Nichols | Wie der Duft von Wasser | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Nichols Wie der Duft von Wasser


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86827-907-8
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-86827-907-8
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Zwei unfassbare Tragödien haben das Leben von Sam und Annie Truelove zerstört. Nichts ist mehr geblieben von ihrer Liebe, ihrer Ehe, ihrer Familie. Jetzt, fünf Jahre danach, ist es Zeit, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen und sich ein neues Leben aufzubauen. Nur aus diesem Grund kehrt Annie nach Hause zurück, fest entschlossen, danach alles, was einmal war, für immer hinter sich zu lassen. Doch die Menschen, denen sie begegnet, und die Ereignisse, die sie unweigerlich in den Bann ziehen, stellen plötzlich alles infrage. Kann es nach so vielen Jahren des Schmerzes tatsächlich Vergebung und Hoffnung geben?

Linda Nichols berührt die Herzen ihrer Leser mit ihren Romanen auf einzigartige Weise. Bereits ihr christliches Romandebüt war für den Christy-Award nominiert. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt sie in Tacoma, Washington.

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Genau zu dem Zeitpunkt, als sie durch die Tür des Restaurants The Inn in Smoky Hollow hätte treten sollen, hatte Annie Ruth Dalton Truelove eine Herde Romney-Schafe geschoren. Sie hatte sich die ganze Woche von ihrer Arbeit bei der Times Urlaub genommen – etwas, das bisher noch nie vorgekommen war – und hatte deshalb ihre Schere einpacken und vor Sonnenaufgang aufbrechen können, als Jossie Delorme angerufen und sie um Hilfe gebeten hatte. Sie hatte den ganzen Tag gearbeitet, und genau zu der Uhrzeit, die Sam genannt hatte, neunzehn Uhr dreißig Ostküstenzeit, sechzehn Uhr dreißig Westküstenzeit, die sie auf der etwas trüben Digitalanzeige ihrer schwarzen Plastikarmbanduhr ablas, beendete sie ihre Arbeit und kämpfte mit einem besonders eigensinnigen Bock. Beim Gedanken an ihn regte sich eine starke Sehnsucht, bei der ihr Herz schneller schlug. Genauso wie jedes Jahr an diesem Tag und auch an einigen Tagen zwischendurch, wenn sie ehrlich war. Aber es war schwer, sich vor Sehnsucht zu verzehren, während man mit einem zweihundert Pfund schweren Bock kämpfte. Deshalb konzentrierte sie sich lieber auf ihre Arbeit, und die Sehnsucht verging. Sie verging immer irgendwann.
Jetzt, am Morgen danach, wurde ihr bewusst, wie dumm sie gewesen war. Sie war in ihrem echten Leben zurück, gewaschen und ordentlich gekleidet und wieder bei klarem Verstand. Die Schafe waren geschoren und die Wolle war unterwegs, um zu Garn gesponnen zu werden. Sie hörte sich seine Nachricht noch einmal an, und ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass die Gelegenheit wieder da gewesen war. Und wieder hatte sie sie ungenutzt verstreichen lassen.
Sie hatte die Absicht gehabt, hinzufahren. Wieder einmal. Sie hatte Vorbereitungen getroffen. Wie immer. Sie hatte sich Urlaub genommen, sogar ein Kleid gekauft, ein hübsches grünblaues Kleid, und ein Paar Opalohrringe und eine dazu passende Halskette. Sie hatte ihre Tasche gepackt und einen Flug gebucht. Wie immer. Aber auch wie immer hatte sie vor dem letzten Schritt gezögert, und genau in dem Moment hatte Jossie Delorme angerufen und sie um Hilfe gebeten. Deshalb war sie gestern, als sie dort bei ihm hätte sein sollen, in Marysville gewesen und hatte Schafe geschoren. Etwas wie Panik erfasste sie jetzt, und für einen kurzen Moment dachte sie an überstürzte, leidenschaftliche Maßnahmen.
Sie könnte ihn anrufen. Sie könnte sogar jetzt hinfliegen, statt in das Flugzeug nach Los Angeles zu steigen. Aber heute hätte er keine Zeit. Heute wäre er wütend, weil sie nicht gekommen war. Heute wäre er Dr. Truelove und sie würde nur stören. Ihre Chance war gestern gewesen.
