- Neu
E-Book, Deutsch, Band 9, 352 Seiten
Reihe: Barbarotti
Nesser Eines jungen Mannes Reise in die Nacht
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32787-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 9, 352 Seiten
Reihe: Barbarotti
ISBN: 978-3-641-32787-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist Frühsommer und Prüfungszeit in Kymlinge. Sportlehrer und ehemaliges Multitalent Allan Fremling beschließt eines Abends, seinem strengen Ernährungsplan zum Trotz, eine Pizza nach Hause zu bestellen. Noch bevor sie abgekühlt ist, liegt er tot in seinem eigenen Hausflur. Zwei Schüsse in die Brust, einer in den Kopf. Inspektor Borgsen, der wegen seines melancholischen Gemüts oft Sorgsen genannt wird, soll sich der Sache annehmen. Als sich jedoch praktisch direkt unter Borgsens Balkon ein zweiter Mord ereignet, ist es Zeit für Gunnar Barbarotti und dessen Frau Eva Backman, zu übernehmen. Die Morde geben Rätsel auf. Fast sieht es so aus, als stelle jemand sich die Frage: Ist es immer falsch zu töten?
Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt auf Gotland.
Weitere Infos & Material
2
Mit diesen Worten begann seine geplante Autobiografie.
Weiter war er nicht gekommen, obwohl der einleitende Satz seit Jahren feststand. Es war, wie es war, und in seinem tiefsten Inneren ahnte er, dass daraus nie etwas werden würde. Es gibt Geschichten, die sich einem entziehen, das liegt in ihrer Natur. Sie lassen sich nur ungern erzählen, ihre Wahrheiten fühlen sich am wohlsten in Scham, auf tiefem und dunklem Wasser.
Und genau deshalb hatte sich sein Leben so entwickelt, wie es sich entwickelt hatte. Um eine lange Geschichte kurz zu machen.
Im Mai 2022 war er neunundfünfzig. Fast ein halbes Jahrhundert war seit jenem Ereignis vergangen, und es gab tatsächlich Tage, an denen er keinen Gedanken daran verschwendete. Weder an das, was passiert war, noch an seine Mutter, die nach wie vor lebte und nördlich von Lillehammer in einem Heim wohnte. Einige Kilometer das Gudbrandstal hinauf mit Aussicht auf den Fluss und die westliche Talseite, und was die meisten Dinge anging, in glücklicher Unwissenheit lebend. Sie war alles andere als klar im Kopf und dachte offenbar gar nicht daran zu sterben; er hatte aufgehört, sie zu besuchen, hielt jedoch sporadisch Kontakt zum Pflegepersonal.
Seit er in Kvarnbo gelandet war, kam es ihm dennoch so vor, als wäre er seiner Kindheit nähergekommen, erst recht nach seiner COVID-Infektion. Er hatte sich im Oktober 2020 angesteckt und gehörte leider zu der Gruppe von Menschen, die das Virus sehr mitgenommen hatte. Sicher, er war mit dem Leben davongekommen, konnte aber erst Monate später wieder zur Arbeit gehen, und heute, anderthalb Jahre danach, hielt er lediglich gut die Hälfte der Zeit durch. Am meisten machte ihm die Müdigkeit zu schaffen, aber darüber hinaus war er häufig verwirrt und hatte regelmäßig Erinnerungslücken. Seinen Kollegen hatte er nie erzählt, wie schlecht es in Wahrheit um ihn stand, aber vielleicht hatten sie es auch so verstanden.
Oder auch nicht. Hoffentlich nicht. Es war möglich zu simulieren, dass man gesund war.
Jedenfalls verbrachte er viel Zeit allein zu Hause, in seiner Dreizimmerwohnung in Kvarnbo, in der er seit seiner Scheidung lebte, also seit fünf Jahren, und manchmal erschien es ihm, als wäre sein Leben zusammengepresst worden. Als wäre der Abstand zwischen Lillehammer und Kymlinge, in Zeit gemessen, zu etwas lächerlich Kleinem geschrumpft. Mein Leben, dachte er manchmal, es wurde nicht mehr daraus als das hier. Eine Nichtigkeit. Und das liegt ganz und gar an dem, was Anfang der Siebzigerjahre passiert ist. Oder?
Wie immer eine ebenso gute wie sinnlose Frage.
Falls es ihm jemals, trotz allem, gelingen sollte, diese Autobiografie in Angriff zu nehmen, die Geschichte seines Lebens, durfte er nicht vergessen, ausführlich der Schuldfrage nachzugehen. Seiner eigenen Schuld, der Schuld des neunjährigen Jungen, der seiner Mutter eines Abends anvertraut hatte, dass er sich vor seinem Vater fürchtete. Hätte er das nicht getan und stattdessen beschlossen, ihr sein Herz lieber doch nicht auszuschütten, hätte sein Vater vermutlich weiterleben dürfen.
Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Woher sollte man das wissen?
