E-Book, Deutsch, 483 Seiten
Neumann Die Schlüsselträgerin
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96655-908-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 483 Seiten
ISBN: 978-3-96655-908-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Simone Neumann, geboren 1977 in Höxter, lebt heute in München. Nach ihrem Studium der Geschichte und Slavistik arbeitete sie zunächst bei einem Verlag als Lektorin und machte sich nach der Geburt ihrer Kinder als Redakteurin und Autorin selbstständig. Bei dotbooks erschienen Simone Neumanns fundiert recherchierten historischen Romane, die sie stets mit einer fesselnden Spannungsnote würzt: »Des Teufels Sanduhr«, »Das Geheimnis der Gewürzhändlerin« (ursprünglich unter dem Titel »Das Geheimnis der Magd« erfolgreich) und »Die Flucht der Gauklerin«.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Auf dem Hofe der Söhne des Hilger, im Jahre 825
Stocksteif und schweißgebadet saß Inga auf ihrem Lager.
War alles ein Traum? Oder war die Erscheinung wahrhaftig gewesen?
Die weiße Frau war durch die Stalltür gekommen, langsam, leise, fast schwebend. Und dann war sie vor ihr, der schlafenden Inga, stehengeblieben und hatte sie lange angeschaut, um schließlich in der Dunkelheit des Raumes zu verschwinden.
Inga atmete schwer, zitternd fuhren ihre Hände über die Schlafstelle an ihrer Seite. Sie war leer. Er war noch nicht zurück. Oder er lag bei der anderen.
Wer war diese weiße Gestalt?
Es musste eine Fylgje gewesen sein, ein Schutzgeist, ein Geist, der vor Bösem warnte. Ihre Großmutter hatte eine solche gesehen, in der Nacht, bevor der Großvater getötet worden war. Und jetzt war auch Inga eine begegnet. Irgendetwas war geschehen, das spürte Inga. Mit ihm war etwas geschehen.
Vorsichtig verließ sie ihr Lager. Mit nackten Füßen, bloß in ihren wollenen Umhang gehüllt, schlich sie hinüber zu der anderen. Inga konnte nur erahnen, wo das verhasste Weib lag, doch den Umrissen nach zu urteilen, die in der Dunkelheit des einzigen Raumes dieses riesigen Langhauses schwer auszumachen waren, lag sie allein. Allein mit ihrem dicken Bauch, in dem sie sein Kind trug.
Auch alle Übrigen schliefen tief und fest. Weit mehr als ein Dutzend Leute, Männer, Frauen, Kinder, alt oder jung, frei oder unfrei. Alle in diesem einen Raum, in diesem einen Haus, unter dem schützenden Dach der noch jungen Hilgerschen Sippe.
Aber er war nicht da, war nicht zurückgekehrt.
Inga ging, sich behutsam vortastend, in Richtung des Stalles, dorthin, wo die vierzehn Rinder und drei Pferde standen. Doch auch Bless war nicht da. Ihr Platz war leer, ihr Heu lag unangerührt dort, verströmte einen verführerischen Duft und ließ die beiden anderen Pferde nervös an den Hanfseilen zerren, die sie davon abhielten, an das begehrte Futter zu gelangen.
Inga entriegelte die Tür und ging hinaus. Die Nacht war sternenklar, der Mond schien voll vom Himmel, und es herrschte absolute Stille. Der Herbstwind hatte sich gelegt, und auch die Stimmen des nahen Waldes waren verstummt. Ohne den kalten und nassen Boden unter ihren Füßen zu bemerken, ging Inga auf den Wald zu. Sie verließ das umfriedete Grundstück und stapfte vorsichtig hinunter in den Hohlweg, den natürlichen, meist matschigen Pfad, der, von Schmelz- und Quellwasser gegraben, direkt ins Tal zum einst riesigen Gehöft des Freien Liudolf führte.
Dorthin wollte er an diesem Abend reiten, dort wollte er im Hause des Liudolf sitzen und mit diesem und weiteren Freien aus der Gegend Unmengen an Bier trinken.
Das musste sie nicht verwundern, denn es kam häufig vor. Und ebenso wenig ungewöhnlich war, dass er die ganze Nacht fortblieb.