Die panische Verzweiflung regte sich erneut. Es war nicht zu spät. Sie könnte … Sie brach ab. Was hatte es schon für einen Sinn? Jede neue Idee und jeder Plan endeten immer in derselben Sackgasse. Sie könnten beide im selben Raum sitzen, aber was nützte das, solange sich in ihren Herzen nichts veränderte?
Besonders in seinem Herzen. Ihres war unverändert, redete sie sich ein. Sie war dieselbe Frau, die er geheiratet hatte, einschließlich ihrer Sommersprossen. Aber er hatte sich in einen anderen Menschen verwandelt. In einen wütenden und besessenen Mann. Jemand, den sie nicht kannte. Jemand, den sie auch nicht kennen wollte. Sie erinnerte sich an das, was ihn verändert hatte, und ihr Selbstvertrauen geriet ins Wanken. Etwas wollte sie einholen, aber sie erhöhte ihre Geschwindigkeit und ließ es nicht an sich herankommen.
Sie verdrängte die ganze Angelegenheit. Das musst du machen, sagte sie sich. Konzentriere dich auf deine Arbeit und denk an etwas anderes. Denk an heute. Sie zog ihr beigefarbenes Kostüm an, ein Zugeständnis an die Geschäftswelt, wickelte aber ein Tuch unter die Aufschläge, ein goldfarbenes Tuch, korall- und rostfarben durchzogen. Ein weiterer kniffliger Moment war es, als sie ihre Bernsteinkette umlegte und die Ohrringe ansteckte. Sam hatte ihr diesen Schmuck am Morgen nach der Hochzeit geschenkt. Als sie aufgewacht war, hatte sie das kleine Päckchen neben sich auf dem Kissen gefunden. Es war eine alte Tradition, hatte er gesagt, das Morgengeschenk, das Geschenk des frisch vermählten Mannes an seine Frau zum Beginn ihres ersten Tages als Ehepaar. Sie legte den Schmuck jetzt an und weigerte sich, daran zu denken, wofür er stand und wer ihn ihr geschenkt hatte. Es war ein schöner Schmuck, nichts weiter. Er passte gut zu ihren Haaren.
Schnell packte sie fertig. Sie hatte so oft gepackt, dass sie es im Schlaf konnte, und manchmal sah es auch so aus, als hätte sie im Schlaf gepackt. Das Nachthemd rollte sie eng zusammen und stopfte es zu ihren Schuhen. Einen Moment war sie still und lauschte, wie ihr Apartmentgebäude zum Leben erwachte. Sie bezeichnete es als Apartmentgebäude, aber in Wirklichkeit war es ein altes, heruntergekommenes Haus, in dem sie in der Mitte des ersten Stockwerks eine Wohnung hatte. Über sich konnte sie Mrs Larsens Fernseher hören, aus dem der Wetterbericht in voller Lautstärke dröhnte. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Eigentlich sollte sie noch einmal nach ihr sehen und sie erinnern, wohin sie fuhr und wann sie zurück wäre, damit sie sich keine Sorgen machte.
Sie warf einen letzten prüfenden Blick in ihren Koffer. Es war Zeit, sagte sie sich, verdrängte aber den Gedanken, dass das, was sie vorhatte, der Schritt, den zu gehen sie beabsichtigte, ihr Leben für immer verändern würde. Er würde sie noch weiter von zu Hause wegbringen, wurde ihr schmerzhaft bewusst.
Bei dem Wort Zuhause stockte ihr Herz, und sie war nicht sicher, ob dieses Wort für die drei möblierten Zimmer in dieser Wohnung in Seattle galt oder für das Haus, das sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, das Haus, in das sie in Gedanken von einer Sekunde auf die andere zurückkehren konnte, indem sie einfach die Augen schloss. Sie spürte die starke Sehnsucht und einen stechenden, durchbohrenden Schmerz, sie hörte das Rascheln des Windes in den Bäumen, fühlte die Hitze auf ihren Armen und im Gesicht, sah die dichten Wälder, die Wolken aus blauem Dunst, roch den herrlichen Duft der Apfelgärten, schmeckte den süßen Geschmack von Eistee.
