E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Niemi Die Flutwelle
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-12157-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-12157-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hoch oben im Norden Schwedens regnet es schon fast den ganzen Herbst. Und dann zeigen sich im obersten Staudamm des Lule älv tatsächlich Risse. Keiner kann sich vorstellen, dass er brechen könnte. Doch dann geschieht genau das - die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Das Wasser kommt in gigantischen Massen. Ein Tsunami im eigenen Land. Inmitten des Infernos eine Gruppe von Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die nun aufeinander angewiesen sind, wollen sie überleben: Der Hubschrauberpilot, der kurz vor einem Selbstmord stand. Die Künstlerin, die mit ihrer Malgruppe in den Wäldern umherstreift. Die Schwangere, die an einen Schornstein geklammert um ihr Überleben kämpft und von einem anderen Schiffbrüchigen ins Boot gezerrt wird. Zwei Ingenierinnen, die schon lange vor der Gefahr gewarnt haben. Sie alle stehen vor einer gewaltigen Herausforderung: Sie kämpfen nicht nur ums Überleben, sondern auch um ihre eigene Menschlichkeit ...
Mikael Niemi, Jahrgang 1959, wuchs im hohen Norden Schwedens in Pajala auf, wo er heute noch lebt. Im Jahr 2000 erschien sein erster Roman 'Populärmusik aus Vittula', für den er den renommiertesten Literaturpreis seines Landes, den Augustpreis, bekam. Es war das spektakulärste Debüt, das Schweden je erlebt hatte. Das Buch stand monatelang auf Platz 1 der Bestsellerliste, verkaufte sich über eine Million mal, wurde in 24 Sprachen übersetzt und ebenso erfolgreich verfilmt.
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DAS LEBEN, DAS Dasein an sich – was vermochte es besser zu gestalten als das Wasser. Lena Sundh ließ sich davon erfüllen, überwältigen, wurde eins mit dem Fluss. Spürte das innerste Wesen des Wassers, den immerwährenden Tanz der Wassergeister vor ihren Augen.
Stora Luleälven. Allein der Name machte sie demütig. Er stammte eigentlich aus dem Samischen, Stuor Julevädno. Sie spürte, wie in ihr etwas zu klingen begann, wie eine Art Resonanz entstand. Die Fasern der Wurzeln ähnelten Saiten, man konnte sie zum Klingen bringen, wenn man sie berührte. Ein inneres Instrument, das man zum Leben erweckte. Sie fühlte die Nähe ihrer Großmutter. Lena war überzeugt davon, sie konnte die Wärme spüren. Ein geistiges Wesen stand hinter ihr, die Hände erhoben wie zu einem Segen, zu einer Geste der Heilung. Die liebe, kluge, runzlige Großmutter bei dem kleinen Mädchen, das inzwischen erwachsen war. Zwei Frauenseelen an dem mächtigen Fluss. Lena spürte, wie sich das Wasser Stück für Stück in kleine, schwimmende Föten verwandelte. Ein reißender Strom schmächtiger Körper, die ihre Babyarme ausstreckten. Sie suchten nach einem Schoß, wollten in sie hinein. Kleine, ungeborene Kinder. Sie musste eine Pause einlegen. Die Sehnsucht tat einfach zu sehr weh. Vorsichtig streckte sie ihren schmerzenden Rücken.
Die Gruppe sah lustig aus unter ihren kunterbunten Regenschirmen. Ein Teil saß vornübergebeugt auf Sitzunterlagen aus Plastik, andere hatten Campingstühle dabei. Ein Stück weiter hatte Sussie sich den Regenschirmgriff um den Oberkörper geschnallt, um die Hände frei zu haben, während Madeleine mit ein paar Stöcken eine wacklige Konstruktion gebaut hatte. Die Regenschirme wehten hin und her und drohten die ganze Zeit umzukippen. Wie Pilze aus einem Buch von Elsa Beskow waren sie über das Flussufer verstreut. Darunter hockten die Kursteilnehmer mit ihren Aquarellkästen und mit Klebeband befestigten Papierbogen und versuchten, die Bewegung einzufangen.