Von einem dieser Trinkgelage hatte er vor wenigen Monaten dieses Weib mit nach Hause gebracht. Hatte sie seiner Familie als sein »Friedeiweib«, seine Nebenfrau, vorgestellt. Hatte sich nicht darum gekümmert, dass die Kirche diese Unsitte verbot. Denn, so hatte er gelacht, deren Kaiser Karl habe es mit den Weibern nicht anders getrieben.
Grundsätzlich kümmerte er sich nicht um das, was der neue Glaube den Menschen vorschrieb, er hielt sich lieber an die Traditionen seiner Vorväter. Und eine dieser Traditionen war es, sich allmonatlich im Hause des Liudolf bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen.
Doch heute war etwas anders als sonst, Inga spürte es. Er war alleine fortgeritten, ohne seine Brüder, die ihn sonst begleiteten. Und dann war ihr im Schlaf der warnende Geist der weißen Frau erschienen. Es musste etwas passiert sein.
Schwarz erhob sich der bewaldete Berg zu ihrer rechten Seite. Inga vermied es, ihren Blick in Richtung dieses dunklen Lochs zu wenden. Lieber schaute sie auf den Weg, der sich im Schein des Mondes vor ihren Füßen durch eine tiefe, aber breite Mulde dahingrub. Am meisten fürchtete sie die Wölfe. Es hatte in diesem Herbst bereits zwei Übergriffe gegeben. Sehr früh für die Jahreszeit, denn eigentlich kamen sie erst mit dem Schnee in die Dörfer und auf die Höfe, um das Vieh zu stehlen. Drei Hühner und ihren geliebten Hofhund hatten sie einbüßen müssen. Ihr wurde mulmig, wenn sie daran dachte, wie viele gelbe Augen wohl nun im Schutze des Waldes ihren Blick auf sie richteten und nur den günstigsten Moment abwarteten. Über all die anderen Unholde, die des Nachts ihr Unwesen im Walde trieben, wollte sie besser gar nicht nachdenken. Unwillkürlich griff sie nach dem Holzkreuz, das sie an einem Band um den Hals trug und in welches sie vorsichtshalber, natürlich auf der Rückseite, eine Schutzrune hineingeritzt hatte.
Da! An der Stelle, wo der Hohlweg sich unter der Obhut dreier Linden scharf in Richtung der Siedlung wand, stand etwas. Ein heller Schatten, ein Tier. Es bewegte sich nicht. Inga blieb stehen und versuchte ihren Blick zu schärfen. Es war ein weißes Pferd – ein weißes, reiterloses Pferd.
»Bless!«, rief sie mit gedämpfter Stimme, und es dauerte nicht lang, da trottete das Tier ängstlich wiehernd auf sie zu.
»Bless, wo ist er? Hast du ihn abgeworfen?« Inga war erleichtert. Wahrscheinlich lag er betrunken im Gebüsch. So kalt, dass er dabei erfrieren könnte, war es glücklicherweise in dieser Nacht noch nicht.
»Komm, mein Mädchen, bring mich zu ihm.« Inga streichelte die Nüstern des Pferdes und schwang sich dann etwas umständlich auf seinen Rücken. Ohne ihr Zutun machte das zottelige, kleine Tier sofort kehrt und trottete mit seiner Reiterin den dunklen, holprigen Weg entlang. Inga war nicht geübt auf dem Rücken von Pferden, sie hatte genug damit zu tun, sich festzuhalten, und sicherlich wäre sie jäh hinuntergestürzt, wenn Bless nicht selbstständig vor Erreichen der Blitzeiche, von der ein dicker Ast bedrohlich tief über den Weg ragte, zum Stehen gekommen wäre.
»Komm weiter, Bless, ich ziehe den Kopf ein. Das geht schon.«
Doch das Pferd wehrte sich, es riss an den Zügeln und warf den Kopf immer wieder so hart von oben nach unten, dass Inga nichts anderes übrigblieb, als abzusteigen.
Und dann erblickte sie ihn.
