Nisbet Der Krake auf meinem Kopf
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-927734-66-1
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 35, 320 Seiten
Reihe: Pulp Master
ISBN: 978-3-927734-66-1
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Musik ist Curly Watkins' Leben; doch aus den aufregenden Tagen der Punkbewegung in San Francisco sind ihm nur seine Gitarre geblieben und ein riesiges Kraken-Tattoo auf dem Kopf. Die meisten seiner alten Freunde sind längst tot, doch Curly hat überlebt und schlägt sich mit Auftritten in Cafés durch. Als er seinen alten Kumpel Ivy Pruitt, einen begnadeten Jazzdrummer, dazu überreden will, eine Band zu gründen, gerät dieser in eine Razzia der Drogenfahndung. Doch alte Freundschaft verpflichtet, zumal Lavinia, eine gemeinsame Freundin, Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um das Geld für Ivys Kaution aufzutreiben. Doch dann geht es plötzlich um Mord, um das Präparieren toter Körper und Schlimmeres ...
Jim Nisbet nimmt uns auf seinem Noir-Trip mit in ein von Profitgier verwüstetes Kalifornien der Nullerjahre, in dem sich die Ideale eines gesellschaftlichen Aufbruchs längst in Agonie befinden und wo eine emotionale Wüste entstanden ist, unbewohnbar wie der Mond.
Jim Nisbet, Jahrgang 1947, ist Autor von dreizehn Romanen und mehreren Lyrik-Bänden. Verlegt wurden seine Romane auch in Frankreich, Japan, Italien, Polen, Russland, Ungarn, Rumänien und Griechenland. DUNKLER?GEFÄHRTE (Bd. 28) wurde für den Hammett-Prize nominiert. TÖDLICHE?INJEKTION (Bd. 32) gilt mittlerweile als moderner Klassiker. Er lebt mit seiner Frau in San Francisco.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Ivy Pruitt wohnte in einer kleinen Bude über einer Garage in Oakland, ein Stockwerk hoch, einfach über eine Außentreppe an der Rückseite des Hauses. Vom Treppenabsatz hatte man einen Ausblick auf den größten Friedhof der Stadt. Ich stattete Ivy einen Besuch ab, dachte, dass er mal wieder Lust habe zu spielen, und wenn es dazu käme, wollte ich dabei sein. Keine Ahnung, warum ich glaubte, er sei bereit für eine Veränderung, und mit Ivy gab es sowieso immer nur Stress, aber da war ich nun. Und Ivy war auch da und rauchte Heroin. Aus seiner Einzimmerwohnung ließe sich eine Menge machen. Ivy hatte seinen neunzigjährigen Vermieter breitschlagen können, ihm für sechs Monate die Miete zu erlassen, im Gegenzug erledigte Ivy ganz nach seinem, Belieben Besorgungen für ihn. Ivy trug saubere Klamotten, sobald er sich keine Zigaretten leisten konnte, und obwohl er nie kochte oder Gäste bewirtete, putzte er zwanghaft seine Wohnung, sodass sie, vom Duft nach verbranntem Teerheroin einmal abgesehen, noch genau in dem Zustand war, in dem sie bei seinem Einzug gewesen sein musste: frisch gestrichen, blitzblank, mit spiegelnden Fenstern, auf Hochglanz gewienert, feucht gewischt und mit einer Matratze auf dem Fußboden des auf die Straße hinausgehenden Zimmers und einem Klapptisch plus zwei Gartenstühlen in der Küche nur spärlich möbliert. Dazu ein Badezimmer, und das war’s. Von der Größe her glich sie in etwa meiner Hütte in San Francisco, nur war Ivys kein Dreckloch und kostete auch nur die Hälfte. Je nach Bedarf schob er die Stühle hin und her, doch ich bin mir sicher, dass er oft nur am Herd lehnte wie ein müdes Pferd, das vor sich hin döste. Er war meistens allein. Ich sah weder einen Fernseher noch eine Stereoanlage, nicht einmal ein Radio, und nirgendwo gab es einen Hinweis auf ein Musikinstrument. Selbst das Bad war picobello, als hätte man es beschlagnahmt, genau wie die Küche, denn bei einem Junkie kam weder das eine noch das andere Ende der Nahrungszufuhr groß zum