Némirovsky Feuer im Herbst
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14727-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-641-14727-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie durch ein Brennglas folgt der Blick Irène Némirovskys den Liebenden Thérèse und Bernard durch die kriegsversehrte Welt des 20. Jahrhunderts. Mit ihrem Roman „Feuer im Herbst“ erweist sich die Autorin erneut als unbestechliche Beobachterin einer Hölle, die den Menschen ihre Gefühle raubt und ihre Wurzeln durchtrennt. Allein die Liebe hat eine Chance, die Verlorenen zu retten.
Sommer 1914. Noch liegt malvenfarbene Luft über Paris, noch flanieren die Kleinbürger sonntags über die Champs-Elysées und genießen ihr kleines Glück. Martial wird bald Arzt sein und seine Cousine Thérèse heiraten. Die Zukunft ist geordnet. Doch ein Frösteln, eine zittrige Erregung erfasst die Menschen. Ein Wort aus ferner Zeit taucht auf und weckt Heldenträume in jungen, abenteuerlustigen Männern – Krieg. Das Grauen zerstört schnell alle Illusionen. Thérèse wird Witwe, und von der Front kehren gebrochene Männer heim. So auch Bernard, Thérèses Kamerad aus Kindertagen. Mit wildem Lebenshunger will er die Kriegsgräuel vergessen machen, will Wiedergutmachung für das Erlittene. Er will Frauen, Geld, rauschhaften Genuss. Thérèse verliebt sich in Bernard. Als er abzustürzen droht, fängt sie ihn auf. Sie ahnt nicht, welchen Preis sie für ihren Traum bezahlen muss.
Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als „Suite française“ veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.
Weitere Infos & Material
1
Auf dem Tisch stand ein Strauß frischer Veilchen – ein gelber Krug mit einem Ausguß in Form eines Entenschnabels, der sich mit einem kurzen Klacken öffnete, um das Wasser abfließen zu lassen – und ein Salzstreuer aus rosa Glas, der die Inschrift trug: «Erinnerung an die Weltausstellung. 1900». (Innerhalb von zwölf Jahren waren die Buchstaben verblaßt und fast nicht mehr zu sehen.) Außerdem gab es ein riesiges goldfarbenes Brot, Wein und das Hauptgericht – ein wunderbares Kalbsragout, jedes zarte Stück schamhaft unter der cremigen Soße versteckt, duftende frische Champignons und helle Kartoffeln. Keine Vorspeise, nichts, was den Gaumen kitzelt: Nahrung ist etwas Ernstes. Bei den Bruns begann man sofort mit dem Hauptgericht; zwar wurden auch Braten nicht verschmäht, deren Zubereitung wegen ihrer einfachen, strengen Regeln mit der klassischen Kunst verwandt ist, doch die Hausfrau verwandte all ihre Sorgfalt und all ihre Liebe auf die Zubereitung irgendeines langsam geköchelten Gerichts; bei den Bruns kochte die Schwiegermutter, die alte Madame Pain.
Die Bruns waren kleine Pariser Rentner. Seit seine Frau tot war, hatte Adolphe Brun bei Tisch den Vorsitz und teilte das Essen aus. Er war ein noch schöner Mann; er hatte eine hohe Stirn, eine kleine Stupsnase, füllige Wangen, einen langen roten Schnurrbart, den er zwischen seinen Fingern zwirbelte und langzog, bis die Spitzen ihm fast in die Augen stachen. Ihm gegenüber zeigte seine Schwiegermutter, eine rundliche, kleine, rosige Frau mit duftigem weißem Haar, das wie der Schaum des Meeres aufflog, lächelnd ihre gesunden Zähne und wies mit einer Bewegung ihrer fleischigen kleinen Hand die Komplimente zurück («Ausgezeichnet … Etwas Besseres haben Sie noch nie gekocht, Schwiegermama … Es ist köstlich, Madame Pain!»). Mit falscher Bescheidenheit verzog sie schmollend den Mund und murmelte, wie eine Primadonna, die vorgibt, die Blumen, die man ihr auf der Bühne überreicht, ihrem Partner zu schenken:
«Ja, der Metzger hat mich heute gut bedient. Es war ein schönes Bruststück.»