Er lag unmittelbar vor den Hufen des Pferdes im schwarzen Schatten eines Dornbusches. Schnell beugte sie sich zu ihm herab und versuchte in der Dunkelheit seinen Zustand zu erkunden.
Er hatte eine Platzwunde auf der Stirn und rührte sich nicht.
»Aufwachen, du Trunkenbold!«, rief Inga barsch. »Aufwachen!«
Keine Reaktion.
Sie fasste ihn bei den Schultern und versuchte ihn ein wenig aufzurichten. Es war unglaublich schwierig für eine zierliche Frau wie sie, diesen riesigen Mann zu bewegen. Doch als sie endlich seinen Oberkörper ein kleines Stück zu sich gezogen hatte, fiel es ihr auf: Sein Kopf war unnatürlich verdreht und schien nur noch von der Haut und den Sehnen am Körper gehalten zu werden. Das Genick war gebrochen.
Inga war starr vor Schreck. Sie ließ seinen toten Körper langsam zu Boden sinken, richtete sich auf und ging, stumm und mit kleinen Schritten, zurück zum Hof.
Als sie das Haus betrat, brannte bereits ein Feuer. Ada saß an der wärmenden Ofenstelle und stillte ihr jüngstes Kind. Sie war einige Jahre älter als Inga, jedoch die Frau des Zweitgeborenen, des jüngeren Bruders – nunmehr neuer Herr des Hilgerschen Hofes.
Inga ging wie betäubt auf sie zu. Regungslos schaute sie auf das Kind, den kleinen Jungen, der rosig und gesund an der Brust seiner Mutter lag.
Stumm nickte Inga, und Ada blickte sie lange an. Sie sagten beide nichts, aber in Adas Augen war die Angst zu erkennen, die die Schwägerin ihr mit ihrem merkwürdigen Verhalten einflößte.
Inga senkte den Blick, dann atmete sie tief ein und ging zu der Stelle, an der Adas Mann, Ansgar, noch immer friedlich schlief. Mit schnellen Bewegungen klopfte sie ihm mit ihren Fingerspitzen auf die Schulter. Als er sich rührte, sprang sie einen Schritt zurück.
»Lass mich in Frieden, Weib«, brummte er nur und drehte sich wieder um, ohne die Augen zu öffnen. Inga klopfte erneut.
»Verschwinde«, rief er nun wütend und richtete sich auf. Erst jetzt erkannte er, dass es nicht Ada, sondern die Frau seines Bruders war, die vor seiner Schlafstatt stand. Mit einem Blick, der offen ließ, was er von dieser ungewöhnlichen Situation erwartete, schaute er Inga an. Erst als er bemerkt hatte, dass auch Ada bereits erwacht war, fragte er grimmig: »Was willst du?«
»Rothger ist tot. Du musst ihn holen gehen.«
»Du hast ihn umgebracht. Du warst es. Du warst es, du Unholdin. Du Hexenbrut! Du warst es!«
In dem Moment, in dem Ansgar und der junge Gernot ihren toten Bruder auf den Hof gebracht hatten, hatten das schrille Gebrüll und die üblen Beschimpfungen des losen Weibes begonnen. Sie galten Inga. Diese saß nur stumm auf der langen Bank, hielt sich die Ohren zu und blickte ihre vor Trauer rasende Rivalin stumpf an.
Es war schließlich Ada, die sich erhob, ihren Säugling dem alten Ulrich in die Arme drückte und der kreischenden Schwangeren eine schallende Ohrfeige gab.
»Verschwinde aus diesem Haus«, sagte sie ruhig, aber laut. »Du hast hier nichts mehr verloren. Du nicht, und dein Bastard erst recht nicht.«
Der alte Ulrich nickte zustimmend. Die Schwestern Berta und Gisela, bis dahin stumm vor Schreck, kicherten leise. Gernot sah beschämt zu Boden, und Ansgar blickte seine Frau streng an. Inga nahm langsam ihre Hände von den Ohren, stand auf und ging hinaus.
Sie steuerte auf die Stelle zu, in der sich der Hohlweg zu einer breiten Quellmulde formte. Die Stelle, die den jungen Hilger ermutigt hatte, als Erbe eines nur kleinen...