Nein«, sagte Golder.
Jäh hob er den Schirm der Lampe hoch, so daß ihr voller Schein auf das Gesicht von Simon Marcus fiel, der ihm an der anderen Seite des Tisches gegenübersaß. Einen Augenblick lang betrachtete er die Falten und Runzeln, die wie über ein dunkles, windgepeitschtes Wasser über Marcus’ langes, eingesunkenes Gesicht liefen, sobald sich die Lippen oder Lider bewegten. Die halbgeschlossenen, schläfrigen Orientalenaugen aber blieben dabei ruhig, wie gelangweilt. Ein Gesicht, undurchdringlich wie eine Wand. Golder senkte vorsichtig den Arm aus biegsamem Metall, der die Lampe hielt.
»Zu hundert, Golder? Hast du nachgerechnet? Das ist doch ein Preis«, sagte Marcus.
Wieder sagte Golder: »Nein.«
Er setzte hinzu: »Ich will nicht verkaufen.«
Marcus lachte. Seine langen glänzenden Zähne mit den Goldplomben funkelten bizarr aus dem Schatten hervor.
»1920, als du sie gekauft hast, deine berühmten Erdölaktien, was waren sie da wert?« fragte er mit seiner näselnden, ironischen, schleppenden Stimme.
»Ich habe zu vierhundert gekauft. Wenn diese Schweine von Sowjets die verstaatlichten Gebiete den Aktionären zurückgegeben hätten, wäre es ein gutes Geschäft gewesen. Schon 1913 war die Tagesproduktion von Teisk zehntausend Tonnen... Das ist kein Bluff. Nach der Konferenz von Genua sind meine Aktien erst mal von 400 auf 102 gefallen, weiß ich noch... Und dann...« Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Aber ich habe sie behalten. Damals hatte man ja Geld.«
»Ja. Ist dir jetzt klar, daß Ölfelder in Rußland im Jahr 1926 für dich reiner Dreck sind? Hä? Du hast doch weder Mittel noch Lust, selbst hinzugehen, um sie auszubeuten, denke ich mir? Mit denen lassen sich höchstens noch ein paar Punkte gewinnen, wenn man ein bißchen Bewegung an der Börse macht... Hundert, das ist ein guter Preis.«
Golder rieb sich lange die geschwollenen Lider, die ihm im Rauch, der das Zimmer erfüllte, brannten.
Er sagte von neuem, leiser: »Nein, ich will nicht verkaufen. Erst wenn die Tübingen-Petroleum dieses Abkommen für die Konzession von Teisk abgeschlossen hat, an das du denkst, dann verkaufe ich.«
Marcus stieß ein ersticktes »Ach so!« aus, und das war alles.
Golder sagte schleppend: »Ja, genau, das Geschäft, das du seit dem letzten Jahr hinter meinem Rücken betreibst, Marcus, genau das... Hat man dir einen guten Preis für meine Aktien geboten, wenn das Abkommen einmal unterzeichnet ist?«
Er schwieg, denn das Herz schlug ihm fast schmerzhaft, wie bei jedem Sieg. Marcus drückte langsam seine Zigarre in dem vollen Aschenbecher aus.
»Wenn er halbpart sagt«, dachte Golder plötzlich, »ist er erledigt.«
Er senkte den Kopf, um Marcus’ Stimme besser zu hören.
Eine kleine Weile war es still, dann sagte Marcus: »Wollen wir halbpart spielen, Golder?«
Golder biß die Zähne zusammen: »Was? Nein.«
Marcus murmelte mit gesenkten Wimpern: »Oh! Du solltest dir nicht noch einen Feind machen, Golder. Du hast doch schon genug.«
Seine Hände umklammerten den Rand der Tischplatte und bewegten sich schwach, man hörte das flüchtige Kratzen der Nägel. Im Lampenlicht glänzten die langen, weißen, mit schweren Ringen überladenen Finger auf dem Mahagoni des Empire-Schreibtischs; sie zitterten leicht.
Golder lächelte.
»Du bist nicht mehr besonders gefährlich heutzutage, mein Guter...«
Marcus schwieg einen Augenblick, betrachtete seine lakkierten Nägel.
»David … halbe-halbe …! Los …! Wir sind doch seit sechs undzwanzig Jahren Geschäftspartner. Schwamm drüber und laß uns wieder anfangen. Wenn du im Dezember da gewesen warst, als Tübingen mit mir geredet hat...«
Golder drehte nervös an der Telephonschnur, wickelte sie um sein Handgelenk.
»Im Dezember«, wiederholte er mit einer Grimasse. »Ja... du bist gut... bloß...«
Er schwieg. Marcus wußte so gut wie er, daß er im Dezember in Amerika gewesen war, um Kapital aufzutreiben für die Golmar, das Unternehmen, das sie seit so vielen Jahren wie Sträflinge aneinanderkettete. Aber er sagte nichts. Marcus sprach weiter: »David, es ist noch Zeit... Es ist besser, glaub mir... Wir verhandeln zusammen mit den Sowjets, willst du? Die Sache ist schwierig. Und Kommissionen, Gewinne, alles halbe-halbe, ja...? Das ist doch anständig, hoffe ich...? David...? Na...? Sonst, mein Guter...«
Er wartete einen Augenblick lang auf eine Antwort, eine Einwilligung, eine Beschimpfung, aber Golder atmete mühsam und blieb stumm. Marcus zischte: »Hör mal, es gibt nicht nur die Tübingen auf der Welt...«
Er berührte den regungslosen Arm Golders, als wollte er ihn aufwecken. »Es gibt noch andere Gesellschaften, jüngere und... äh... spekulierfreudigere«, sagte er, nach Worten suchend, »die das Ölabkommen von 1922 nicht unterzeichnet haben und sich einen Dreck um die alten Berechtigten scheren, um dich also... Die könnten...«
»Die Amrum Oil?« fragte Golder.
