E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Nganang Zeit der Pflaumen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7795-0509-9
Verlag: Peter Hammer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-7795-0509-9
Verlag: Peter Hammer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wieder einmal erzählt Patrice Nganang die Geschichte seiner Heimat Kamerun mit literarischen Mitteln neu. Zeit der Pflaumen setzt im August 1940 ein, als für Kamerun der Zweite Weltkrieg beginnt und erzählt, wie sein Beben das Land im Zentrum Afrikas erschüttert und das Leben der Menschen tiefgreifend verändert.
An verschiedenen Schauplätzen verfolgt der Roman das turbulente Schicksal der Bewohner des Dorfes Edea im Süden Kameruns. Da ist zum einen die abenteuerlich-absurde Geschichte von vier jungen Männern, die sich als Soldaten von der französischen Armee anwerben lassen und im Wüstenkrieg gegen Italiener und Deutsche als Kanonenfutter verheizt werden. Zum anderen das wechselhafte Schicksal dreier Freunde, ihrer Frauen und Familien, deren Alltag heimgesucht wird von Gewalt und Verlust und in dem doch auch fortlebt, was immer war: Lebenslust, Erotik, Freundschaft und das Weiterspinnen der eigenen Träume.
Wie die Menschen von Edea hineingeraten in die Ereignisse des Krieges und wie sie im Verborgenen ihre Ideen von Protest, Hoffnung und Unabhängigkeit vorantreiben, erzählt Patrice Nganang mit grimmigem Humor und in einer burlesken und bilderreichen Sprache, die in ihrer Meisterschaft dem großen literarischen Vorbild Ahmadou Kourouma ebenbürtig ist.
Autoren/Hrsg.
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Wie Cousins aus der Sage
Hebga war ein junger Mann in den Zwanzigern. Seine ausgeprägte Brustmuskulatur, auf der sich ein paar Haarbüschel unterscheiden ließen, stellte eine echte Herausforderung dar. Seine geflochtenen Haare, die durch einen Mittelscheitel geteilt wurden, ein Überbleibsel eines deutschen Haarschnitts, gaben ihm eine Eleganz, die das aufgebauschte Tuch unterstrich, das er großzügig zwischen seinen Beinen hindurch geschwungen und um die Hüften verknotet hatte. Für Pouka war er ein Adoptivbruder und war es immer gewesen. Was die beiden vereinte, hatte etwas von der mysteriösen Bindung im ländlichen Afrika, die stärker war als das Blut, das den Schreiber mit den fünfzig anderen Kindern seines Vaters verband, verdankte sich in Wirklichkeit aber der Hartnäckigkeit einer Frau. Denn Pouka war eigentlich von Sita erzogen worden, Hebgas Mutter, der ältesten Schwester seines Vaters, und für die Einwohner von Edea Mutter des Marktes. Sie hatte es nie ertragen können, dass sie nur ein Kind hatte, und den erstgeborenen Sohn ihres Bruders angenommen, als wäre er ihr zweiter. Dies geschah ganz im Sinne des jungen Pouka, der sich über seinen älteren Adoptivbruder freute, da er keinen leiblichen hatte. Die Verbindung zwischen beiden Jungen war in den Tiefen des Waldes geknüpft worden. Nach dem Tod des Vaters hatte Hebga Holzfäller werden müssen. Damals war er erst sechzehn Jahre alt. Dass ein Irokobaum ihn zur Waise gemacht hatte, hatte ihm, wie es schien, ein unstillbares Verlangen nach Rache eingegeben. Der Wald war von seinen zahllosen Feinden bevölkert. Allein stellte er sich dem Baumstamm gegenüber, dort, wo es normalerweise einer Legion von Männern bedurfte, um einen Stamm zu fällen. Pouka folgte ihm immer in die Wildnis, wobei er auf seinem Kopf Essen und Wasser trug, die Hebga Kraft gaben. Wenn Hebga seinen Kampf mit dem auserwählten Baum begann, rief Pouka ihm Worte der Ermutigung zu und stimmte manchmal Psalmen an, die seine Anstrengung verdoppelten. Ihre Verbindung stützte sich bald auf regelmäßige Gesänge