Und wie sollte man die Schuld wiegen und das Gewicht in Worte fassen können? Von so etwas?
Neutral zu beschreiben, was sich tatsächlich ereignet hatte, war bedeutend einfacher. Dazu reichten wenige Sätze. Zum Beispiel:
Das war alles. Sicher, er konnte auch über anderes schreiben, über seine Einsamkeit und seine Grübeleien. Über das Unfassbare, über Betrübnis und darüber, ein Außenseiter zu sein. Über das Traurige daran zu existieren, niemals Freude zu finden. Über die Gedanken, sich in denselben Abgrund zu stürzen wie der Vater.
Über seine Mutter?
Nein, nicht über sie. Das war unmöglich, sie ist ein Rätsel. Nie wieder erwähnten sie, was wirklich mit Lars’ Vater geschehen war. Mit keinem Wort. Es war nicht nötig. So etwas vergisst man nicht.
Aber über sein weiteres Leben könnte man wohl ein paar Zeilen zusammenbekommen.
Darüber, wie er die Jugendjahre und Schulen hinter sich brachte. Das Abitur 1982, den Umzug nach Oslo und die Zeit an der Polizeihochschule. Die Dienstzeit, zuerst in Drammen, später zurück in Lillehammer. Irgendwann die Olympischen Winterspiele, jene Wochen 1994, als Norwegen das beste Land der Welt war und er Camilla kennenlernte. Sie war eine freie Journalistin aus Schweden, sie verliebten sich, zumindest bildete er sich das damals ein, sie wurde ungewollt schwanger, und sie zogen nach Schweden. Nach Göteborg, wo sie zur Welt gekommen und in einer freireligiösen Familie aufgewachsen war. Sie heirateten, da man das in ihren Kreisen so machte, wenn ein Kind unterwegs war. Ein paar Monate später ließen sie sich in Kymlinge nieder, wo er eine Stelle bekommen hatte.
Ihr Sohn Robert wurde im Dezember geboren, ein properer Junge von fast vier Kilo. Ihre Tochter Nora kam zwei Jahre später zur Welt und war genauso proper.
Danach nahm die Zeit ihren gewohnten Lauf. 2017 waren die Kinder erwachsen und ausgezogen. Camilla wollte nicht mehr mit ihm zusammenleben. Sie ließen sich scheiden und zogen auseinander. Sie kehrte nach Göteborg zurück, er landete im Wohnviertel Kvarnbo am Rand von Kymlinge. Im Volksmund wurde der Stadtteil »Schwanzlos« genannt, weil die Mehrzahl seiner Bewohner geschiedene, alleinstehende Frauen waren. Es hätte für ihn nicht weiter schwierig sein sollen, eine neue Partnerin zu finden, aber das war nichts für ihn.
Nach der Scheidung war sein Leben eins mit seiner Arbeit. Er war ein hervorragender Ermittler, vor allem, wenn er nicht im Außendienst arbeiten musste. Seine Fähigkeit, Spuren und Zusammenhänge im Internet zu finden, war allseits bekannt, und er wusste, dass er eine Bereicherung für die Kripo in Kymlinge war.
Er wusste zudem, dass man ihn wegen seines düsteren Auftretens Inspektor Sorgsen nannte, weil auf Schwedisch bedeutete, aber er scherte sich nicht darum. Man hat den Charakter, den man nun einmal hat, und in seinem Fall gab es dafür tiefgreifende Ursachen, die seinen Kollegen jedoch nicht bekannt waren. Die genau gesagt bekannt waren, niemandem außer ihm selbst und seiner Mutter in ihrem Heim im fernen Gudbrandstal. Falls es in ihrem verdorrten Schädel noch solche alten Gedanken geben sollte.
Obwohl weder Frau noch Kinder bei ihm waren, war er mit seinem Leben und dessen Bedingungen nicht unzufrieden. Es hätte schlimmer kommen können; tatsächlich es den meisten Menschen auf der Welt schlimmer. Außerdem hielt er über Instagram und Telefon trotz allem Kontakt zu Robert und Nora. Nein, Lars Borgsen beklagte sich nicht.
Aber im Oktober 2020, dem ersten Jahr der Pandemie – von Gott weiß wie vielen –, hatte er sich mit dem Virus angesteckt. Drei Wochen im Krankenhaus, drei Monate krankgeschrieben zu Hause; das war schon schlimm genug gewesen, aber erst die Fortsetzung machte das Ganze so viel schlimmer. So viel schwieriger zu bewältigen; die hartnäckige Müdigkeit und seine anderen Probleme. Das Post-COVID-Syndrom, wie es genannt wurde.
Denn wenn er nicht richtig arbeiten konnte, womit sollte er dann seine Zeit verbringen?
Ja, natürlich konnte er auch darüber einige Zeilen verlieren. Über die Angst, aus allen Zusammenhängen herauszufallen. Zu einem dieser lebenden Toten zu werden. Über die klinische Sinnlosigkeit.
Es fehlte nur der Anlass. Auch wenn man...