Némirovsky Zu zweit
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-14724-2
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-14724-2
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit „Zu zweit“, Irène Némirovskys großem Roman über die Anatomie einer Ehe, wird die deutschsprachige Edition ihrer Werke abgeschlossen. Wie in „Suite française“ zeigt sich die Autorin auf der Höhe ihres schriftstellerischen Könnens. Mit scharfem Blick und emotionaler Klarsicht untersucht sie den schwierigen Übergang einer rauschhaften Liebe in erfüllten Ehealltag und erforscht die Bande, die zwei Menschen über die Jahre zusammenhalten.
Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als „Suite française“ veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.
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2
Die alten Carmontels hatten ihre Kinder um sich versammelt: Pascal und seine Frau, Gilbert, und der Jüngste, Antoine.
Der Ostersonntag ging zu Ende. Man hatte gegessen; es war ein gutes Essen gewesen, wenn auch ein wenig schwer, mit ausgezeichneten Weinen.
Die Familie befand sich im roten Salon, hinter geschlossenen Fenstern, zum Schutz vor dem eiskalten Frühling.
Vater und Mutter saßen einander gegenüber, die Söhne bildeten einen lockeren Kreis um sie. Kleine, rosafarbene Kekse, mit Zucker bestreut, waren serviert worden; die Carmontels tranken ihren koffeinfreien Kaffee, für die Kinder war Filterkaffee zubereitet worden, der aber auch ein wenig schwach war.
Die Eltern hörten zu, blickten umher, sprachen wenig.
›Sie haben nichts mehr zu sagen‹, dachten die Kinder, ›nichts auf der Welt interessiert sie mehr. Von uns erwarten sie, daß wir ihnen angenehme Dinge erzählen, die sie anregen, nicht erschrecken. Woran denken sie nur den ganzen Tag? Was ist das Alter anderes als ein vorweggenommenes Sterben?‹
Die Carmontels gingen selten aus. Sie klagten über ein schwaches Herz, Erstickungsanfälle, tausend Wehwehchen; Monsieur Carmontel war ein trauriger und in sich gekehrter Mann, der sich zu seinen Büchern flüchtete. Schon lange hatte er aufgehört zu arbeiten: Die alte Firma Carmontel und Söhne gehörte der Familie nicht mehr.
Die beiden ältesten, Pascal und Gilbert, waren Advokaten. Antoine, dessen Studium vom Krieg unterbrochen worden war, hatte sich noch für keine Laufbahn entschieden. Die Carmontels waren von alter und wohlhabender bürgerlicher Herkunft und lebten auf großem Fuß. Keines der Kinder wohnte mehr in der großen, düsteren Wohnung am Boulevard Malesherbes. Wie Fremde betraten sie den riesigen, erdrückenden altertümlichen Saal, in dem es keine Blumen gab. Jeder von ihnen bemühte sich, herzlich und wohlmeinend zu sein und soviel Kindesliebe wie möglich an den Tag zu legen, die älteren, um ihrer Mutter zu gefallen, und Antoine, der nie ein mütterlicher Liebling gewesen war, um ein Lächeln auf die feinen, welken Züge, den großen, traurigen Mund seines Vaters zu zaubern.
Die Eltern waren miteinander nicht glücklich gewesen, aber jetzt waren sie alt, und es hatte sich zwischen ihnen ein unsichtbares Band der Freundschaft gebildet; sie hatten sich vereint gegen gemeinsame Feinde: die häuslichen Sorgen, die Undankbarkeit der Kinder, die Angst vor dem Tod. In gewissen Momenten war ihnen deutlich bewußt, daß es trotz der Stürme der Vergangenheit diese Einheit gab gegen alles, was ihre Ruhe bedrohte, diesen teuer erworbenen Frieden des Alters.