Einsatz. Doch die Küche hatte Südseite, die sie mit reichlich Sonnenlicht versorgte, und in Oakland scheint ständig die Sonne. Und so schien dieser Raum trotz seiner ansonsten elenden und befremdlichen Nutzung um zwei Uhr nachmittags von nahezu aufdringlicher Heiterkeit zu sein. Und es war diese Räumlichkeit, wohin sich Ivy nach einem nur kurzzeitigen Verharren an der Eingangstür zurückzog, als würde er unweigerlich von seinem Herd angezogen wie ein Komet von der Gravitation der Sonne. Unter den wenigen Haushaltsgeräten – einem Kühlschrank, einem Durchlauferhitzer und einem Toaster mit dem Preisschild eines Billigladens – bewahrte sich der Herd seinen einzigartigen Gebrauchswert. Ich hatte nie zuvor Teerheroin gesehen, geschweige denn, dass ich jemals den Drachen gejagt hätte; aber Ivy Pruitt grenzte diesen Mangel an kultureller Erfahrung schnell auf den kuriosen Gebrauch zweier Gegenstände ein. Bei dem Herd handelte es sich um einen Gasherd. Ivy holte einen Klumpen Teerheroin aus einer schwarzen Filmdose, rollte ihn zwischen seinen Handflächen wie ein Künstler, der seinen Radiergummi bearbeitet, bevor er ihn an seine Zeichnung setzt. Als der Klumpen hübsch rund war und knapp einen Zentimeter Durchmesser maß, zündete Ivy einen der vorderen Gasbrenner, und mit einer Selbstverständlichkeit, die über eine angeborene Rechtshändigkeit hinwegtäuschte, jonglierte er die Kugel zwischen den Klingen der beiden Menümesser, die er in den Händen hielt und deren violette Patina verriet, wie sehr sie diese ganz besondere Form der Missachtung der Etikette gewöhnt waren. Er drehte die Kugel in die blaue Flamme und wieder heraus, brachte sie zum Sieden, ohne sie verkohlen zu lassen, und alles mit dem Geschick eines Sushikochs beim Zerteilen eines Red Snappers. Währenddessen quatschte er unentwegt. »Weißt du, Curly, man darf dieses Zeug nicht zu stark erhitzen, sonst wird’s echt scheiße. Der Drache entwischt. Der Drache mag’s gar nicht, monatelang in kleinen, klebrigen Bällen gefangen zu sein, also lauert er ständig auf seine Chance, die Flatter zu machen. Andererseits hat der Scheißer keinen Grund, sich zu beklagen. Die meisten empfindsamen Wesen sind ihr Leben lang gefangen. Aber nicht der Drache. Der Drache leidet, wenn er sechs Monate drüber ist über der Mohnernte. Hab ich dir jemals erzählt, was Lavinia immer gesagt hat, wenn’s darum ging, dass ich sie in den Arsch ficken wollte?« Die Zwangsläufigkeit, mit der solche »Vertraulichkeiten« unter »Männern« nur wieder einen weiteren langweiligen Aspekt beider Begriffe bildete, entlockte mir ein nachdrückliches Nein. »Und sonst?«, schob ich hinterher. Ich hoffte, den Tag ohne ein Wort über Lavinia hinter mich bringen zu können. Ivy überhörte es. »›Der Versuch, mir dein Ding in den Arsch zu schieben, ist so, als wollte man Gott zurück in den Peyote-Knopf stecken: Es ist aussichtslos.‹« »Hey«, sagte ich beeindruckt, »das ist wahrscheinlich die treffendste Definition für Entropie, die mir je untergekommen ist.« Ohne den Blick von seiner Aufgabe zu wenden, sagte Ivy: »Oha, wir haben wirklich einiges über Entropie gewusst, Lavinia und ich. Ivy, hat sie immer gemeint, dein Ding ist zu klein für den Himmel und zu groß für die Hölle. Also«, er bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, als wollte er sein Rückgrat ausrichten, »haben mein Ding und ich ein paar Jahre im Fegefeuer zugebracht, die ganze Zeit an der Schwelle zum Chaos.