Némirovsky | Pariser Symphonie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Némirovsky Pariser Symphonie

Erzählungen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19218-1
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-19218-1
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bewegende Erzählungen über die Macht des Schicksals
Eine geheimnisvolle Prophezeiung schickt den jungen Russen Sascha auf die lebenslange Suche nach seiner großen Liebe. Aline steht vor der gleichen folgenschweren Entscheidung, die ihre Mutter Jahre zuvor zu treffen hatte. Hélène wird von den Geistern der Vergangenheit verfolgt - und tut alles, um sie abzuschütteln. Auf kleinstem Raum entwirft Irène Némirovsky das präzise Porträt einer langen, in den Mühen des Alltags erstarrten Ehe, einer zerbrechlichen ersten Liebe oder einer tiefen Freundschaft, die das Leben prägt. Ihre Erzählungen sind packende psychologische Studien und ein mitreißendes Leseerlebnis.

Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman 'David Golder', der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als 'Suite française' veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.
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DIE GEISTER

Die Zeit macht uns hart; sie lässt uns in einer Haltung erstarren, die zunächst vielleicht nur die Folge eines Zufalls war und keinesfalls einer Wahl oder einer zwingenden inneren Notwendigkeit entsprang. Wenn meine Söhne mich allein lassen, sagen sie: «Maman langweilt sich nie.» – «Maman? Gebt ihr ihr Strickzeug, einen Sessel am Kamin und ein paar Rechnungen, die sie prüfen kann – damit ist sie völlig zufrieden …»

Als sie klein waren und der höllische Krach, den sie machten, erst abends aufhörte, war dieser Teil des Tages wirklich schön. Georges, mein Mann, schlief über einem Buch ein; im Zimmer meiner vier ältesten (ich nannte es den «Löwenkäfig») hörte man noch ihr ersticktes Gelächter, das Geräusch ihrer bloßen Füße auf dem Fußboden. Die Zwillinge tranken sich mit Milch satt und waren endlich still, und ich … ich dachte seufzend: «Ach, wie friedlich wird es sein zwischen dem Nähkorb voller löchriger Socken und dem Rechnungsbuch der Wäscherin! Wie froh werde ich sein, mein Gott!» Still und friedlich, ja. Aber zufrieden? Heute flieht mich selbst der Frieden. Es ist die Stunde der Reue. Wenn Georges wenigstens … Aber er ist nur noch mit seiner Magenkrankheit beschäftigt; der Arme ist immer von zarter Gesundheit gewesen. Ich erinnere mich, wie er am Tag unserer Heirat (ich trug noch das Hochzeitskleid) Maman um eine Wärmflasche bat und sie sich mit einem schwachen, gezwungenen Lächeln auf den Bauch legte. Jetzt seufzt er also und schweigt, und ich stricke, und unsere Söhne werfen – wenn sie daran denken – diesem lebenden Bild einen gerührten Blick zu und werden später zu ihren Kindern sagen: «Papa und Maman waren so glücklich miteinander. Sie haben sich nie gestritten.» Nein, nie. Und sie hatten sechs Kinder, sechs hübsche Jungen, die alle groß wurden. Es gibt Existenzen, die, wenn sie zu Ende gehen, einem den Geschmack von kaltem Kalbfleisch im Mund hinterlassen, nahrhaft, weiß und fade. Ich glaube, das wird es sein, was ich empfinden werde, wenn ich sterbe.

Wir wohnen in der Rue de Rome. Als wir heirateten, war klar, dass wir so bald wie möglich dieses rußgeschwärzte Haus verlassen würden, das vom Keller bis zum Dach zu zittern begann, wenn Züge vorbeifuhren, unter den schrillen Pfiffen vom Gare Saint-Lazare erbebte und umhüllt war vom Rauch der Lokomotiven. Aber wir hatten immer weniger Geld und immer mehr Kinder, und jetzt haben wir hier unsere Gewohnheiten, und es gibt eine Metro ganz in der Nähe, die Georges ins Büro und die Zwillinge ins Gymnasium bringt … Außerdem gibt es keinen bestimmten Ort in Paris, an dem ich gern wohnen würde. Ich brauche eine ländliche Umgebung, ich brauche Monjeu, aber das heutige Monjeu ist auch heruntergekommen, verfallen, nachdem unser alter Pächter, Simons Vater, es gekauft hat, es würde mir nicht gefallen. Es ist das Monjeu von früher, das ich im Herzen trage. Doch das ist verschwunden. Ich bin Madame Georges Dufour, ich bin vierundvierzig Jahre alt. Mich haben die Geister noch nie heimgesucht.

