte es darin keinen einzigen Tag aushalten. Wie von zu Hause gewohnt, blieb sie noch einen Moment im Bett liegen. Ein Augenblick der Besinnung, bevor das Bewusstsein vollständig erwachte. Eine Tasse Kaffee wäre jetzt schön, dachte sie, ans Bett gebracht. Sonnenschein fiel in das spartanisch eingerichtete Zimmer und das Gefühl der Bedrohung, das sie gestern empfunden hatte, erschien Johanna nun übertrieben, geradezu albern. Ihr gewohnter Tages- und Nachtrhythmus war durcheinandergeraten. Sie war zu früh schlafen gegangen und deswegen viel zu früh aufgewacht, mitten in der Nacht. Darüber hinaus hatte sie gestern zu wenig gegessen. Davon bekam sie fast immer schlechte Laune. Die Geräusche, die sie nachts zu hören geglaubt hatte, waren nichts weiter als Bestandteile eines Traums gewesen. Oder der auf Winter geschaltete Ölbrenner hatte sie verursacht. Genauso fremd wie das Haus waren Johanna auch seine Geräusche – jedes Haus hatte seine ganz eigenen – und sie war im Moment übersensibel. Wegen der fehlenden Lektoratsaufträge. Weil sie sich mit Ines vor ihrer Abreise nicht versöhnt hatte. Sollte sie Ines gleich anrufen? Doch es war ein Tag mitten in der Woche, ein ganz normaler Arbeitstag. Ines war längst im Architekturbüro oder auf der Baustelle ihres Projekts in Berlin-Mitte. Sie schätzte es nicht, wenn man sie bei der Arbeit störte. Am allerwenigsten mochte Ines schmachtende Liebesanrufe, wenn sie inmitten eines Haufens von Arbeitern auf einer Baustelle stand. Manchmal stellte Johanna sich Ines mit einem Bauarbeiterhelm auf dem Kopf vor, wie sie vor einem halb fertigen Haus wichtige Dinge erläuterte, einen großen Plan in den Händen, und dieses Bild war sogar ein wenig erregend. Oder Ines auf einem Baugerüst. Im Unterschied zu Johanna war sie vollkommen schwindelfrei, wie sie behauptete, was in ihrem Beruf von großem Vorteil war. Das kleine Zimmer lag nach vorne zur Straße und jetzt hörte Johanna auch Autos vorbeifahren. Autos. Nie hätte sie gedacht, dass sie ihr Vorhandensein einmal als so beruhigend empfinden könnte. Stimmen, direkt vor dem Haus, in dem fremden, weichen, in Johannas Ohren etwas lächerlichen Dialekt. Ob Helene auch schwäbisch gesprochen hatte? Johanna brauchte einen Kaffee, den sie ohne Milch würde trinken müssen, wie sie sich erinnerte. Und sie brauchte dringend etwas zu essen. Am liebsten ein üppiges Frühstück mit Brötchen, Brot, Wurst, Käse, Lachs, Rührei, Saft. Sie stand auf und ging in Schlafanzug und auf Socken über die knarrende Holztreppe nach unten. Jetzt im Hellen machte ihr das Haus keine Angst mehr. Es war harmlos, sogar freundlich, nicht Draculas Schloss, in das es Jonathan Harker verschlagen hatte. Johanna hoffte, dass es in Helenes Küche Kaffee gab, danach hatte sie am Abend nicht gesucht. Die meisten Küchen waren nach einem ganz ähnlichen Ordnungsmuster eingerichtet und sie fand, ohne lange suchen zu müssen, Kaffee und Filtertüten in einem Schrank über der Kaffeemaschine. Während die Maschine sich ächzend in Gang setzte, machte Johanna einen schnellen Rundgang durch das Erdgeschoss. Sollte sie jetzt sofort in den Keller gehen, es hinter sich bringen? Nein, entschied sie, nicht der Keller, bevor sie etwas gegessen hatte. Ende Oktober und trotzdem fror sie nicht in ihrem dünnen Schlafanzug. Mit schlechtem Gewissen bemerkte sie den Grund hierfür: Sie hatte am Abend vergessen, in den unteren Räumen die Ventile der Heizkörper zuzudrehen. Nun war es fast zu warm und sie öffnete im Wohnzimmer Vorhänge und Terrassentür. Sie sah sich um. Das leere Glas stand auf dem Couchtisch, die leere Rotweinflasche lag auf dem Teppich darunter. Johanna musste sie gestern Abend umgeworfen haben. Daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie brachte Glas und Flasche in die Küche, goss Kaffee in einen Becher und ging damit zurück ins Wohnzimmer. Wie jeden Morgen genoss sie den ersten Schluck. Bei den allerersten Schlucken Kaffee war die Welt meist noch gut, das Leben nicht schwer, die Liebe nicht unglücklich und dieses Gefühl der Sorglosigkeit hielt meist noch an, bis die Hälfte der Tasse geleert war. Im Schlafanzug und mit der Tasse in der Hand betrachtete Johanna erneut das Familienfoto, das die beiden Schwestern zusammen mit ihrer Mutter zeigte. Auch bei Tageslicht wirkte Helene, im Unterschied zu Johannas Mutter, traurig. Melancholisch. Beinahe so, als würde sie nicht zu den beiden anderen gehören oder nicht zu ihnen gehören wollen. Eine Außenseiterin mit schön geschwungenen Augenbrauen und einer Traurigkeit im Blick, über die auch das zaghafte, fast schüchterne Lächeln nicht hinwegtäuschen