Marcus knirschte mit den Zähnen. »So, das weißt du auch? Also gut, hör, mein Lieber, es tut mir leid, aber die Russen werden mit der Amrum abschließen. Jetzt, wo du dich weigerst mitzumachen, kannst du deine Teisk bis zum Jüngsten Gericht behalten, du kannst dich mit deiner Teisk ins Grab legen...«
»Die Russen werden nicht mit der Amrum abschließen.«
»Sie haben unterzeichnet«, rief Marcus.
Golder machte eine Handbewegung.
»Ja. Ich weiß. Ein vorläufiges Abkommen. Es sollte binnen einer Frist von fünfundvierzig Tagen von Moskau ratifiziert werden. Gestern. Aber da tatsächlich wieder nichts geschehen ist, bist du unruhig geworden und bist gekommen, um es wieder einmal mit mir zu versuchen …«
Er sprach sehr schnell, hustend, zu Ende: »Ich will dir das erklären. Es geht um Tübingen, nicht wahr? Die Amrum hat ihm schon vor zwei Jahren Ölfelder in Persien weggeschnappt. Aber diesmal würde er, glaube ich, eher krepieren als nachgeben. Bis jetzt ist das übrigens auch nicht schwierig gewesen; man hat einfach dem kleinen Juden, der mit dir für die Sowjets verhandelt hat, mehr geboten. Telephoniere jetzt, du wirst sehen...«
Marcus schrie plötzlich mit einer merkwürdig schrillen Stimme los, wie eine hysterische alte Frau: »Du lügst, du Schwein!«
»Ruf an, du wirst sehen.«
»Und... der Alte... Tübingen... weiß er?«
»Ja. Natürlich.«
»Das warst du, das hast du eingefädelt, du Schuft, du Schurke!«
»Ja. Was willst du, erinnere dich... Letztes Jahr, bei der Geschichte mit dem mexikanischen Öl, vor drei Jahren mit dem Heizöl, da sind doch ein paar schöne Millionen von meiner Tasche in deine geflossen! Was habe ich da gesagt? Nichts habe ich gesagt. Und dann...« Er schien noch weitere Gründe zu suchen, sie im Geiste zusammenzuzählen, dann schob er sie mit einem Achselzucken beiseite.
»Die Geschäfte«, murmelte er einfach, als hätte er eine furchterregende Gottheit genannt …
Marcus schwieg jetzt. Er nahm ein Päckchen Zigaretten vom Tisch, machte es auf, zündete sorgfältig das Streichholz an. »Warum rauchst du bloß diese ekelhaften Gauloises, Golder, reich, wie du bist?« Seine Finger zitterten heftig. Golder beobachtete sie wortlos, als verfolgte er die letzten Zuckungen eines verwundeten Tieres.
»Ich brauchte Geld, David«, sagte Marcus auf einmal mit veränderter Stimme. Eine jähe Grimasse verzog ihm einen Mundwinkel: »Ich... ich brauche furchtbar dringend Geld, David... Willst du nicht... willst du mich nicht ein wenig verdienen lassen...? Glaubst du nicht, daß...«
Golder stieß wild mit der Stirn in die Luft.
»Nein.«
Er sah, wie die blassen Hände sich ineinander verklammerten, die Finger sich verkrampften, die Nägel sich in das Fleisch vergruben.
»Du ruinierst mich«, sagte Marcus schließlich mit einer tonlosen, merkwürdigen Stimme.
Golder, der hartnäckig die Augen niedergeschlagen hielt, antwortete nicht. Marcus zögerte, dann stand er auf, schob behutsam seinen Stuhl zurück.
»Leb wohl, David. Was sagst du?« rief er plötzlich mit außerordentlicher Kraft in die Stille hinein.
»Nichts. Leb wohl«, sagte Golder.
Golder zündete eine Zigarette an, aber schon nach dem ersten Zug mußte er nach Atem ringen und warf sie weg. Ein nervöser asthmatischer Husten, rauh und pfeifend, schüttelte seine Schultern, füllte ihm bis zum Ersticken den Mund mit bitterem Wasser. Ein jäher Blutandrang färbte seine Züge, die gewöhnlich von einem fahlen, matten, wächsernen Weiß waren bis auf die blauen Ringe unter seinen Augen. Er war ein Mann von über sechzig Jahren, riesig, mit fetten weichen Gliedern, regen, wasserfarbenen hellen Augen; dickes weißes Haar umrahmte das verwüstete, harte, wie von einer groben, schweren Hand zerschlagene Gesicht.
Das Zimmer roch nach Rauch und erkaltetem Schweiß, dem typischen Sommergeruch der lange unbewohnt gebliebenen Pariser Wohnungen.
Golder drehte sich mitsamt seinem Stuhl herum, öffnete einen Spaltbreit das Fenster. Eine lange Weile betrachtete er den erleuchteten Eifelturm. Der rote, rieselnde Schein floß wie Blut über den frischen Himmel der...