Zur Rechten von Adolphe Brun saßen seine Gäste – die drei Jacquelains – und zu seiner Linken sein Neffe Martial und seine Tochter, die kleine Thérèse. Da Thérèse vor einigen Tagen fünfzehn geworden war, kämmte sie ihre Locken zu einem Dutt, aber die seidigen Strähnen hatten sich noch nicht an die Form gewöhnt, die die Haarnadeln ihnen geben wollten, und entwischten nach allen Seiten, was Thérèse ganz unglücklich machte, ungeachtet des Kompliments, das ihr schüchterner Vetter Martial ihr halblaut und stark errötend gemacht hatte:
«Das ist sehr hübsch, Thérèse. Ihre Frisur … wie ein goldener Nebel.»
«Die Kleine hat mein Haar», sagte Madame Pain, die – in Nizza geboren und obwohl sie im Alter von sechzehn Jahren von dort weggezogen war, um einen in Paris ansässigen Mann zu heiraten, der mit Bändern und Hutschleiern handelte – den wohlklingenden, sanften Akzent ihrer Heimat bewahrt hatte. Sie hatte sehr schöne schwarze Augen mit einem fröhlichen Blick. Ihr Mann hatte sie ruiniert, und sie hatte eine zwanzigjährige Tochter verloren – Thérèses Mutter; sie lebte auf Kosten ihres Schwiegersohns; doch nichts hatte ihre gute Laune beeinträchtigen können. Zum Nachtisch trank sie gern ein Gläschen Likör und trällerte:
Joyeux tambourins, menez la danse …
Die Bruns und ihre Gäste saßen in einem winzigen, sonnendurchfluteten Eßzimmer. Die Möbel – ein Henri-II-Bufett, Rohrstühle mit Säulchen, eine mit geblümtem dunklem Stoff bespannte Chaiselongue – drängten sich so gut es ging auf engem Raum. Die Wände schmückten Zeichnungen, die in den Grands Magasins du Louvre gekauft worden waren und die mit Kätzchen spielende junge Mädchen und neapolitanische Hirten (mit Blick auf den Vesuv im Hintergrund) darstellten, sowie eine Reproduktion der Abandonnée, eines anrührenden Werks, auf dem man eine offensichtlich schwangere Frau auf einer Marmorbank im Herbst weinen sieht, während ein Husar der Großen Armee sich zwischen den welken Blättern entfernt.
Die Bruns wohnten im Herzen eines stark bevölkerten Viertels in der Nähe der Gare de Lyon. Die wehmütigen, langgezogenen Pfiffe der Züge drangen bis zu ihnen, voller Rufe, die sie nicht vernahmen. Aber sie spürten das silberhelle, luftige, musikalische Vibrieren, das zu bestimmten Tageszeiten von der großen Metallbrücke ausging, wenn die Metro, die darüberfuhr, den unterirdischen Tiefen entsteigend, für einen Augenblick im Angesicht des Himmels auftauchte und mit dumpfem Grollen enteilte. Wenn sie vorbeifuhr, bebten die Fensterscheiben.
Auf dem Balkon sangen die Kanarienvögel in einem Käfig, und in einem anderen gurrten die Turteltauben. Von unten drangen durch die offenen Fenster sonntägliche Geräusche herauf: klirrende Gläser und klappernde Teller auf allen Stockwerken und fröhliches Kindergeschrei auf der Straße. Der in Helligkeit getauchte graue Stein der Häuser wirkte rosa. Sogar die Fensterscheiben der Wohnung gegenüber, die den ganzen Winter über schmutzig und dunkel waren, funkelten frischgeputzt im Licht wie Taufwasser. In der Nische dort drüben war der Kastanienverkäufer, der sich seit Oktober im Warmen aufgehalten hatte, verschwunden, und an seiner Stelle war ein rothaariges Mädchen aufgetaucht, das Veilchen verkaufte. Sogar dieser dunkle Winkel war von hellem Dunst erfüllt: eine Sonne, die den Staub erhellte, jenen Staub von Paris in der glücklichen Zeit des Frühlings, der aus Puder und Blütenstaub zu bestehen schien (bis man merkte, daß er nach Pferdemist roch).