Aber das Leben bestand daraus, ständig neue Entscheidungen zu treffen, nicht wahr? Das redete sie sich vehement ein. Es war Zeit, sesshaft zu werden und ein neues Leben zu beginnen und das alte ein für alle Mal zu vergessen. Sie war dazu bereit. Sie schaltete das Licht aus, warf einen letzten geübten Blick durch die Wohnung, um sicherzugehen, dass alles an seinem Platz war, dann zog sie die Tür zu und schloss ab.
Sie trat auf den Flur, ließ aber den Koffer neben ihrer Tür stehen und ging die Treppe hinauf. Sie klopfte. Nach einer langen Minute schaute Mrs Larsens runzeliges Gesicht zu ihr heraus. Annie erfüllte eine starke Zuneigung zu der Frau. Sie liebte die alten Leute. Sie hatten etwas so Friedliches an sich, und sie vermutete, dass es damit zu tun hatte, dass sie ihr Leben zum größten Teil gelebt hatten. Die ganze Aufregung und der Kummer und die Not lagen hinter ihnen. Darum beneidete sie die alte Dame.
„Oh, hallo, meine Liebe.“ Mrs Larsen löste die Kette an der Tür und öffnete sie ganz.
„Wie geht es Ihnen heute?“, rief Annie. Mrs Larsen war ein wenig schwerhörig.
„Mir geht es gut. Kommen Sie doch herein und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.“
„Das würde ich gern“, antwortete sie. „Aber ich muss zum Flughafen. Erinnern Sie sich?“
„Oh ja.“ Ein freundliches Lächeln, ein verständnisloser Blick.
„Haben Sie daran gedacht, Ihre Medikamente zu nehmen?“
Die Augen verdunkelten sich verwirrt.
„Schauen wir einfach nach.“ Annie lächelte ermutigend, und Mrs Larsen trat zurück und freute sich, noch ein paar Minuten ihre Gesellschaft genießen zu können. Annie ging in die Küche und fand die Tablettenschachtel, die sie am Tag zuvor bestückt hatte. Die Morgendosis fehlte.
„Ich habe sie genommen. Jetzt fällt es mir ein.“
„Ja, es sieht ganz so aus. Die Tabletten sind weg.“
„Ja. Ja, ich habe sie genommen. Ich habe sie zu meinem Tee und Toast genommen.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja. Ich bin sicher.“
„Gut. Vergessen Sie auch nicht, die Tabletten zum Mittagessen zu nehmen.“
„Nein, das vergesse ich nicht.“ Der freundliche, süße Blick kehrte zurück, und Annie wurde es schwer ums Herz. Mrs Larsen sollte bei jemandem sein, der sich um sie kümmern konnte, und nicht ganz allein hier wohnen. Sie hatte eine Tochter in der Nähe. Aber sie kam nur selten und Annie ärgerte sich einen Moment, doch dann fiel ihr ein: „Du sollst nicht urteilen.“ Außerdem würden ihr wahrscheinlich die Ohren klingen, wenn sie hören könnte, was man zu Hause über sie sagte.
Sie verabschiedete sich und ging die Treppe hinunter. Die arme Mrs Larsen. In fünf Minuten hätte sie vergessen, dass Annie überhaupt hier gewesen war. Sie fragte sich, wie es wäre, eine Weile in Mrs Larsens Haut zu stecken. Als sie fünf gewesen war, waren ihre Eltern aus Norwegen nach Ballard gekommen. „Waren Sie jemals in Norwegen?“, hatte sie sie einmal gefragt.
„Nein“, hatte Mrs Larsen geantwortet und sie ziellos angesehen, während sie versucht hatte, sich an ihre Heimat zu erinnern.
Annie war betroffen gewesen. Es musste traurig sein, sich an die eigene Heimat nicht mehr erinnern zu können.