und Seufzer, anfeuernde Worte und Mühen, und war bald so eng, dass man kaum sagen konnte, wer den anderen am meisten benötigte. Es war daher nur eine Frage der Zeit, dass die Tatkraft und der Schwung dieser Bruderschaft von Schweiß und Wort bekannt wurden. Edea wachte eines Morgens von lauten Stimmen auf, die ankündigten, dass Boxchampions ins Dorf kommen würden. Das war nichts Besonderes, denn mehrmals in der Trockenzeit fuhr die Eisenbahngesellschaft über Land, um ihr Spektakel vorzuführen und Geld einzusammeln. Die Beteiligten waren ebenso Schauspieler wie abgefeimte Sportler, die von einem durchtriebenen Manager trainiert wurden, einem Franzosen obendrein, der begriffen hatte, welchen Vorteil er aus der Inszenierung spektakulärer, doch vorgegaukelter Kämpfe ziehen konnte. Den Dorfbewohnern eröffnete er eine Gelegenheit, aus ihrem tristen Alltag auszubrechen. Zwei Kraftprotze schlugen sich unter dem Beifall der Meute die Köpfe ein, während die Frauen ihren Kindern die Augen zuhielten und die männliche Torheit verfluchten. Die Männer sahen lieber den Boxkämpfen zu als dem Wanderkino, das die katholische Kirche organisierte, denn mit der Zeit brachten Abbé Jeans Filme nur noch die Kinder zum Lachen. Also stieg die Nachfrage nach dem Boxen; die Gesellschaft machte sich die Kampfpausen zunutze und erhöhte die Wetteinsätze. Eines Tages passierte jedoch Folgendes: Einer in der Menge, ein Knabe, schüttelte sich vor Lachen, als der Ringrichter die Hand des von ihm zum Sieger Erklärten in die Höhe riss. Welches Insekt hatte Pouka gestochen? Er hörte nicht auf mit seinem despektierlichen Gelächter, der Flegel, als der Boxer, der zum Champion von Kamerun erklärt worden war, ihn mit seinen roten, blutunterlaufenen Augen ansah, ganz im Gegenteil! Wie elektrisiert davon, dass er plötzlich die Aufmerksamkeit der Menge auf sich gezogen hatte, rief der Junge, so laut er konnte: »Mein Cousin ist der Champion von Kamerun!« Die Boxer lachten schallend los. Sie waren aber die Einzigen in dem Nest, die Hebga nicht kannten. Gelegentlich hatten sie auf ihren Tourneen Dörfler angetroffen, bei denen die harte Feldarbeit schillernde Visionen gigantischer Siege heraufbeschwor und die aus Mangel an Bescheidenheit darin nicht den Größenwahn erkannten, der für den Ohnmächtigen charakteristisch ist. Vielleicht sah er eine Gelegenheit, noch mehr Geld zu verdienen, indem er der alltäglichen Routine einen Überraschungskampf hinzufügte – jedenfalls fragte der Manager die Menge: »Wer ist dieser Champion?« Niemand gab sich zu erkennen. »Wo ist er, dein Cousin?«, fragte er den Jungen. Pouka zeigte mit dem Finger auf ihn. Die Augen der Zuschauer richteten sich auf die stille Kraft, die wie alle dem Kampf ohne großes Interesse zugeschaut hatte. Von dem, was am Tag danach geschah oder eine Woche später, spricht man in Edea noch immer, jedoch nicht, weil der Sieger vom Vortag dem Schlachtfeld jäh den Rücken kehrte und in den Wald floh, sondern weil sein Agent Sita nicht überzeugen konnte, ihm als Ersatz für jenen ihren Sohn zu überlassen, trotz des Koffers voll Geld, den er vor den Augen der Händlerin geöffnet hatte. Sita hatte so etwas anscheinend schon gesehen. Als Mutter des Marktes vermietete sie die Stände an die Frauen. Sie war zudem beauftragt, die monatlichen Beiträge einzusammeln, die ihnen als Krankenversicherung dienten. Dass sie es gewohnt war, Geldbeträge zu verwalten, war offenkundig. Doch diesmal war die Rede vom »Koffer voll Geld«, der vor ihren Augen offen dalag, selbst wenn das ein wenig übertrieben war. Der Weiße sprach erstmals in Sitas Haus von der Möglichkeit, ihren Sohn nach Jaunde mitzunehmen. Hebgas Mutter ließ sich davon so wenig