Es war ein schöner Sonntag. Martial Brun hatte den Nachtisch mitgebracht, Mokkatörtchen, die die Augen des jungen Bernard Jacquelain fröhlich aufleuchten ließen. Schweigend aß man den Kuchen; zu hören waren nur das Klirren der an die Teller stoßenden Teelöffel und, unter den Zähnen der Tischgäste, das Knacken der in der Schlagsahne verborgenen und mit duftendem Likör gefüllten Kaffeebohnen. Dann, nach diesem Augenblick andächtigen Schweigens, ging die Unterhaltung weiter, ebenso friedlich, ebenso leidenschaftslos wie das Schnurren eines Wasserkessels. Martial Brun, der Medizinstudent war, ein Knabe von siebenundzwanzig Jahren mit einer langen, spitzen, stets ein wenig geröteten Nase, einem langen Hals, den er komisch zur Seite neigte, als lauschte er einem vertraulichen Wort, und schönen Rehaugen, sprach von den näher rückenden Prüfungen.
«Die Herren müssen viel arbeiten», sagte Blanche Jacquelain mit einem Seufzer und sah ihren Sohn an. Sie liebte ihn so sehr, daß sie alles auf ihn bezog; wenn sie las, daß in Paris eine Typhusepidemie ausgebrochen war, konnte sie nicht umhin, ihn im Geiste krank, vielleicht tot zu sehen, ebensowenig wie sie die Kapelle eines Regiments hören konnte, ohne ihn sich als Soldaten vorzustellen. Sie richtete einen traurigen, tiefen Blick auf Martial Brun, wobei sie dessen reizloses Gesicht durch die in ihren Augen wunderbaren Züge ihres Sohnes ersetzte und an den Tag dachte, an dem er lorbeerbekränzt eine der großen Schulen verlassen würde.
Mit gewissem Wohlgefallen beschrieb Martial sein Studium, seine durchwachten Nächte. Er war übertrieben bescheiden, doch nach einem Tröpfchen Wein bekam er mit einem Mal Lust zu plaudern, sich zur Geltung zu bringen. Beim Schwatzen schob er den Zeigefinger in seinen hohen Kragen, der ihn störte, und plusterte sich auf wie ein Hahn, bis zu dem Augenblick, als es an der Eingangstür läutete. Thérèse wollte aufstehen und öffnen, aber der kleine Bernard kam ihr zuvor und kehrte bald zurück, in Begleitung eines bärtigen, ziemlich fetten jungen Mannes, eines Freundes von Martial und Studenten der Rechtswissenschaft: Raymond Détang. Wegen seiner Lebhaftigkeit, seiner Beredsamkeit, seiner schönen Baritonstimme und seines Erfolgs bei Frauen flößte dieser Raymond Détang seinem Freund ein Gefühl des Neids und melancholischer Bewunderung ein. Als Martial ihn erblickte, verstummte er sogleich und schob mit einer nervösen Handbewegung die Brotkrümel rings um seinen Teller zusammen.
«Wir sprachen gerade über eure Studien, junge Leute», sagte Adolphe Brun. «Da siehst du, was dir blüht», fügte er an Bernard gewandt hinzu.
Bernard antwortete nicht, denn mit seinen fünfzehn Jahren schüchterte die Gesellschaft der Erwachsenen ihn noch ein. Er trug kurze Hosen. («Aber es ist das letzte Jahr … Bald ist er zu groß dafür», sagte seine Mutter mit einem Anflug von Stolz und Bedauern.) Nach der guten Mahlzeit glühten seine Wangen, und seine Krawatte verrutschte unentwegt. Er versetzte ihr einen energischen Stoß und warf seine Locken zurück, die ihm in die Stirn fielen.
Mit Grabesstimme sagte sein Vater:
«Er muß das Polytechnikum unter den Ersten verlassen. Ich werde alles für seine Ausbildung tun: die besten Repetitoren und so weiter. Aber er weiß, was er mir schuldig ist. Im übrigen ist er ein Büffler. Er ist der Beste in seiner Klasse.»
Alle sahen Bernard an; eine Welle des Stolzes weitete seine Brust. Es war ein Gefühl von fast unerträglicher Süße. Er errötete noch mehr und sagte mit seiner Stimme, die sich im Stimmbruch befand, bald schrill und nahezu markerschütternd, bald sanft und tief klang:
«Oh, nicht der Rede wert …»
Mit dem Kinn machte er eine herausfordernde Bewegung, als wollte er sagen:
«Wir werden ja sehen!» und zog am Knoten seiner Krawatte, bis er aufging. Ein wirrer Tagtraum wühlte ihn auf, in dem er sich als großen Ingenieur, Mathematiker, Erfinder oder womöglich als Forschungsreisenden und Soldaten...