konnte. Die Anrufe vom Abend fielen Johanna wieder ein. Reiner Zufall, die beiden Anrufe direkt hintereinander, dachte sie. Vermutlich hatte sich jemand verwählt. Und wenn es Jugendliche gewesen waren, die unter tödlicher Langeweile litten, würden sie sich heute sicher einen anderen Zeitvertreib suchen. Jugendliche konnten nicht lange bei einer Sache bleiben. Johanna sollte sich nicht wegen dieser Anrufe verrückt machen, sondern ihre Aufgabe erledigen, um so schnell wie möglich damit fertig zu werden, damit sie wieder abreisen konnte. Der Sonnenschein und der Kaffee bereiteten ihr gute Laune. Sie sollte nicht so viel nachdenken. Auch nicht über das Gekrächze am Telefon, das mit Sicherheit sowieso nicht ihr gegolten hatte. Immer dachte Johanna Fink zu viel nach. Zumindest wurde das oft von ihr behauptet. Ines sagte es gern. Du grübelst zu viel. Johanna, das ist ungesund. Eines Tages wird es dich noch umbringen. Johanna hasste Bemerkungen dieser Art. Sie vermittelten den Eindruck, sie wäre ernstlich gestört. Außerdem, wie sollte Nachdenken wohl umbringen? Sie schaltete ihr Handy in der Hoffnung ein, darauf endlich eine Nachricht von Ines zu finden. Sie sehnte sich nach Ines. Nach einem Zeichen von ihr. Doch Johanna hoffte vergeblich. Keine Nachricht von Ines und auch von niemandem sonst. Vermisste Ines sie denn gar nicht? Aber wahrscheinlich war es etwas grundsätzlich anderes, allein in der Fremde zu sitzen oder zu Hause in gewohnter Umgebung. An einem gewöhnlichen Tag wie heute ging Ines ihrer Arbeit nach, war von Menschen umgeben, die sie kannte, hatte keinen Grund, sich einsam und verlassen zu fühlen, keine Zeit und keinen Anlass für trübe Gedanken. Johanna trat auf die Terrasse. Trotz der Sonne schlug ihr empfindlich kühle Herbstluft entgegen, die bereits den kommenden Winter erahnen ließ, und kroch unter die Hosenbeine ihres Schlafanzugs. Johanna sah vereinzelte Wolken, die schnell vorüberzogen. Der Herbsthimmel war von einem kühlen Hellblau und sehr hoch, schien viel weiter entfernt als ein Sommerhimmel. Der Garten war tatsächlich so groß, wie sie ihn gestern im Dunkeln eingeschätzt hatte. Gut gepflegt. Erneut fragte Johanna sich, ob Helene sich alleine darum gekümmert hatte. Sie wusste überhaupt nichts von ihrer Tante. Nicht, ob sie Gartenarbeit gemocht hatte, nicht, ob sie in der körperlichen Verfassung dafür gewesen war. Nicht, ob sie je mit einem anderen Menschen zusammengelebt hatte. Liebte nicht jeder Mensch einen anderen? Bis zu diesem Moment hatte Johanna nicht mehr an den toten Buchfinken gedacht. Doch jetzt fiel er ihr wieder ein, ebenso das übertriebene Entsetzen, das sein Anblick gestern Abend bei ihr ausgelöst hatte. Vorsichtig spähte sie zu der Stelle, an der er gelegen hatte. Der Buchfink war verschwunden. Hatte sie ihn vielleicht nur geträumt? Wie die Geräusche aus dem Erdgeschoss in der vergangenen Nacht? Nichts erinnerte daran, dass am Abend noch ein toter Vogel dort gelegen hatte, keine Federn, kein Blutfleck. Johanna ging im Garten umher, auf der Suche nach ihm. Das Gras war feucht und durchnässte rasch ihre Socken. Der Buchfink war nirgends zu sehen. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Johanna war sicher, dass sie sich den Vogel nicht nur eingebildet hatte. Sie hatte ihn gestern auf den Steinplatten der Terrasse gesehen. Er hatte zart und fragil gewirkt und sie hatte sich vorstellen müssen, wie winzig klein seine Knochen und sein Schädel unter den Federn und der Haut wären. Entweder hatte sie den Buchfinken nur im Traum gesehen oder ein Tier hatte ihn in der Nacht weggeschleppt. Johanna ging zurück ins Wohnzimmer und hinterließ feuchte Fußabdrücke auf dem Boden. Sie brauchte unbedingt etwas zu essen. Milch für den Kaffee. Sie musste sich anziehen und den Ort erkunden, von dem sie gestern vom Rücksitz des Taxis kaum etwas gesehen hatte. Nur deprimierende Tristesse im Nebel. Doch lohnte sich eine Erkundung überhaupt, wenn sie nur ein paar Tage bliebe? Johannas Mutter hatte ihr den Namen eines Maklers genannt, den sie wegen des Hauses kontaktieren solle. Wenn Ines nur hier wäre, sie könnte ihr mit dem Haus helfen, seinen Wert und seinen Zustand einschätzen, damit kannte sie sich schließlich aus. Wer erbte das Haus eigentlich? Warum hatte Johanna sich bislang nie dafür interessiert? Ihre Mutter hatte ihr darüber keine Auskunft gegeben. Neben den beiden Schwestern gab es noch zwei Brüder, von denen einer bereits vor Jahrzehnten verstorben war, kinderlos, keine Ehefrau. Der andere Bruder, Johannas Onkel Werner, hatte zwei Kinder, die Johanna das letzte Mal vor rund...