Newton Die Legende der Roten Sonne - Stadt der Verlorenen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8025-9046-7
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 02, 528 Seiten
Reihe: Legende-der-Roten-Sonne-Reihe
ISBN: 978-3-8025-9046-7
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Die Stadt Villiren wird von mächtigen Banden und monströsen, halbmenschlichen Geschöpfen beherrscht. Als eine Invasionsarmee sich der Stadt nähert, zieht Kommandant Brynd Lathraea mit seinen Soldaten aus, um sie vor einer feindlichen Übernahme zu schützen. Dazu muss er jedoch einen Pakt mit dem Anführer einer der gefährlichsten Banden der Stadt eingehen ...
Mark Charan Newton wurde 1981 geboren. Nach einem naturwissenschaftlichen Studium arbeitete er als Buchhändler und Verlagslektor, bis er seinen ersten Roman an Pan Macmillan verkaufte. Newton lebt und arbeitet in Nottingham.
Weitere Infos & Material
PROLOG
Höher als ein Soldat ragte sie auf, die Spinne, die sich in die tiefe Nacht begab. Dicke Fäden spann sie, um sich von Wand zu Wand zu schwingen und um die unwahrscheinlichsten Ecken zu kommen.
Mit zwei, dann vier Beinen erkletterte sie eine Mauer, mit sechs, dann acht Beinen erreichte sie die Treppe eines Wachturms und schließlich eine schöne Aussicht über den Dächern von Villiren. Während die Brandung von ferne donnerte, atmete das Geschöpf aus.
Mit klackenden Schuhen ging unten ein Paar entlang, der Größe nach zum Schlachten geeignet. Nein, die nicht, es ist noch zu früh, dachte die Spinne jedoch, ließ sich vom Geländer einer Steintreppe ab, hing in der Luft und verschaffte sich so eine neue Perspektive. Schnee wehte vom Himmel – erst in einzelnen Flocken, dann dichter – und ließ die Stimmung in den Straßen noch lastender erscheinen.
In diesem Halbdunkel wartete die Spinne.
Wenn Leute durch Straßen und Gassen gingen, witterte sie die chemischen Veränderungen in der Luft und spürte die winzigen Erschütterungen, die ihr verrieten, wo sie sich befanden: Sie konnten sich nicht verbergen. Vorsichtig schob sich die Spinne auf einen Vorsprung aus solidem, noch nicht so altem Mauerwerk. Wieder spann sie einen Faden, ließ sich langsam daran herab und schwebte wie eine Tänzerin im Wind. Straßen erstreckten sich gitterartig vor ihr durch die eintönig bebaute Ebene. Im Laufe der letzten Stunde hatte die Zahl derer, die draußen unterwegs war, stark abgenommen; nur noch eine Handvoll Menschen trotzte der enormen Kälte.
Deren Angst konnte die Spinne beinahe spüren.
Einen von ihnen galt es zu wählen – nicht zu jung sollte er sein, und nicht zu alt. Als das Geschöpf sich behutsam auf den Boden herabließ, zerfiel die Welt in Winkel und Straßenfluchten.
Auf der Suche nach Frischfleisch krabbelte die Spinne ins Dunkle.
Was für ein grässlicher Schrei, dachte Haust. Anders als bei einer Banshee war er so plötzlich verstummt, als wäre da wem die Kehle durchgeschnitten worden. Hausts Sinne waren nun blitzwach, und seine Angst nahm gewaltig zu. Am Nachthimmel kreisende Pterodetten flatterten und krächzten aufgebracht.
Das ist wirklich das Letzte, was ich mir auf Nachtwache wünsche, überlegte er. Eigentlich hätte er längst im Bett liegen, besser noch im Offizierskasino sitzen und billigen Wodka süffeln sollen, doch sein blöder Kommandeur hatte unsinnige Vorstellungen von öffentlicher Sicherheit. Die Straßen sollten patrouilliert, der Eindruck von Kontrolle und Autorität gewahrt, die Bevölkerung beruhigt und ihre Skepsis der Armee gegenüber verringert werden. Im Moment war es Haust egal, dass er Nachtgardist war, also unter besonderem magischem Schutz stand, denn er fror sich den Ast ab, und daran änderte alle Magie nichts.