Dies war die Aufgabe des Vormittags. Die Bewegung des Wassers. Sowohl die des Flusses als auch die des Aquarellpinsels. Wasser mit Wasser zu malen, das war wie eine Art Taufe. Ein Ritual. Als Erstes war Lena hinunter ans Ufer gegangen und hatte ihren Pinselbecher mit Flusswasser gefüllt. Sie malte den Fluss mit dem Fluss, Julevädno lief über ihr Papier. Und rundherum von den Rändern des Regenschirms tropfte ununterbrochen der Regen. Ein Kreis aus Regen um ihr viereckiges Aquarell, Yin und Yang, Himmel und Erde, weiblich und …
»Ein Biber!«
Die Frauen schauten auf. Natürlich war es Laban. Lena versuchte, ihn zu ignorieren, wie sie es seit Beginn des Kurses getan hatte. Jede Gruppe musste wohl ihren Laban haben, ihren Narzissten, ihre Schlange im Paradies, das hatte sie während vieler Jahre in zahlreichen Konferenzen lernen müssen. Laban wusste genau, wie man sich in Szene setzte. Zunächst einmal war er mit Abstand der Jüngste im Kurs, gerade mal Anfang zwanzig, mit langem, strähnigem Haar, das ihm am Rücken klebte. Außerdem war er ein Mann, und das ärgerte sie. Eine Gruppe, die nur aus Frauen bestand, wäre ihr lieber gewesen. Am meisten jedoch störte sie sein … Gehabe. Heute zum Beispiel lief er mit nacktem Oberkörper herum, obwohl es kühl war. Oder vermutlich gerade deshalb, um an ihre Mutterinstinkte zu appellieren. Und um sein Tribal zu zeigen, das wie ein blauer Wasserfall über seine Schulter verlief. Laban war auch der Einzige, der sich weigerte, einen Regenschirm zu benutzen. Er wollte unter freiem Himmel malen, obwohl es in Strömen goss. Dabei war doch allen klar, dass das unmöglich war, und entsprechend zerknüllte er schon bald sein Papier und warf es auf die Erde. Was er mit »Biber« hatte sagen wollen, war unklar. Hatte er einen Biber gemalt? Oder war das ein Slangausdruck, irgendwas aus Luleå? Auf jeden Fall würde sie darauf achten, dass er das Papier nicht liegen ließ, wenn sie hier fertig waren, das würde sie ihm deutlich zu verstehen geben. Man verschmutzte Mutter Erde nicht, das sollte er wissen.
Jetzt streckte Laban sich und begann mit einer Art barfüßigem Eingeborenentanz, bei dem er das Haar herumwarf und irgendetwas vor sich hin summte. In seinen Ohren steckten Stöpsel mit lautstarker Musik, als würden die Geräusche der Natur nicht genügen. Wenn er sich wenigstens im Hintergrund halten würde. Aber nein, er musste sich im Blickfeld aller befinden, die Blicke aller auf sich ziehen. Er war einer dieser Menschen, die immer nur haben wollten. Er wollte alles in sich aufsaugen wie ein Baby, ohne einen Gedanken an die Bedürfnisse der anderen zu verschwenden. Ein typischer Suchtmensch, dachte sie. Er hatte bestimmt schon diverse Drogen ausprobiert und glaubte, sie würden helfen. Drogen stellen den Menschen schließlich ins Zentrum unseres riesigen Universums, genau in den Mittelpunkt. Aber dort stand man allein. Da war kein Publikum, das er um sich scharen konnte, sondern nur kosmische Strahlung. Er würde daran zugrunde gehen.
»Du spritzt!«, schimpfte Madeleine, die ihm am nächsten saß.
Durch seine Ohrstöpsel hörte er nichts, schüttelte einfach weiter sein nasses Haar. Madeleine versuchte vergebens, ihr Aquarell zu schützen, drehte ihm den Rücken zu, doch so konnte sie ihr Motiv nicht mehr sehen. Schließlich seufzte sie demonstrativ, packte ihre Sachen zusammen und zog zehn Meter weiter.
Typisch Frau, dachte Lena. Einfach aufzugeben. Sie selbst würde … Ja, was würde sie getan haben? Was auch immer. Mit einem Erdklumpen nach ihm werfen. Ein lehmiger Klumpen, zack, in die Fresse. Eine Sahnetorte voll auf Labans Ego.