« Er grinste in die Flamme, stieß ungewöhnlich genüsslich das Wort »Hitzetod« hervor, als handelte es sich um eine Beschwörung. Völlig überraschend löste sich die Heroinkugel in eine Geistererscheinung aus blauem, duftendem Rauch auf, entrollte ihre Vergänglichkeit aufwärts und weg von den Klingen, nur um auf die sich ihr entgegenstrebende numinose Gier Ivys geweiteter Nasenflügel zu treffen, die sich auf ein rätselhaftes Signal aus dem Alambic hin gebläht hatten und worin die Schlange vollständig und überaus geschmeidig verschwand, in die ihr zugedachte Höhle schoss wie eine Muräne nach der Paarung auf dem Weg zum Abendessen in ihrer Behausung. Ivy hielt Mund und Augen fest geschlossen, während er tief durch die Nase einatmete. Hätte er den Orgelspieltisch umarmt, nachdem er die Klänge der Passacaglia am Ende von Bachs Toccata und Kantate in h-Moll mit Hilfe der großen Orgel der Grace Cathedral vor tausend Zuhörern hatte aufmarschieren lassen, er hätte nicht konzentrierter, nicht entrückter erscheinen können. Nach dieser Unterbrechung legte er die beiden Messer über Kreuz auf einem Unterteller in der Mitte des Herdes ab, dem vermutlich einzigen Teller des Hauses, aber immerhin so, als habe man soeben das Essen beendet und warte nur darauf, dass ein umsichtiger Kellner die Zeugnisse dessen abräume und, mit der gleichen Umsicht, die Präsentation der Rechnung hinauszögere, um dem Gast das träge Vergnügen eines nachklingenden Gefühls des völligen Gesättigtseins zu ermöglichen. Unter dem Teller lag eine zur Viertel Seite zusammengefaltete Zeitung mit der Schlagzeile: »Verweiblichung bei Tieren auf dem Vormarsch.« Ivy atmete lange aus, wie ein Perlentaucher, der soeben zwanzig Meter hinab- und wieder aufgetaucht war. Er suchte in der Luft nach erkennbaren Spuren von Rauch; nichts zeigte sich, und natürlich bedeutete »nichts« die volle Dröhnung. Er seufzte zufrieden. Die Augen fielen ihm zu und er öffnete sie wieder: Ihre Pupillen waren zu kleinen schwarzen Sonnen geworden, ohne Planeten, die es zu wärmen galt. Plötzlich lächelte er — fast. »Mal probieren?« Bemerkenswert gastfreundlich. Und wer war ich, die Offerte abzulehnen? Eigentlich hätte Ivy die Gasflamme abdrehen müssen, doch mit der lässigen Weltanschauung des Junkies – der zufolge man kein Problem mit der Welt habe, solange man drauf ist, und sollte die Welt nicht drauf sein, sollte sie konsequenterweise drauf kommen – leistete er sich im Lichte seiner Vertrautheit mit dem Ritual eine Fehleinschätzung, was mein Eingehen auf sein generöses Angebot betraf, ein Versehen, das erneutes, wenn auch leicht widerwilliges großzügiges Handeln erfordern sollte. Denn es war nur einen Augenblick später, dass die Flamme dank meiner ungeübten Hand das dargebotene Geschenk zu einem sich verflüchtigenden Schadstoff in der aseptischen Atmosphäre der Küche verdampfen ließ, es einem Aufflammen zum Fraß vorwarf, das sich entwickelt, wenn zu schnell Hitze zugeführt wird, sodass meiner Nase nichts anderes übrig blieb, als den beißenden Schwaden gleichermaßen scheu und träge in kreisenden Bewegungen zu folgen, ähnlich einer Fliegenklatsche, die mit der durch sie in Schwingungen versetzten Luft dem Entwischen der Fliege Vorschub zu leisten scheint. Sich seines Irrtums inzwischen bewusst, rollte Ivy eine zweite, zur Strafe kleiner bemessene Dosis und verabreichte sie mir mit dem unerbittlichen Elan von Prousts Mutter, die dem Asthma ihres Sohnes mit Räucherwerk begegnet, und ich bekam meinen Flash. Wir traten aus der Küchentür hinaus auf einen weiß getünchten Vorbau, der kaum groß genug war, um zwei Menschen Platz zu bieten. Ob der Südlage grell, ausgetrocknet und mit abblätternder Farbe, gewährte die kleine Veranda uns, die wir glücklich hinter unseren Sonnenbrillen blinzelten, den Ausblick auf eine gewaltige, stumme Fläche mit Grabsteinen und Rasen, Grabmalen und Zypressen, Lavendel und Obelisken, mit Carolinatauben und von der...