Sie betrachteten die Kinder. Antoine, der kam und ging und nicht dazu in der Lage war, seinen Körper einen Augenblick lang stillzuhalten. Gilbert, schweigsam, über quälende Fragen brütend, die sie nicht kannten, niemals kennen würden. Pascal, in Anspruch genommen von seiner Familie, seinen Kindern, seiner Karriere, seinen Geliebten, tausend Sorgen. Sie freuten sich, sie zu sehen. Sie lebten nur noch für diese Abende, an denen sie sie um sich versammelten. Sie wünschten sich, daß die Kinder kamen, dachten ständig an sie, aber kaum waren sie da, wurden sie von Unruhe ergriffen. Wie würde sich Pascal aus der Affäre Brun retten? … Er erklärte die Dinge nie klar, ausführlich. Immer diese unselige Ungeduld der Jugend, diese Hast … Und Gilbert? … Er war verliebt, das war deutlich sichtbar. In wen? … Antoine hatte eine Geliebte, diese Nicole Delaney, eine geschiedene Frau, älter als er. Würde er sie heiraten? Wann würde er sich für einen Beruf entscheiden? Man war niemals ruhig mit den Kindern! Doch wozu sollte man sie fragen, Dinge zu erfahren suchen, ohne Unterlaß diese alten Herzen quälen, die schon so lange gepocht hatten, die müde waren? Sie zogen es vor, nichts zu erfahren. Diesem turbulenten Leben setzten sie ihr Schweigen entgegen, ein scheinbares Unverständnis, hinter dem sich eine geheime Bitte verbarg: Laßt uns in Ruhe! Ihr habt uns genug gepeinigt. Wir sind müde … Laßt uns in Ruhe, ihr armen Kinder! … Pascals Schulden, die zwei Jahre, die Gilbert, von Tuberkulose bedroht, in der Schweiz hatte verbringen müssen, der undisziplinierte Charakter Antoines, all das war Vergangenheit … Ihr eigenes Leben, das so schwierig gewesen war, die ehelichen Unstimmigkeiten, die Krankheiten und vor allem der Krieg, die drei Söhne an der Front, zwei von ihnen verwundet … Aber schließlich waren sie alle hier, Gott sei Dank, und alle lebten … Sie, die Eltern, fanden, daß sie ihre Ruhe durchaus verdient hätten.
Die Kaffeetasse in der Hand, sagte Berthe Carmontel:
»Ihr dürft gern eine Zigarette rauchen …«
Doch sie fürchtete sich vor dem Rauch; unruhig folgte sie ihm mit dem Blick. Auf einem kleinen Tisch neben ihr lagen ihr geschlossener Fächer, Arzneien, Pillen, ein Antimigränestift. Sie nahm den Fächer und begann, ohne ihn zu öffnen, mit abgehackten Bewegungen ihrer langen, mageren Arme den Rauch vor ihr zu zerteilen. Ihr gefurchtes Gesicht, ihr bleifarbener Teint zeigten, wie sehr die Zeit ihrem Organismus zugesetzt hatte, doch ihr Körper war stark, die Knochen hart und robust. Seit sechsundzwanzig Jahren, seit Antoines Geburt, hielt sie den Tod in Schach. Sie war nie schön gewesen, sie war schwerfällig und ohne Anmut, doch ihr Gesicht war vom Feuer des Lebens und der Leidenschaft erhellt worden. Noch heute zuckte die alte Flamme gelegentlich auf, wenn sie munter wurde. Aber nicht heute abend … Heute abend war sie griesgrämig und gedrückt. Ihre Lippen waren blaß und gespannt, kaum sichtbar; ihre Züge wirkten wie entfärbt. Nur die schwarzen Augen waren immer noch schön und blickten durchdringend. Ihr Ehemann nahm als erster ihre Ängstlichkeit wahr und wandte sich müde und resigniert an seine Söhne, um ihnen auf fast unmerkliche Weise ein Zeichen zu geben, das sie, da sie seit langem gelernt hatten, darauf zu achten, sofort wahrnahmen. Sie drückten ihre Zigaretten aus. Madame Carmontel fragte mit gespieltem Erstaunen:
»Ihr raucht nicht weiter? Habt ihr Angst, Raymonde unangenehm zu sein?«
Sie wollte nicht, daß man Mitleid mit ihr hatte, daß man ihr ihre Schmerzen in Erinnerung rief, sie wollte nicht an den Tod denken.
