Notizen aus dem Nahverkehr
E-Book, Deutsch, 210 Seiten
ISBN: 978-3-7557-0655-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Neuner (*1960) arbeitet als Lehrer und Musikjournalist im Südhessischen.
Autoren/Hrsg.
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Wie ich einmal Recht hatte.
John Cage zeichnet Kreise. Will ich an die Begegnung mit einem der Großen aus dem Zauberreich der Musik, mit einem der ganz großen Magier, um genauer zu sein, erinnern, so muss ich schon recht tief im Schatzkästlein meiner Erinnerungen kramen, um jenes Kleinod hervorzuzaubern, von dem ich jetzt gleich berichten möchte. Vor Jahren war es, da hatte ich mich auf eine musikwissenschaftliche Prüfung vorzubereiten. Diese Prüfung war mündlicher Natur, und ich sollte mich, so war es mit dem Prüfer abgesprochen, für zwei frei von mir zu wählende Themen präparieren. Da ich schon damals auf dem Violoncello hausmusikalisch vor mich hin dilettierte, schien es mir naheliegend, Johann S. Bachs Sechs Suiten für Violoncello solo zum Gegenstand der peinlichen Befragung zu machen, zumal ich das eine oder andere daraus selbst spielen konnte und mir der Gegenstand also nicht vollkommen fremd war; dazu wählte ich Franz Schuberts Liederzyklus Schwanengesang, über den ich Jahre später noch würde Erhellendes in einer Fachzeitschrift veröffentlichen dürfen, was allerdings ohne große Resonanz seitens der Fachwelt geblieben war und, wie ich die Fachwelt so kenne, wohl auch bleiben wird. Möglichst wenig Aufwand für diese anstehende Prüfung zu betreiben, das war meine Devise, zumal sie nicht die einzige war; nein, ein ganzer Strauß unterschiedlichster Prüfungen war für mich gebunden worden, in der diese, die musikwissenschaftliche, letztlich nur ein kleines Blümchen im Bukett darstellte. Ökonomisches Vorgehen – das schien mir die so vernünftige wie angemessene Vorgehensweise in dieser Angelegenheit zu sein. Schubert bereitete keine Probleme; für Bach musste ich lernen und mich gedanklich in die Tiefen der Probleme barocker Formgestaltung und polyphoner Linienführung versenken; ich lernte, Allemanden von Couranten, Sarabanden von Airs und dergleichen mehr zu scheiden, beschäftigte mich mit den Fragen historisierender Aufführungspraxis und informierte mich darüber, was der Meister in seiner Köthener Zeit, da die Cellosuiten entstanden, auch sonst noch für nichtmusikalisches Allotria getrieben hatte. Glänzend vorbereitet begab ich mich in die Prüfung. Zwei Beisitzer, ein Theologe und ein Anglist, dazu ein Protokollant, der mir als Erdkundeprofessor vorgestellt wurde, sowie der Prüfer, mein verehrter Professor. Er stellte mich der kleinen Kommission vor und fragte: „Welche Themen hatten wir eigentlich abgesprochen?“, was, wie ich merkte, einen so unauffälligen wie irritierten Seitenblick des Anglisten in Richtung des Theologen veranlasste. Ich antwortete so eifrig wie wahrheitsgemäß, Schwanengesang und Cellosuiten. Ich freute mich darauf, den drei Herren und meinem Professor, der ein großer Musikwissenschaftler war und als Kapazität nicht nur für frühgriechische Musik und Musikästhetik galt, sondern dem gleichermaßen auch niemand etwas in der Grauzone zwischen Straußschen Walzern und Countrymusik des mittleren Westens vormachte, diesen vier Herren also gleich etwas über letzte Lieder und relativ langweilige Cellostücke erzählen zu dürfen. So wartete ich gespannt, wie mein Professor diese Prüfung wohl eröffnen würde. „Also dann“. Mein Professor wandte sich mir zu. „Dass Sie das alles wissen – da habe ich keine Bedenken.“ Die Herren der Kommission blickten ihn an, und er fuhr fort. „Zu diesen Themen wissen Sie wahrscheinlich mehr als ich. Und…“ – er bedachte die drei Herren mit einem aufmunternden Kopfnicken – „…mehr als meine Kollegen sowieso. Ich möchte Sie darüber nicht prüfen.“ Die Herren blickten ihn an. „Erzählen Sie uns doch lieber einmal etwas Spannendes. Etwas Interessantes. Aus Ihrem Studium. Es hat ja…“, er raschelte mit seinen Papieren, „…lange genug gedauert. Da wird sich doch etwas Interessantes außer Bach und Schubert finden lassen.“ Ich war einen Moment sprachlos. „Keine Prüfung? Etwas Interessantes?“ „Ja. Bitteschön.“ Er lehnte sich zurück, stütze das bärtige Kinn auf die Handflächen und blickte mich erwartungsfroh an. Ich war dankbar, das weiter oben schon einmal erwähnte Schatzkästlein meiner Erinnerungen immer dabei zu haben, überlegte also nur kurz und begann zu erzählen. „Dann will ich an die Begegnung mit einem der Großen aus dem Zauberreich der Musik erinnern, von einem der großen Magier, dem einmal zu begegnen ich die unverdiente Gnade hatte.