E-Book, Deutsch, 348 Seiten
Noack Der Zwillingsbruder
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95824-512-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 348 Seiten
ISBN: 978-3-95824-512-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Barbara Noack (1924-2022) schrieb mit ihren mitreißenden und humorvollen Bestsellern deutsche Unterhaltungsgeschichte. In einer Zeit, in der die Männer meist die Alleinverdiener waren, beschritt sie bereits ihren eigenen Weg als berufstätige und alleinerziehende Mutter. Diese Erfahrungen wie auch die Erlebnisse mit ihrem Sohn und dessen Freunden inspirierten sie zu vieler ihrer Geschichten. Ihr erster Roman »Fräulein Julies Traum vom Glück«, auch bekannt unter dem Titel »Die Zürcher Verlobung«, wurde zweimal verfilmt und besitzt noch heute Kultstatus. Auch die TV-Serien »Der Bastian« und »Drei sind einer zu viel«, deren Drehbücher Barbara Noack selbst verfasste, brachen in Deutschland alle Rekorde und verhalfen Horst Janson und Jutta Speidel zu großer Popularität. Barbara Noack veröffentlichte bei dotbooks ihre Romane »Brombeerzeit«, »Danziger Liebesgeschichte«, »Das kommt davon, wenn man verreist«, »Das Leuchten heller Sommernächte«, »Der Bastian«, »Der Duft von Sommer und Oliven«, »Der Traum eines Sommers«, »Der Zwillingsbruder«, »Die Melodie des Glücks«, »Drei sind einer zuviel«, »So muss es wohl im Paradies gewesen sein«, »Valentine heißt man nicht«, »Was halten Sie vom Mondschein?«, »Die Lichter von Berlin« und »Fräulein Julies Traum vom Glück«. Ebenfalls bei dotbooks veröffentlichte Barbara Noack ihre Romane »Eine Handvoll Glück« (auch erhältlich im eBundle »Schicksalstöchter - Aufbruch in eine neue Zeit«) und »Ein Stück vom Leben«, die auch ebenfalls im Doppelband »Schwestern der Hoffnung« erhältlich sind. Im Sammelband erschienen sind auch »Valentine heißt man nicht & Der Duft von Sommer und Oliven«. Die heiteren Kindheitserinnerungen »Flöhe hüten ist leichter«, »Eines Knaben Phantasie hat meistens schwarze Knie«, »Ferien sind schöner« und »Auf einmal sind sie keine Kinder mehr« sind außerdem im Sammelband »Als wir kleine Helden waren« erhältlich.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
In dem kleinen oberbayerischen Ort Kornfeld sprach man anfangs nur von Dagmar, dem armen Kind, so, als ob es ihr Familienname wäre: Dagmar Dasarmekind.
Eines Abends, Ende Juli 1943, war sie mit Fräulein Else Pillkahn aus dem von München kommenden Personenzug gestiegen – eine dünne, verstörte Zehnjährige im dunkelblauen Matrosenkleid mit großem Kragen, der ihr im Wind um die Ohren klappte. Ein Kleid voller Flecken, mit zerknittertem Faltenrock. Die Hacken ihrer Lackschuhe waren heruntergetreten wegen der Wunden an ihren Füßen, die Wadenstrümpfe zerrissen und blutbefleckt.
Frau Janson, Dagmars Mutter, hatte Wert darauf gelegt, daß ihre Zwillinge selbst im Kriegsjahr ’43 zu festlichen Gelegenheiten noch immer so gediegen teuer gekleidet waren wie die Schaufensterpuppen der »Hamburger Kinderstube«. Dank der Jansonschen Konditorei besaß sie Beziehungen zu Textilien ohne Kleiderkarte und zu so unnützen Lederwaren wie eben diesen drückenden Lackschuhen.
Ihretwegen und wegen dem verhaßten Matrosenkleid, in dem Dagmar so unbehaglich herumstand, als ob man sie in einen Pappkarton gezwängt hätte, und vor allem wegen dem Mädchengeburtstag, zu dem sie nicht hatte gehen wollen, war es zu einer dramatischen Szene gekommen.
Dagmar hatte protestkreischend und ohne Abschied ihre Mutter verlassen, auch noch türenknallend, daß es im ganzen Haus zu hören war – und die Reue darüber sollte noch lange ihr Gewissen belasten. Aber wie konnte sie denn ahnen, daß sie ihre Mutter nie wiedersehen würde?
Ihr Zwillingsbruder Dag, von Anfang an der Widerstandsfähigere von beiden gegen mütterliche Zumutungen modischer oder gesellschaftlicher Art, hatte sich weder durch Bitten noch angedrohte Prügel zur Teilnahme an diesem Kinderfest überreden lassen. Um ihn zu verprügeln, mußte Frau Janson ihn erst mal einfangen, und da lag ihr Problem: Dag war flink und wendig wie sein Terrier Jonny. Er dachte gar nicht daran, zu diesem Mädchenfest zu gehen.