Die Geister? Als ich klein war, hatten wir einen alten Gärtner, der uns – meiner Schwester und mir – erzählte, dass die Toten nach Monjeu zurückkehrten. Wir waren schwer zu überzeugen und machten uns über ihn lustig. Doch es beeindruckte mich, dass der gute Mann unbeirrbar sagte: «Sie waren traurig, und sie weinten.» Warum? Ich stellte sie mir immer glücklich vor, die Toten, da sie ja zu ewiger Jugend zurückgefunden hatten, im Jenseits mit denen vereint waren, die sie auf Erden geliebt hatten, und ihre Freude mit ihnen teilten. In Monjeu sah man vom oberen Zimmer aus, das mein Cousin Marc bewohnte, den alten Friedhof, wo die Toten der Choleraepidemie von 1830 begraben waren. Marc hatte sich dieses Zimmer ausgesucht. Ich weiß noch, dass die Dienstboten Angst davor hatten. Nie kam jemand dort oben hin, wenn es dunkel war. Wir wurden nie von ihnen gestört. Nie hat jemand irgendetwas entdeckt … Aber der alte Gärtner, von dem ich sprach, schüttelte den Kopf: «Sie kommen zu Monsieur Marc», sagte er von den Toten. «Er hat diese Gabe.» Wie wir uns über ihn lustig gemacht haben, mein Gott, wie unmäßig wir über ihn lachten …

Monjeu … Während ich älter wurde, wurden die Ländereien immer weiter aufgeteilt; ein Grundstück nach dem anderen fiel in die Hände von Pächtern oder reich gewordenen Viehhändlern. Wie ich das Land liebte, das Schloss, die Terrasse, den Obstgarten … Die Pflaumen von Monjeu. Riesengroß, durchscheinend, gelb wie Bernstein, und dieser süße Saft, der uns über die Hände lief … Meine Schwester sagte übrigens erst kürzlich zu mir: «Ach, du hast ja aus Monjeu eine Legende gemacht. Es war ein großes, kaltes, ungemütliches Haus, und im Winter kamen wir vor Langeweile um. Außer dir, nicht wahr …» Lächeln. Unausgesprochen: «… Du, du hattest Marc in den Ferien, und in der restlichen Zeit hast du auf ihn gewartet.» Ich zuckte die Achseln, gab mich gleichgültig, ein wenig melancholisch (es ist unglaublich, wie heuchlerisch sich Schwestern zueinander verhalten können und wie unnötig das ist), und sagte: «Der arme Marc … Das ist ja schon so furchtbar lange her …» Morgen vor vierundzwanzig Jahren ist er gestorben.

Ein großes, kaltes, ungemütliches Haus … Zwei Jahre nach unserer Hochzeit habe ich es wiedergesehen. Ich hatte solches Heimweh, dass selbst Georges es bemerkte. Die Fahrt dorthin war schon nicht einfach: Wir hatten Gaston, und ich war mit Robert schwanger. Aber mein Mann hat dieses Opfer gebracht. Wir nahmen acht Tage Urlaub. Armes Monjeu … Auf der Terrasse und unter der Kastanie, die im Frühjahr diese herrlichen hellroten Blüten bekam, hing Wäsche. Glasscherben und zerbrochene Töpfe auf den Wegen. Eine Schafherde zog unter dem kleinen Säulentor hindurch. Es regnete; vom Teich stieg ein widerlicher Geruch auf, weil er seit unserem Auszug nicht gereinigt worden war. Die Simons hatten Monjeu schon haben wollen, als es noch nicht zum Verkauf stand; sie hatten geduldig unseren Bankrott abgewartet, doch trotz allem hatten sie sich mit dem Kauf übernommen; sie waren verschuldet und kamen nicht mehr auf die Beine. Monjeu zog sie – wie zuvor uns – ganz langsam auf den Grund hinab.

Am Anfang, als Gaston und Robert noch klein waren, habe ich versucht, ihnen von Monjeu zu erzählen, aber es interessierte sie nicht, es ging ihnen sogar ein wenig auf die Nerven; vielleicht ahmten sie unbewusst die Haltung ihres Vaters nach («Ach! Hélène will wieder mal aufs Land … wenn ich an das Haus denke, dieses Rattenloch», sagte er). Ich frage mich manchmal, ob es nicht auch eine Spur von Neid war … Aber nein, das kann nicht sein.