Aber vielleicht hätte ihn das nur angestachelt. Es hätte ihm Aufmerksamkeit beschert. Er hätte eine Szene gemacht und versucht, ihr Aquarell zu bespucken. Oder er hätte mit verzweifelter Berechnung losgeheult, bis er die ganze Gruppe gegen sie aufgebracht hatte. Womöglich hatte Madeleine es genau richtig gemacht, man sollte sich mit Idioten nicht beschäftigen. Man sollte einfach aufstehen und gehen und es von sich abprallen lassen. Dem Narzissten einen Spiegel vorhalten und sich selbst einer anderen Sache zuwenden. Sich wieder dem eigentlichen Ziel widmen, dem Wasser. Der Bewegung des Wassers. Die Schichten ineinander übergehen zu lassen. Dem Pigment Schwung zu geben, den Widerstand zu spüren, mit dem Pinsel über die Oberfläche zu streichen. Und dann die Selbstzweifel beiseitezuschieben, mit denen sie am meisten zu kämpfen hatte, seit sie mit der Kunst begonnen hatte. Dieses Analysieren, diese trockene, nagende Stimme, die ihr einredete, dass alles, was sie tat, nur eine Lappalie war. Bereits vor dem ersten Pinselstrich konnte sie es hören: »Willst du wirklich damit anfangen? Warum denn das? Warum malst du immer auf die gleiche Art und Weise? Du hast anscheinend nur eine einzige Ausdrucksform. Du versuchst nie, dich weiterzuentwickeln, du gibst dich zu schnell zufrieden, bleibst beim geringsten Widerstand stehen, du strengst dich nicht ausreichend an, das genügt niemals …«
Papa. Oder das, was noch von ihm übrig war, sein ewiges Genörgel. Es ging darum, das Herzchakra zu öffnen. Sich von der Energie überschwemmen zu lassen und sich mit dem zu füllen, was er selbst nie zugelassen hatte.
»Hast du gekörntes Papier dabei?«
Atemlos nach seinem hektischen Tanz schob Laban sich unter ihren Regenschirm. Das Haar troff, und es gelang ihr nur mit Mühe, ihr Bild zu schützen.
»Nein«, sagte sie.
»Dann nehme ich normales.« Er schob seine nassen Finger in ihre Tasche und wühlte darin herum.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte sie.
»Ich kann doch nicht alles Mögliche mit mir herumschleppen«, erklärte er, »nicht, wenn ich schöpferisch tätig sein soll. Dann muss man sich von allem befreien, was stört, zurück zum Körper gehen, weißt du, der Körper lügt nie.«
»Na hör mal, Vorsicht …«
»Ich benutze nie eine Staffelei. Der Regen, der ist ein Freund, weißt du, das ist Leben geradewegs aus dem Himmel. Ich möchte das Wasser auf der Haut spüren.«
Laban riss ein paar Bogen von ihrem Block ab und drückte ihn dann zurück in die Tasche.
»Und Klebeband, meins habe ich in der Hütte gelassen. Ist es in der Seitentasche?«
Mit einer entschlossenen Bewegung riss sie die Bogen an sich, die er sich zwischen die Zähne geklemmt hatte, knüllte sie zusammen und stopfte sie in die Tasche. Verwundert hielt er inne, die Hand immer noch tief in ihrer Tasche vergraben. Sie hob den Fuß, stellte ihn auf seine nackte Schulter und drückte. Es kam für ihn vollkommen unvorbereitet. Das war das Letzte, was er erwartet hatte. Er verlor das Gleichgewicht und taumelte rückwärts wie eine Birne. Ohne sich abzustützen, schlug er einen Purzelbaum, und sie hörte es knacken, als er auf einen Stein traf. Wie ein Ei.
Lena tat so, als finge sie wieder an zu malen. Der Pinsel zitterte. Laban lag da, er rührte sich nicht. Die Lider halb geöffnet, starr. Es regnete auf das Weiße in seinen Augen. Sekunden vergingen, der Fluss stockte vor ihr, der Strom hielt inne. Nur noch Glas, graues Glas. Ultramarin. Und dann plötzlich ein leuchtender Tropfen Rot.
Er war wieder auf die Füße gekommen. Schüttelte den Kopf, Blut spritzte von den Haaren. Er würdigte sie nicht eines Blickes, sagte nichts, schwankte nur hinunter zum Fluss und watete hinein. Als er knietief im Wasser stand, blieb er stehen, beugte sich vor und benetzte sich den Schädel. Die langen, dünnen Finger umrundeten einen Punkt am Hinterkopf, kreisten den Schmerz ein. Dann richtete er sich wieder auf und breitete die Arme aus wie ein Turmspringer. Wie zu einer...