Weil aber der Vater des Geburtstagskindes, das eingeladen hatte, ein gewisser Herr Krüger war, der die Jansonsche Konditorei unter der Hand mit Rosinen und Zitronat belieferte, mußte wenigstens ein Zwilling an der Festlichkeit teilnehmen, und da blieb nur Dagmar übrig.
***
Inge Janson hatte es nicht leicht mit ihrer Brut. Das war selbst den Zwillingen in einsichtigen Momenten bewußt. Im Grunde genommen hatte sie die falschen Kinder bekommen, und eins hätte ihr auch gereicht. Ihre Idealvorstellung wäre ein problemloses, fleißiges, folgsames Töchterchen gewesen, das sich niedlich anziehen ließ, sein Zimmer aufräumte, vor Erwachsenen freiwillig einen Knicks machte und äußerlich Inges entzückender Lieblingspuppe Lucie glich. Stattdessen hatte das Schicksal Inge Janson diese unbezähmbaren Teufel beschert.
Ihre Schwiegermutter hatte darauf bestanden, daß sie
Dag und Dagmar getauft wurden. Dag bedeutete »Tag« und war ein nordischer Königsname, und Dagmar hieß »berühmt wie der helle Tag«.
Helene, Paulinchen Struwwelpeter, Zappelphilipp, Max und Moritz hätten treffender zu dieser Brut gepaßt als »Tag« und »Berühmt-wie-der-helle-Tag«.
Nach jeder Auseinandersetzung mit den Zwillingen flüchtete sich Inge Janson zu dem nach einer Fotografie gemalten Ölbild ihres früh verstorbenen Mannes, das im Herrenzimmer hing, und klagte ihn an: »Oh, Kai- Uwe!«, wobei sie die Fingerspitzen leidend gegen ihre Schläfen drückte. »Wie konntest du mich mit diesen beiden alleine lassen! Schließlich sind es ja auch deine Kinder!«
Und also sah Dagmar an jenem Sonnabend ihre Mutter zum letzten Mal: hochgesteckte, aschblonde Haare über gepunktetem Seidenkleid mit gepolsterten Schultern und Lackgürtel, schlanke Beine in Hauchstrümpfen mit leicht verrutschten Nähten auf sehr hohen Absätzen, eingehüllt in eine Duftwolke von Chanel Nr. 5. So stand sie anklagend vor dem Bild des Vaters, an den sich die Zwillinge nicht mehr erinnern konnten.
***
Das Hausmädchen Heike – als Geschäftsfrau und zweifacher Mutter stand Inge Janson eins zu – brachte Dagmar und eine als Präsent gedachte Buttercremetorte mit dem Vorortzug nach Hochkamp, wo Krügers wohnten. Sie versprach, Dagmar um sieben Uhr abzuholen.
Es wurde genauso, wie die Zwillinge befürchtet hatten: lauter Mädchen auf diesem Geburtstag, zehn Stück im ganzen. Kein Völkerball, keine Ringkämpfe, nicht mal Topfschlagen, dafür »Hänschen, sag mal piep«, »Drei Fragen hinter der Tür« und das vogelige Spiel »Meine Puppe ist verschwunden«. Zum Abendbrot gab es Eibrötchen und Arme Ritter, das ging ja noch.
Kurz vor sieben kamen die ersten Mütter, um ihre Töchter abzuholen. Diejenigen Kinder, die in der Nachbarschaft wohnten, gingen allein nach Haus.
Schließlich war nur noch Dagmar übrig, auf dem Gartentor balancierend, voll Ungeduld und steigendem Zorn: Nun komm schon, komm, verdammtnochmal! Aber Heike ließ sich nicht herbeifluchen.
»Darf ich mal zu Hause anrufen, Frau Krüger?«
Dag war am Apparat: »Wo steckst du denn?«
»Noch immer in Hochkamp. Warum kommt Heike nicht? Ich will nach Hause!«
»Versteh ich nich«, sagte Dag. »Um sechs ist sie los!« »Dann müßte sie längst hier sein! Der erzähl ich aber was!«
Heike war an sich ein zuverlässiges Mädchen, doch, ja. Aber sobald ihr ein Landser auf den Hintern klatschte, fiel ihr Pflichtbewußtsein vorne herunter und aus war’s. Kein Verlaß mehr auf Heike. Wer weiß, wo sie diesmal der Klatscher ereilt hatte, oder was sonst sie daran hindern mochte, Dagmar abzuholen. Sie würde es nie erfahren, denn Dagmar sah auch Heike nicht wieder. »Wie war’s denn so?« erkundigte sich Dag am Telefon. »Naja – erzähl ich dir alles später. Ich kann hier nicht so reden. – Und was hast du gemacht?«
»Ich war bei Erwin in der Werkstatt. Wir haben uns Holzschwerter gesägt.«
»So’n Schiet«, ärgerte sich Dagmar. »Hätte ich auch gerne gemacht. Habt ihr eins für mich mitgesägt?«
»Ging nich. Sein Vater kam früher zurück, als wir gedacht haben. – Also denn tschüs, bis nachher –«
»Dag! Hallo! Bist du noch dran?« Sie mochte noch nicht den Kontakt mit seiner Stimme aufgeben, nachdem sie nun schon mehrere Stunden von ihm getrennt war, was selten vorkam. Dagmar hatte bereits Heimweh nach Dag zwischen diesen fremden Krügers.