Sie fuhr zum Flughafen und stieg in den Flieger nach Kalifornien. Sie nippte an ihrem Kaffee, aß den Schokoriegel als Frühstück, obwohl sie Mühe hatte, ihn auszupacken, da die Verpackung mit dem Karamell und der Schokolade eine feste Verbindung eingegangen war. Dann holte sie ihren Laptop heraus und schrieb ein paar Fragen für das nächste Interview auf, das sie mit der Mutter von zwei autistischen Söhnen führen wollte. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein musste, in ihre verschlossenen Gesichter zu blicken und zu wissen, dass sie einen nie in ihr Leben hineinlassen würden. Das Gefühl, ausgesperrt zu sein, war ihr selbst nicht fremd; ebensowenig die Hoffnungslosigkeit, weil man nichts daran ändern konnte.
Sie dachte über ihre Arbeit nach und fragte sich, warum sie das machte. Die Storys, die sie recherchierte, die Geschichten, die sie aufschrieb, waren vielleicht nicht schön, aber sie waren wahr, und sie webte sie genauso, wie sie früher Teppiche gewebt hatte, und zog den Faden der Wahrheit fest an, damit das Muster darauf sichtbar werden konnte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es solche Geschichten gab, als sie ihre Träume gesponnen hatte, geschweige denn, dass sie darin leben würde, in einer dämmrigen Halbwelt, die ihr Zuhause werden würde. Aber in dieser Welt lebten Menschen, und ihre Geschichten verdienten es, erzählt zu werden, ihr Schmerz verdiente es, respektiert zu werden. Sie verdienten einen Zeugen, aber sie hatte nie gedacht, dass sie selbst die Stimme dieser Menschen sein würde. Sie hatte sich ausgemalt, dass sie im Reich des Lichts leben würde, nicht im Schatten. Meine Güte, war sie naiv und idealistisch gewesen! Sie lächelte darüber, was das Leben aus Idealen machte, wie die Realität sich auf Träume auswirkte. Sie schüttelte den Kopf und ignorierte den Knoten in ihrem Magen, den sie seit dem Vortag nicht mehr vertreiben konnte. Seit fünf Jahren, um genau zu sein. Sie versuchte, nicht an den Schmerz zu denken, der ihr signalisierte, dass sie mit sich nicht im Einklang war. Fehl am Platz. Dass sie etwas Wichtiges versäumte. Dass sie trotzdem nicht zu Hause war, auch wenn ihr diese Umgebung so natürlich vorkommen mochte.

Es war warm, auch jetzt noch am späten Nachmittag hatte es um die achtundzwanzig Grad. Die Sonne schien, aber der Himmel war dunstig, und das erinnerte sie an zu Hause. Sie machte einen Schaufensterbummel, ging über die Promenade und schaute sich in den Boutiquen und Souvenirläden um.
Vor der nächsten Tür blieb sie stehen. O‘ Haras Antiquitäten und Sammlerstücke war in goldenen Buchstaben in die Tür graviert. Annie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte noch genug Zeit, und an einem Antiquitätengeschäft hatte sie noch nie vorbeigehen können. Antiquitätenläden strahlten etwas aus, das sie faszinierte, und dieses Geschäft bildete davon keine Ausnahme. Sie schob die Tür auf und trat ein, dann schloss sie die Augen und schnupperte, denn der typische Geruch war immer das Erste, das ihr auffiel. Er hob sie hoch und versetzte sie in die Vergangenheit, der Duft von etwas Vertrautem und Liebgewonnenem an diesem fremden, unbekannten Ort. Es war eine Mischung aus altem Papier und Staub und Holzrauch, der vielleicht in einem Tuch, einer Tischdecke oder einer Wolldecke steckte. Ein bittersüßes Gefühl legte sich um ihr Herz. Sie schlenderte durch den ersten Gang. Die Klimaanlage erzeugte eine Gänsehaut auf ihren Armen, oder kam das Frösteln von etwas anderem?
Als sie zur Kasse trat, die natürlich antik war, begrüßte eine kleine, rundliche Frau sie.
„Guten Tag“, sagte die Frau. Sie lächelte. Annie war von ihren schönen Augen verblüfft. Sie hatten ein hübsches, klares Wasserblau und wiesen in den Winkeln freundliche Falten auf.
Annie verließ solche Geschäfte nie, ohne ein Souvenir zu kaufen. Ein Taschentuch, Spitzen, ein Buch, einen Papierfächer. Aber sie würde gewiss keinen Toaster aus den fünfziger Jahren kaufen, auch wenn sie wirklich gern ein Souvenir mitnehmen würde.