Fackeln ließen die fallenden Flocken wie Funken eines Schmieds erscheinen – ein schöner Anblick eigentlich, doch es herrschte Eiszeit, und alle Welt hatte die Nase seit Langem gestrichen voll von dem ewigen Schnee.
Nur wenige Menschen waren um diese Zeit noch unterwegs. Zuletzt war ihm ein Mann mit Kapuze begegnet, der durch die Gassen eilte und gewissenhaft in den Zähnen stocherte. Die sture Regelmäßigkeit und nackte Modernität der Gebäude ringsum ließen auffälliges Verhalten ins Kraut schießen. Nichts als langweilige Labyrinthe! Ging man um eine Ecke, glaubte man dort zu sein, von wo man eben gekommen war, und fürchtete bald, nie mehr aus diesem Irrgarten zu finden. Die Bauten hier waren ohne ein Bedürfnis nach Schönheit errichtet worden, und Haust war froh, woanders zu wohnen.
Seit einigen Monaten erst war er bei der Nachtgarde, hielt sich aber bereits für einen Helden. Seiner Fähigkeiten als Bogenschütze wegen war er von den Dritten Dragonern, der Wolfsbrigade, in die Elitetruppe des Reichs übernommen und quer durch den Boreal-Archipel in eine Stadt gesandt worden, die zum Krieg rüstete. Groß, blond und gut aussehend, hielt er sich für unbesiegbar – und als Nachtgardist war er das ja beinahe. Der Kommandeur, ein Albino, hatte gerade ihn in die Elitetruppe berufen. Diese Beförderung war ein gewaltiger Karriereschritt und ließ ihn zu den besten Soldaten gehören. Nachts träumte er von Stimmen, die ihm zuflüsterten, er sei erwählt. Über solche Tatsachen kann man nicht hinweggehen, fand er.
Er schlang sich den schwarzen Umhang fester um den Leib und stapfte erkundend durch die Gassen. Die Altstadt lag gut anderthalb Kilometer weg, und er hielt auf die Stadtmitte jenseits der schlechten Hotels und geschlossenen Bistros zu. Torbögen aus Walfischknochen waren ins Pflaster eingesenkt – Totems der Fischer, die zu Tausenden im Laufe der Epochen auf See geblieben waren. Diese Bögen gehörten zu den wenigen erhaltenen Bauten der Stadt, die nahelegten, dass die alte Stadt einst prächtiger gewesen war. In diesem Viertel ragten auch drei riesige Reptilienflügelpaare aus Onyx auf, sechzig Meter hoch und in hundert Schritten Entfernung voneinander zu einem Dreieck arrangiert.
Wieder ein Schrei, doch er wusste nicht, von wo genau. Verflixt unheimlich hier, dachte er. Etwas bewegte sich über seinem Kopf. Ein Garuda? Warum war er so ängstlich? Immerhin war er Soldat, und man erwartete von ihm, in allerbester Verfassung zu sein.
Plötzlich kamen Katzen auf die Gasse, zwei, vier, unzählige. Ihre Pfoten huschten übers Pflaster, und mitunter schlugen sie einander, ehe sie sich kundschaftend in der Ferne verloren.
»Ist da wer?«, rief er.
Nur das Echo kehrte zurück, und er empfand eine Art Schwindel, während die Straße sich seltsam veränderte. Von einer tröstenden Flasche Wodka schien er nun unendlich weit entfernt.
Hinter der nächsten Ecke entdeckte er etwas, näherte sich und stellte fest, dass ein Toter auf dem Pflaster lag. Der junge Brustkorb war aufgebrochen, die Organe waren aufs Pflaster gerutscht. Seltsamerweise wirkte die Leiche, als wäre sie schon einige Zeit tot, länger jedenfalls als seit dem furchtbaren Schrei. Und er entdeckte Weiteres: Die Wunde war nicht sauber und überdies von losem Haar umgeben, das fein, fest und daumenlang war. Neben dem Toten lag ein blutiges, silbrig schimmerndes Fleischerbeil. Im Licht der Straßenfackeln stieg Dampf aus dem unterirdischen Heizsystem in die eisige Abendluft.
