E-Book, Deutsch, 72 Seiten
Nixdorf Die Verwaltungssprache des Jobcenters
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7519-2767-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Semantik der Grundsicherungsarbeit
E-Book, Deutsch, 72 Seiten
ISBN: 978-3-7519-2767-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Bedeutung eines Wortes lässt sich aus seiner Nutzung im Alltag erschließen. Im Jobcenter ist das insofern herausfordernd, als manche Wörter hier eine andere Bedeutung haben, als das im Alltagsverständnis üblich ist. Die Leistungsbeziehenden werden im Jobcenter Kunden genannt. Sie können sich aber nicht wie solche verhalten, da sie in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Jobcenter stehen. Die Kunden werde betreut und aktiviert. Das legt Unselbstständigkeit nahe und empört manche Erwerbslose, die längst nicht alle arbeitslos sind. Kurzum wirkt sich die Sprache auf die Interaktion der Arbeitsvermittler und Kunden aus. Das wird im Buch anhand mehrerer Begrifflichkeiten dargelegt, denen im Jobcenter besondere Bedeutung zukommt.
Dr. Chrtistian Philipp Nixdorf ist Organisationspädagoge. Seine Interessenschwerpunkte liegen in der Organisations- und Professionsforschung. Als systemischer Berater (DGSF) und beschäftigungsorientierter Fallmanager (DGCC), der jahrelang in mehreren Jobcentern tätig war, hat er sich mit der dortigen Kommunikationskultur intensiv befasst.
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Arbeit und Arbeitslosigkeit
„Menschen und Arbeit zusammenbringen“ – so lautet ein Slogan der Bundesagentur für Arbeit (BA), der das Selbstverständnis der Organisation auf den Punkt bringt. Menschen, die vermeintlich keiner Arbeit nachgehen, geraten nicht nur schnell in den Fokus der Arbeitsvermittler in der BA und im Jobcenter (Motto: Die müssen aktiviert werden), sie erleben auch Diskriminierung und Abwertung.3 Insbesondere im Falle von Langzeitarbeitslosigkeit wird den Menschen häufig „der Missbrauch von Sozialleistungen, Faulheit sowie mangelnde Ambitionen und Motivation, etwas gegen ihre Arbeitslosigkeit zu tun, vorgeworfen“ (Zick et al. 2016, S. 41). Gerade Langzeitarbeitslosigkeit, definiert als Arbeitslosigkeit von über 12 Monaten Dauer, gelte es daher, so der im Jobcenter und in breiten Teilen der Öffentlichkeit vorherrschende Tenor, schnellstmöglich zu überwinden – und zwar im Bedarfsfall auch mittels der Bestrafung arbeitsloser Menschen. Arbeit kommt, so lässt sich mit Fug und Recht sagen, in dieser Gesellschaft eine zentrale Bedeutung zu. Die westliche Zivilisation habe, so schreibt Kerber (2002, S. 69), „die Gesellschaft allein auf Arbeit aufgebaut. Arbeit ist es, die Sinn stiftet und Identität. Wer ohne Arbeit ist, fühlt sich wert- und nutzlos. Es ist das Ethos unserer Arbeitsgesellschaft, dass sich die Menschen so sehr an ihre Erwerbsarbeit klammern lässt.“ Die Macht des modernen Arbeitsglauben lebe, so meint der Soziologe Wolfgang Engler in Bürger, ohne Arbeit (2005, S. 41) „von der Angst, ihn zu verlieren.“ Arbeit bedeutet Sinn und Sicherheit. Der Gedanke daran, sie zu verlieren, erzeugt Angst. Den Grund dafür, der als exemplarisch für diese Überzeugung gelten kann, fasst auch der Namensgeber der als Hartz-Gesetzgebung bekannt gewordenen Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Peter Hartz, zusammen mit Hilarion Petzold (2014, S. 35), zusammen. Sie schreiben: „Wir dürfen nie vergessen: Arbeit bedeutet ja nicht allein Beschäftigung und Lohn. Sie bedeutet auch Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, Kreativität, Selbstverwirklichung, gesellschaftliche Teilhabe und letztlich Sinnerleben, die Anerkennung von Integrität und Würde. ‚Ich glaube, es ist gottgewollt, dass wir arbeiten‘, hat Oswald von Nell-Breuning, der große Denker und Nestor der katholischen Soziallehre einmal gesagt, und damit auf einen tieferen Sinn der Arbeit verwiesen. Darf es uns gleichgültig lassen, dass Millionen erwachsener Menschen die sinnstiftende Qualität von Arbeit vorenthalten bleibt?