„Ich wollte gerade eine neue Kanne Kaffee aufsetzen“, sagte die Frau. „Möchten Sie eine Tasse, wenn er fertig ist?“
„Sehr gern“, antwortete Annie. Wie großzügig. Wie unerwartet, dachte sie und war ungewöhnlich dankbar.
Sie schlenderte durch die Räume und schaute sich um. Ganz hinten fand sie das Besondere, nach dem sie suchte. Es waren mehrere Räume mit Fenstern, wie ein Haus mitten in dem Geschäft. Es war wahrscheinlich früher ein Büro gewesen, aber der Besitzer hatte darin ein viktorianisches Wohnhaus nachgeahmt. Er hatte sogar die Außenseiten der Wände im Zuckerbäckerstil verziert. Annie trat über die Schwelle in den angeblichen Salon und schaute sich verwundert um. Sie kam sich vor, als wäre sie aus diesem Jahrhundert in ein anderes getreten.
Zwei dunkelrote Sessel standen vor einem Ofen. Orientteppiche lagen auf dem Boden. Warmes Licht ergoss sich aus viktorianischen Lampenschirmen auf polierte Mahagonitische. Drucke von Maxwell Parrish zierten die Wände. Sie blinzelte, blieb stehen und schaute sie einen Moment an, bevor sie ins Schlafzimmer trat. Eine Wiege war neben ein Himmelbett geschoben. Sie war leer.
Sie ging schnell in die Küche weiter. Dieses Mal wurde ihr Blick auf etwas gelenkt, das ihr vorher nicht aufgefallen war: ein kleines, rotes Quadrat an der Wand. Darauf war ein Bild von Jesus eingraviert. Sein Gesicht war sanft. Er hielt auf dem rechten Arm ein Lamm und in der linken Hand einen Hirtenstab. Die Ränder waren abgestoßen, aber die geschwungenen Buchstaben, die eingraviert waren, waren unbeschädigt. Sie las die Worte, und ihr Herz hämmerte, als hätten sie eine wichtige Bedeutung. Meine Schafe hören meine Stimme.
Sie ging darauf zu, hob die Hand, um es zu berühren, und sobald sie das tat, wusste sie, dass sie dieses Bild kaufen wollte. Sie nahm es von der Wand, hielt es vorsichtig in den Händen, dann drehte sie es um und warf einen Blick auf die Rückseite. Jemand hatte in einer hübschen alten Handschrift etwas daraufgeschrieben. Auf der Erde gibt es keinen Schmerz, den der Himmel nicht heilen könnte.
Die Worte bohrten sich in ihr Herz. Sie erzeugten eher eine Wunde, als dass sie sie getröstet hätten.
Sie nahm das Bild und setzte sich in den Schaukelstuhl. Was hatte diese Botschaft zu bedeuten? Sie berührte den weichen Samt und las die Worte wieder. Meine Schafe hören meine Stimme.
Gottes Stimme hatte sie schon so lange nicht mehr gehört, dass sie sich nicht erinnern konnte, wie sie klang. Sie schaute auf das Lamm hinab. Auf das freundliche Gesicht des Hirten. Sie atmete tief ein und aus. Wo war er? Dieser Jesus von Golgatha, der Herzen heilte und Menschenleben veränderte? Sie sah ihn nicht mehr.
Annie lehnte sich auf dem Schaukelstuhl zurück und war nicht mehr in Los Angeles, sondern wieder dort: In der Küche mit der hohen Decke, sie saß am Eichentisch und fühlte das glatte Öltuch unter ihrer Hand, nippte an ihrem süßen Tee, hörte das Klappern des Geschirrs, das Murmeln der vertrauten Stimmen. Sie schloss die Augen, und der Friede, nach dem sie sich sehnte, machte sich schwach bemerkbar wie der leichte Duft von etwas Schönem, der im Wind vorüberzog.


Linda Nichols berührt die Herzen ihrer Leser mit ihren Romanen auf einzigartige Weise. Bereits ihr christliches Romandebüt war für den Christy-Award nominiert. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt sie in Tacoma, Washington.



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