Raymonde, Pascals Frau, ein hübsches und kräftiges Geschöpf mit weißer Haut und sehr dunklem Haar, das über ihrer Stirn und an den Schläfen eine fünffache Welle bildete, mit schweren, muskulösen Armen, stand am Anfang ihrer dritten Mutterschaft. Sie lächelte verächtlich und senkte, ohne zu antworten, die Augen auf das Kinderjäckchen, das sie strickte.
Gilbert lag in einem großen, mit rotem Damast bezogenen Sessel. Wie er es oft tat, legte er die Fingerspitzen an die Lippen und gab mit kalter und schneidender Stimme (alle Carmontels hatten diese Stimme, sie war ein Erbteil ihrer Mutter) Pascal Antwort, der ihn zu einem strittigen Punkt im Prozeß Lucain gegen Bourges befragt hatte. Jeder von ihnen beurteilte den anderen mit fast manischer Gewissenhaftigkeit, doch ihre Urteile waren vom Zufall bestimmt und hatten keinen wirklichen Wert: Wenn man die seelischen Qualitäten eines Bruders anerkennt, ehrt man damit sich selbst, das eigene Blut, den Stamm, dem man entsprang, während der Vorwurf der mangelnden Intelligenz nur das Individuum betrifft.
Zuweilen wunderte sich Gilbert über seine eigenen Worte und den scharfen Ton seiner Äußerungen. Wieviel Besorgnis, wieviel Wissen verschwendete er an einen Gegenstand, der so unwichtig für ihn war! Doch nichts auf der Welt war wichtig … außer Solange …
Er kannte sie seit seiner Kindheit; er hatte sie immer geliebt. Sie hatte sich geweigert, seine Frau zu werden, doch eines Abends, als Dominique mit einer anderen zusammen war, hatte sie sich ihm hingegeben. Danach hatte sie in seinen Armen geweint. Sonderbare Mädchen. Wenn man das Pech hatte, mit einer von ihnen zu schlafen, war nicht nur die physische Leidenschaft lebhafter als beim Verkehr mit gleich welcher Frau, man ließ sich auch dazu verleiten, sich an sie zu binden. Wenigstens bei ihm war es so. Jene beiden Jahre in der Schweiz, zwischen seinem fünfzehnten und dem siebzehnten Lebensjahr, die Krankheit, die Einsamkeit, die Stunden der Betrachtung und der Stille während der Kur, all das hatte sich auf sein Herz, seine Nerven ausgewirkt. Antoine hatte es gut. Ob mit Nicole Delaney, Marianne Segré oder irgendeiner anderen, er suchte nur sein Vergnügen, und wenn er es gefunden hatte, war er klug genug, nichts darüber hinaus zu verlangen. Fast haßerfüllt betrachtete er Antoine: Die beiden Brüder waren immer Gegner gewesen. Wo war Solange heute abend? … Er beugte sich zur Lampe, rückte lange den Schirm zurecht und legte dann die Hand vor seine Augen, wie um sie vor einem allzu hellen Licht zu schützen.
»Die Deutschen würden gern ihre Produkte bei uns einführen«, sagte Albert Carmontel, »sie würden gern ihre Sachen verkaufen und so ihre ganzen Schulden loswerden …«
Antoine stimmte eifrig zu. Von dem vorangegangenen Gespräch hatte er kein Wort mitbekommen, doch er liebte seinen Vater sehr. Hier änderte sich nie etwas; die Luft war weich, ein wenig stickig; die Familie verbreitete eine besondere Art der Langeweile, entnervend, doch nicht ohne Charme.
»Die Ausländer werden kommen und über uns herrschen, die Mittelsmänner, die Hamsterer«, sagte Pascal, der sich nun mit Nachdruck einmischte, wie er es gern tat.
Antoine stand auf und entfernte sich, um sich auf das kleine Plüschsofa zu setzen, wo er auch schon als Kind, verborgen vor den Blicken der anderen, gesessen hatte, um Onkel Toms Hütte zu lesen; er hatte den Kopf zur Wand gedreht, damit man...