“ Was Hartz und Petzold schreibe, steht exemplarisch für die vorherrschenden Wertvorstellungen bezüglich der Arbeit in unserer Gesellschaft. Die Vorstellungen des Gros der Menschen in diesem Land, die sich auch in der Gesetzgebung widerspiegeln, sind dabei entscheidend geprägt von der protestantisch-calvinistischen Arbeitsethik. Sie haben sich durch über 200 Jahren Kapitalismus so in den Köpfen der Menschen verfestigt, dass sie als naturgegeben angesehen werden. Doch das sind sie keineswegs. Vielmehr ist es so, dass die Arbeit im Laufe der letzten Jahrhunderte eine komplette Bedeutungsumkehr erfuhr. Für Menschen im Mittelalter war Arbeit so gut wie nie mit Sinn-Erfüllung assoziiert. Sie war reines Mittel zum Überlebenszweck. Auch in der Antike wurde Arbeit mitnichten als Mittel der Selbstverwirklichung und Lebenssinn betrachtet. In seiner Nikomachischen Ethik äußert Aristoteles deutlich seine geringe Wertschätzung für die Arbeit. Sie sei Domäne der Unfreien, der Sklaven und Handwerker. Wirkliche Freiheit hingegen „erfüllt sich im Engagement fürs Allgemeine, ist Leben im Geist der praktischen oder der theoretischen Vernunft. [...] Arbeit [in vormodernen Zeiten] ist minderwertig in erster Linie nicht, weil Sklaven sie versehen, sondern weil ihr Vollzug als minderwertig, als versklavend gilt, wird sie zur Domäne der Recht- und Stimmlosen“ (Aristoteles zitiert nach Engler 2005, S. 31-32). Moral und Werte sind immer wandelbar, sie sind eine gesellschaftliche Konstruktion. Die unseren fasste Max Weber bereits im Jahr 1904 in seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus zusammen. Die Religion hat im Laufe der Jahrhunderte immer mehr von ihrer Prägekraft verloren. Der Kapitalismus ist allerdings auch heute noch geprägt vom gleichen Wertmaßstab wie vor 100 Jahren: Wert schafft nur jener Mensch, der arbeitet, der wirtschaftliche Erfolge erzielt. „Unglücklicherweise ist genau diese Gleichsetzung das kulturelle Dogma unserer Zeit schlechthin. Einzig der arbeitende Mensch gilt als aktiv handelnde Person, als vollwertiges soziales Wesen, das zu Stolz und Selbstachtung berechtigt ist“ (Engler 2005, S. 144). Dass dem Arbeitsprimat, das in § 2 des Sozialgesetzbuches 2 kodifiziert ist, nicht nur eine rechtliche, sondern gar eine moralische Komponente inhärent ist, hat laut Berlit (2013, S. 200) bereits das Bundesverfassungsgericht (67, 1 [5] vom 10.2.1983) folgendermaßen hervorgehoben: „Arbeiten als solches ist - ganz gleich, auf welchem Wege hierzu Gelegenheit geboten wird - ein Mittel, einen Hilfesuchenden (Hilfeempfänger) in seinem Selbsthilfestreben zu unterstützen und ihm Gelegenheit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit zu geben, ein wesentliches Kriterium für ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht.“ Zu arbeiten gilt als Quelle der Selbstachtung. Zu fragen ist nur: Was ist Arbeit? Die Frage mutet banal an, ist es aber mitnichten, zumal diverse Definitionen von Arbeit sich mitunter erheblich unterscheiden. In der Bundesagentur für Arbeit und in den Jobcentern herrscht in der Regel das Verständnis vor, dass Arbeit eine finanziell vergütete, vertraglich geregelte und rechtlich normierte Tätigkeit sei. Diese Vorstellung ist es auch, die in vielen Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (MAT) seitens der dortigen Dozenten vermittelt wird. Menschen, die keiner bezahlten Arbeit nachgehen, werden im Jobcenter sowie in Aktivierungsmaßnahmen als arbeitslos bezeichnet. Diese Bezeichnung geht allerdings insofern fehl, als viele Menschen, die Arbeitslosengeld (ALG) II erhalten, zwar keiner Erwerbsarbeit nachgehen, aber sehr wohl arbeiten. Sie verrichten oftmals diverse Dinge und sind gesellschaftlich aktiv, werden dafür aber nicht bezahlt. Da das SGB II nur Erwerbsarbeit als Arbeit klassifiziert, wird jene nicht finanziell vergütete Arbeit, die von Menschen im Ehrenamt, im privaten und im familiären Kontext geleistet wird, nicht als Arbeit anerkannt. Man kann sich, wenn man ALG II erhält, nicht darauf berufen, dass man durchaus arbeite, wenn man z. B. Kinder erzieht und einem Ehrenamt nachgeht. Doch eben diese Tätigkeiten sind es, die regelmäßige und kontinuierliche Erwerbsarbeit überhaupt erst ermöglichen. Würden von einem Tag auf den anderen nur noch jene Arbeit verrichten, die finanziell entlohnt wird, würde die Wirtschaft zusammenbrechen. Die Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass täglich nicht vergütete Arbeit verrichtet wird. Gewürdigt wird diese aber kaum. Das zeigt sich beispielhaft daran, dass erziehende Menschen, die ALG II erhalten, bereits ab dem dritten Geburtstag ihres Kindes dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen. Auch wird das Elterngeld voll auf die ALG-II-Leistungen angerechnet. Dass man sich in den ersten 4-5 Lebensjahren des Kindes primär um dieses kümmern und keiner Erwerbsarbeit nachgehen wolle, wird nicht als wichtiger Grund der Ablehnung einer Beschäftigung akzeptiert. Arbeit wird nur dann anerkannt, wenn sie normiert und entlohnt erfolgt. Gorz (2000, S. 91) bemerkt: „Das »Recht auf Arbeit« (gleichbedeutend mit dem Recht auf den Arbeitsplatz) wird vor allem als ein politisches Recht beansprucht, Zugang zu den sozialen und ökonomischen Aspekten der Staatsbürgerlichkeit zu erlangen. Solange dem so ist, werden Aktivitäten, die von der Norm regelmäßiger Vollzeitarbeit abweichen, als minderwertig wahrgenommen, als etwas, das dazu führt, die Rechte des Bürgers zu beschneiden, ihm die Vorteile zu verweigern, die »normal« Beschäftigte genießen.“ Darum „sagt man von einer Frau, sie habe Arbeit, wenn sie in der Grundschule unterrichtet, und sie habe keine, wenn sie ihre eigenen Kinder großzieht“ (ebd., S. 11). Ein ironischer Satz Friedrich Lists (1841) lautet: „Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft“ (in Prantl 2005, S. 67). Der Satz ist noch heute aktuell, denn die Leistungen der Familie gehen bis heute nicht in die Berechnungen des Bruttosozialprodukts ein. Kindererziehung wird Familien geleistet, die so finanzielle Nachteile erfahren. Gesellschaft und Wirtschaft nehmen die Erziehungsleistung entgegen, danken sie aber nur mit finanzieller Mehrbelastung und weitgehender Nichtanerkennung. Im Jobcenter erleben das tagtäglich vor allem alleinerziehende Kundinnen. Laut BA-Statistik (2017 f, S. 5) beziehen etwa 37 % aller Alleinerziehenden in Deutschland Arbeitslosengeld II. Ca. 95 % der Alleinerziehenden sind Frauen (Achatz et al. 2013, S. 8). Sie sind oft mit erheblichen finanziellen und beruflichen Schwierigkeiten konfrontiert. Zu...