»Was macht Jonny?«
»Er liegt aufem Sofa im Herrenzimmer.«
»Wenn das Mama wüßte.«
»Na und?« sagte Dag. »Du tust gerade so, als ob das was Neues wäre. Er liegt doch immer da, wenn Mama im Geschäft ist. – Ich geh jetzt noch mal mit ihm runter.« »Dag?«
»Jadoch –«
»Häng noch nicht ein.«
»Ich bin aber mit Hans verabredet.«
»Was soll ich machen, wenn Heike nicht mehr kommt? Soll ich allein fahren? Holst du mich am Bahnhof ab?« »Klar, mach ich. Aber ich warte lieber noch, bis Mama kommt. Sie muß ja gleich da sein. Oder ich lege ihr ’nen Zettel hin. Tschüs denn, bis nachher.«
»Tschüs. Bis nachher, Dag.«
Es war das letzte Mal, daß sie mit ihm geredet hatte. Sie wiederholte sich später immer wieder dieses Gespräch, um seine Stimme nicht aus ihrem Ohr zu verlieren. Man sagte, sie hätten dieselben, für zehnjährige Kinder ungewöhnlich tiefen, rauhen Stimmen, aber im eigenen Ohr klang die eigene Stimme eben anders als für Zuhörer. Klang nicht, wie Dag geklungen hatte.
Aus der Küche rief Frau Krüger munter: »Wenn du aufgehört hast zu telefonieren, darfst du uns beim Abtrocknen helfen, kleine Dagmar.«
***
Kleine Dagmar polierte gerade an einem Glas herum, als das Telefon läutete. Sie wußte sofort, das ist Mama, und folgte Frau Krüger zum Apparat, der auf einem Chippendale-Tischchen mit Häkeldecke im Flur stand. »Ach, Frau Janson«, sie setzte ein wohlwollendes Lächeln auf, »Ihr Töchterchen –«, wurde überschwemmt von einer hell und erregt sprudelnden Sopranfontäne, »aber – aber ich bitte Sie, Frau Janson aber nein, wieso ist Ihnen das – aber das macht doch nichts – nein, Sie brauchen wirklich nicht mehr zu kommen. Beruhigen Sie sich doch, Frau Janson. Ihr Töchterchen kann gerne bei uns bleiben. Die Mädels haben immer soviel Spaß, wenn sie zusammen schlafen dürfen – au, nun laß doch, Kind«, Frau Krüger wehrte Dagmars Angriffe auf den Telefonhörer mit dem Ellbogen ab, »und morgen ist Sonntag. Da können sie schön ausschlafen. Glauben Sie mir, Ihr Töchterchen ist bei uns bestens aufgehoben, Frau Janson.«
***
Dagmar fand es überhaupt nicht spaßig, in Elke Krügers Kinderzimmer auf dem Sofa übernachten zu müssen – in einem rosa Hemd mit Rüschen. Sie war an Pyjamas gewöhnt und fühlte sich bedrängt von der hochgerutschten Stoffwurst über ihren Knien. Und schlimmer noch die Kleine-Mädchen-Gespräche vorm Einschlafen von Bett zu Bett.
Dagmar wollte nicht zu den Mädchen gehören. Sie empfand sich nicht als Mädchen, höchstens als weiblichen Zwilling von Dag, was ihrer Meinung nach nicht dasselbe war.
Sie hatte auch kein Verlangen nach einer Freundin. Mädchen waren Notlösungen, auf die sie Gottseidank noch nie hatte zurückgreifen müssen.
So gegen halb ein Uhr nachts heulten Sirenen in ihren Schlaf. Dagmar fuhr hoch und wußte nicht, wo sie war. In der Tür stand eine Frau in einem gegen das Flurlicht durchsichtigen Hemd mit Puffärmeln, mit zwei Lockenwicklern wie Hörnern über ihrer Stirn – achja, das war Frau Krüger.
Sie klatschte in die Hände: »Aufstehn, ihr lütten Schlafmützen! Wir haben Fliegeralarm –« auf drei Tönen gesungen. »Zieht euch was über und denn marschmarsch in den Keller.«
Da Krügers ein Einfamilienhaus bewohnten, war ihr Keller bedeutend wohnlicher...