beeindrucken, dass er sein Angebot durch den Vorschlag ersetzte, ihn nach Duala mitzunehmen. Als Sita sich noch immer ungerührt zeigte, erhöhte er nochmals den Einsatz, indem er versprach, ihren Sohn nach Paris mitzunehmen. Keine Reaktion. Da kam der Geldkoffer ins Spiel. Auch der brachte die Starrköpfigste aller Bayamsallam der äquatorialen Waldregion nicht zum Nachgeben. Die Versionen von dieser Begebenheit sind so biegsam wie die Bücher, in denen sie erzählt werden, eindeutig hingegen, was die Worte von Hebgas Mutter angeht, die den Bemühungen des Weißen ein Ende setzten. Ihre Antwort ging in die Legenden des Bassalandes ein: »Nur über meine Leiche.« Der Mann war verblüfft. Sita wiederholte sich. »Nur über meine Leiche geht mein Sohn nach Paris.« Unbegreiflicher Eigensinn, denn, unter uns, wer träumte nicht davon, nach Paris zu gehen? Lag etwas Verwerfliches darin, sein Talent zum Geldverdienen einzusetzen? Aber die Frau, die ihren Ehemann begraben hatte, wollte nicht ihren Sohn verlieren, der ihr von zehn Kindern, die sie insgesamt gehabt hatte, als Einziger geblieben war. Unsere Geschichte ist auch die, die davon erzählt, wie Poukas poetische Begabung ans Licht kam. Nachdem er sich öffentlich eingemischt hatte, musste er seinen Cousin davon überzeugen, dass in ihm ein Faustkämpfer schlummerte, der einen Profiboxer mitten im Kampf in die Flucht schlagen konnte. Er musste Worte finden, um Hebga, der seine Kraft bisher nur an den Brettwurzeln der Bäume gemessen hatte, tief in der Waldesstille, die durch seine Axtschläge unterbrochen wurde, begreiflich zu machen, dass er mit eben der gleichen Anstrengung einen Riesen niederstrecken konnte. Vom ersten Kampf an bekamen Poukas Worte einen gymnastischen Schwung, entschwebten in mythische Sphären. Und der Junge bückte sich, um sie besser in die Ohren seines Cousins zu flüstern, ihm die Seele zu massieren und seinem Stolz zu schmeicheln, bis er Faust und Körper anspannte und Flammen aus seinem Blick schlugen. Er erfand alle möglichen Adjektive, um seinen Cousin von der ihm eigenen Größe zu überzeugen und ihm zu beweisen, dass sein Gegner nur ein Scheinboxer war: ein »Nichtwesen«, ein »Nichtsnutz«, ein »Sansanboy«. Nur ein Dichter weiß dort Größe zu erschaffen, wo sich der Zweifel niederlässt. »Sohn der Katze!«, sagte Pouka. So sprach er von Hebga, und das war nicht alles. »Löwe der Wildnis!« »Geboren aus dem Furz guter Geister!« Bei jedem dieser Zurufe wurden Hebgas Fäuste zu Stahl, und sobald Pouka das Lied vom Champion anstimmte, setzten die Füße des Stegreifboxers zu einem rhythmischen Tanz an, der seinen Gegner für immer aus dem Gleichgewicht brachte. Pouka sang, die Menge klatschte und trampelte, und der Dorfboxer schlug seine Fäuste in die Augen, auf die Nase, an die Schläfe des Gegners. »Adler, Adler der Wildnis!« Und Pouka rief: »Die Axt!« Alle stimmten ein, mit zwei Silben: »Die Axt!« »Die Axt!« »Die Axt!« »Die Axt!« Ein Faustschlag kann die Wucht einer Stadt haben. Hebgas Faustschläge hatten die Wucht eines Waldes. »Die Axt!« Denn in ihm lebte das Bassaland – »Die Axt!« –, durch Poukas Lieder verlieh es ihm Kraft. »Die Axt!« Bald wurden die Rufe des Pöbels langsamer: »Die Axt!« »Die Axt!« »Die Axt!« Hebga hatte seinen Gegner zu Boden gestreckt. Er tänzelte um ihn herum, sprach Beschwörungsformeln, brüllte Flüche, sagte Unanständiges. Der Boxer versuchte sich zu erheben. »Die Axt!« »Die Axt!« »Die Axt!« Diesmal kämpfte er mit vollem Körpereinsatz. Seine Knie, nein, seine Füße, nein, seine Wirbelsäule, sein ganzer Körper streikte plötzlich. Er taumelte, hielt sich aber aufrecht. »Zerschlag ihm die Nase!« Die Menge kann unberechenbar werden. In die Totenstille, die der Mann...