Wer mag das getan haben?
Von hinten kam jemand in Stiefeln übers Pflaster, und sofort zog Haust den Säbel. Noch konnte er nichts erkennen und folgte darum den Fassaden. An einer Ecke bröckelten rätselhafterweise Steine, doch noch immer war nichts zu sehen. Haust verharrte reglos, um mit magisch geschärften Sinnen etwas zu bemerken. Eine Katze kam aus einer Gasse getrottet, doch das war hundert Schritte entfernt. Über ihm schimmerte ein zerbrochenes und ausrangiertes Schwert. Von Süden drang der Gesang eines Jorsalirpriesters an sein Ohr, den der Wind herangeweht hatte.
Dann traf ihn ein Schlag auf den Kopf, und Haust wurde ohnmächtig …
Metallisches Kreischen weckte ihn schließlich. Rasch begriff er, dass er in einem dunklen Zimmer lag. Warum hatte er den Eindruck, es befinde sich unter der Stadt? Vielleicht wegen der Luft oder der irgendwie gewölbten Decke, die ihn an ein Grab denken ließ. Aus den Augenwinkeln sah er die Kanten und Flächen von Klingen und Messern schimmern, und an den Wänden hingen kleine Schwerter.
Plötzlich sagte eine deutliche Stimme: »Willkommen in meinem Schlachthaus!«
»Wer seid Ihr?«, keuchte Haust. Der Mann trug Zylinder, weißes Hemd, Weste und schwarze Kniehose; er war gekleidet wie die exzentrischen Gestalten in den Untergrundtheatern Villjamurs. Er war schlank, trug einen dünnen Schnurrbart und lächelte in einem fort. Rechts von ihm ragte etwas Spinnenähnliches auf, das aber fast menschliche Augen besaß. Mitunter erhob es sich auf die Hinterläufe und rieb die übrigen sechs Glieder, während das Paar Standbeine auf dem Steinboden klackte.
»Ich?«, gab der Mann mit Zylinder zurück. »Ich betreibe diese kleine Show. Also bin ich im technischen Sinne wohl dein Mörder.«
»Aber ich bin doch nicht tot … oder?« Haust ließ den Blick erneut durchs Zimmer gleiten, doch noch immer gab es keinen Hinweis für die Annahme, dass er sich noch in einer sicheren Welt befand.
»Nicht so ungeduldig, Junge«, erwiderte der Mann. »Und eine grammatische Korrektur: Ich werde dein Mörder sein. In diesen Dingen gilt es, genau zu sein! Du hast dir den falschen Abend zum Spazierengehen ausgesucht, stimmt’s?«
Haust spürte, dass er hochgehoben wurde und jemand ihm ein Seil um die Taille geschlungen hatte. Dann merkte er, dass es mit nichts verbunden war. Als hätte der gut Gekleidete seine verwirrte Miene bemerkt, sagte er: »Ach das … Daran wirst du dann zum Ausbluten und Abkühlen aufgehängt. Das sind so die Prozeduren – und manchmal bin ich sie herzlich leid … Aber du weißt ja, wie es mit diesen Dingen ist.«
Dünne Rauchspuren nahmen die Umrisse von Armen und Leibern an, schattenhafte Gestalten berührten ihn, strichen ihm fast erotisch über Hände, Hals und Gesicht. Fast glaubte er, in ihren leeren Höhlen Augen zu sehen.
»Was sind das für welche?« Haust war gelähmt, zitterte nur im festen Griff der Geister.
»Die dich da heben, nennen wir Phonoi«, sagte der Mann. »Prächtige Geschöpfe, nicht wahr?«
Eine der Erscheinungen flüsterte: »Sollen...