Nach Gaston und Robert wurden noch zwei Jungen geboren, Didier und Henri, im Abstand von kaum zehn Monaten, und Henri konnte noch nicht laufen, als ich die Zwillinge bekam. Ich war vorzeitig alt geworden und doch stolz auf den «Kranz meiner Söhne», wie ich sie nannte. Diese Kinder, hübsch und kräftig, waren der einzige Schmuck, den ich mir erlauben konnte. Donnerstags, wenn ich in der Rue de Rome oder im Park von Batignolles mit ihnen spazieren ging, lächelten die Frauen und sagten: «Was für hübsche Jungen! Wie gesund sie sind …», und ich ahnte, dass sie sich vorstellten, mit wie viel Sorge und Liebe einen diese Kinder erfüllten, wie viel Zeit und Geld sie kosteten; all diese kleinen Körper, die zu nähren und zu kleiden waren, diese Gehirne, die man bilden und belehren musste. (Und viele dachten: «Ich gönne es ihr! Aber für mich wäre das bestimmt nichts!») Egal! Es war das, was ich gewollt hatte. Nach Marcs Tod habe ich den ersten heiratsfähigen Mann genommen (kaum heiratsfähig, dieser Georges Dufour, der kleine Angestellte, den meine Eltern verachteten), weil ich glaubte, dass das Mutterglück die Liebe vergessen machen könnte. Es stimmt ja auch: Wenn man sich um die Kinder kümmert, wenn sie da sind, man sie in den Armen hält, sie an einem hängen, weinend, lachend, streitend, und sie alles von einem verlangen, hat man eindeutig keine Zeit mehr zum Nachdenken. Nachts werden selbst die Träume friedlich und unschuldig, wenn eine Wiege neben einem steht.

Nach der Geburt des dritten kam der Name Monjeu nicht mehr über meine Lippen. Deshalb fand ich es ja so eigenartig, was nachher passierte. Aber ich muss zuerst unsere Wohnung beschreiben. Was sie so klein und bedrückend macht, was auch daran schuld ist, dass der Haushalt mir trotz aller Mühe, die ich mir damit gebe, immer wieder über den Kopf wächst, ist der Umstand, dass meine Schwester und ich nach dem Verkauf von Monjeu die verbliebenen Möbel unter uns aufteilten. Georges hat die Auflösung des Hausstands immer abgelehnt, weil er meinte, dass die Möbel in dem schlechten Zustand, in dem sie sich befanden, kaum die Hälfte ihres Wertes abwerfen würden und dass es besser sei, sie zu behalten und sie eines Tages restaurieren zu lassen. Alle armen Familien kennen diesen Ausdruck: «Eines Tages», dieser zwangsläufig irgendwann einmal kommende Tag, an dem man wunderbarerweise genug Geld haben würde, um das Badezimmer streichen zu lassen, neue Teppiche zu kaufen, eine Reise zu machen … In der Zwischenzeit wurde ein Zimmer geopfert, in dem das alte Kanapee, die großen Sessel des Salons, der Toilettentisch und die Kommode aus meinem alten Mädchenzimmer lagerten. Einmal in der Woche räumte ich dort gründlich auf; den Rest der Zeit blieben die Läden geschlossen; Säckchen mit Mottenkugeln wurden in die Schonbezüge eingenäht; niemand wohnte in diesem Zimmer. Wie ich machten auch die Kinder einen Bogen um...


Némirovsky, Irène
Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als „Suite française“ veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.

Röckel, Susanne
Susanne Röckel wurde 1953 in Darmstadt geboren. Sie arbeitete als literarische Übersetzerin und Sprachlehrerin, 1997-98 auch in China. Susanne Röckel lebt in München. Ihre Texte wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Tukan-Preis und dem Franz-Hessel-Preis. Ihr Roman »Der Vogelgott« stand 2018 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Kegel, Sandra
Sandra Kegel studierte in Aix-en-Provence, Wien und Frankfurt am Main Literaturwissenschaft sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Seit 1999 ist sie Redakteurin im Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», das sie seit 2019 leitet. Sie gehört zum Kritikerquartett der 3sat-Literatursendung «Buchzeit», ist Mitglied verschiedenster Buchjurys und zählt zu den profiliertesten Literaturkennerinnen unserer Gegenwart.



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