“ „Aha“, sagte mein Professor und setzte sich etwas grader hin. „Das klingt gut. Erzählen Sie.“ „Ein Studienfreund und ich hatten uns Premierenkarten an der Opernkasse für die Aufführung einer seiner Opern besorgt, die am nächsten Abend gespielt werden sollte. Es hieß, er sei in der Stadt und würde die Inszenierung überwachen – sie musste ins benachbarte Schauspielhaus verlegt werden, weil die Oper kurz zuvor gebrannt hatte. So spazierten wir, die zwei Karten in der Tasche, durchs abendliche Frankfurt, als uns ein großes Durstgefühl überkam und wir beschlossen, eine nahe gelegene Kaschemme aufzusuchen, um ein wenig Bier zu uns zu nehmen. Wir setzten und an den einzig freien Tisch, ich rückte auf der Bank durch und schaute durch die damals noch rauchgeschwängerte Luft, ob jemand in der Nähe sei, uns zu bedienen. Mein Freund war es, der mich mit heimlichem Kopfnicken auf den älteren Herrn aufmerksam machte, neben dem ich Platz genommen hatte. Ein glattrasiertes, freundliches Gesicht, längere Hare, ein undefinierbares Getränk. Ihm gegenüber saßen zwei junge Männer, von denen einer leise auf ihn einredete. Der ältere Herr malte Kringel auf Bierdeckel und nickte beständig mit dem Kopf. Als der Redner geendet hatte, blickte er ihn an und brummte: „You’re right.“ Dann begann der andere zu reden. Der Ältere nickte wieder mit dem Kopf, malte weiter Kringel auf Bierdeckel, hörte sich auch diesen Monolog ruhig an, ohne zu unterbrechen, und brummte, als auch dieser geendet hatte, erneut „You’re right.“ Mein Freund und ich, die wir inzwischen ein Bier vor uns stehen hatten, warfen uns einen wissenden Blick zu. Das war er. Unverkennbar. Das war John Cage, einer der größten Komponisten der Gegenwart, der gerade in Frankfurt die Inszenierung seiner Oper „Europeras II“ überwachte. Er saß in dieser Frankfurter Kneipe, offensichtlich mit Studenten, langweilte sich und brummte zu allem, was ihm gesagt wurde, „You’re right.“ Mein Freund und ich mischten uns in das Gespräch nicht ein. Wir hörten nur zu. Ein wenig später traf die Gruppe Anstalten, das Lokal zu verlassen. Ich stand auf, um Cage durchzulassen. „Mr. Cage“, sagte ich höflich. Er blickte mich mit freundlichen Augen an, hielt mir zwei Bierdeckel hin und sagte: „You’re right.“ An dieser Stelle unterbrach mich mein Professor, der mir die Zeit über schweigend zugehört hatte, und meinte: „Großartig. Sie haben mit Cage gesprochen.“ Ich wandte ein, dass man diese Begegnung schwerlich als Gespräch definieren dürfte, aber er habe neben mir gesessen und gestanden, ja, und mir einen Bierdeckel geschenkt. „Sie haben ein Autogramm von diesem… Wie heißt er doch gleich, Mr. Cage?“, mischte sich der Erdkundeprofessor ein. Wieder musste ich korrigieren; ich besäße zwar einen Henninger-Bierdeckel, auf den er Kringel gemalt hätte, aber leider kein Autogramm. Mein Professor winkte ab; er machte keine Anstalten, die offensichtlich uninformierte Prüfungskommission über John Cage aufzuklären, seine mehr als 250 Kompositionen anzusprechen, darunter das richtungsweisende Klavierstück 4‘33‘‘, die allesamt als Schlüsselwerke der Musik des 20. Jahrhunderts gelten, und unter denen die in Frankfurt aufgeführte Oper das radikalste Werk seines musiktheatralischen Schaffens war; er verzichtete darauf, den drei Herren Cage als einen der weltweit einflussreichsten Komponisten unserer Zeit zu schildern, und so weiter und so fort. Keine Sorge, auch ich will das jetzt nicht tun. Nur noch so viel. Statt die Kommission, die mich eigentlich in vollkommener Ahnungslosigkeit der Musik des 20. Jahrhunderts über die Musik des 17. und 19. Jahrhunderts hätte prüfen sollen, darüber aufzuklären, wer dieser Mann war, stand mein Professor auf, nachdem er auf die vor ihm liegenden Blätter ein paar Notizen gemacht hatte – mir gingen Kringel durch den Kopf –, und bedankte sich bei mir für diese Prüfung. „So ist er. Cage. Genau so. Bierdeckel. Ha! Ein Bierdeckel. Wirklich gut.“ Und weiter, den drei Kollegen zugewandt: „Überlässt ihm einen Bierdeckel, der allein für ihn einen symbolischen Wert darstellt und sich ansonsten jeder ökonomischen Wertschöpfungskette entzieht, die den Kunstbetrieb oft genug konstituiert.“ Seine drei Kollegen blickten ihn ausdruckslos – um nicht zu sagen: blöde – an, nickten aber. Mein Professor zuckte mit den...