E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Nesi Die Leute von Oetimu
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96054-371-8
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine garantiert wahre Geschichte aus Timor
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
ISBN: 978-3-96054-371-8
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sergeant Ipi, der junge (und einzige) Dorfpolizist, u¨bt seine Autorität nicht immer gewaltfrei aus. Doch heute hat er alle Männer von Oetimu eingeladen, um am einzigen Fernseher des Dorfes das Finale der Fußball-WM 1998 zu schauen. Er hat etwas zu feiern, nämlich seine Verlobung mit der schönen Silvy – eine Anku¨ndigung, die alle Anwesenden in tiefes Unglu¨ck und sofortiges Besäufnis stu¨rzt. Der Abend endet jedoch nicht nur fu¨r sie sehr anders als erwartet.
Die mitreißende Geschichte, die sich nun entspinnt, fu¨hrt mitten hinein in die von Umstu¨rzen und Gewalt geprägte Geschichte Timors nach Ende der Kolonialzeit: Ipis Mutter Laura, deren Eltern bis 1975 Teil der portugiesischen Kolonialverwaltung in Osttimor waren, wird als junge Frau im Bu¨rgerkrieg verhaftet und gefoltert. Sie entkommt und gelangt nach Oetimu, wo sie von Am Siki aufgenommen wird, einem allgemein verehrten Helden, der während der japanischen Besatzung ein Arbeitslager niedergebrannt haben soll und auf gutem Fuß mit den Ahnen steht. Auch Martin Kabiti lebt in Oetimu, als fru¨herer pro-indonesischer Offizier war er verantwortlich fu¨r Massaker an der Bevölkerung Osttimors. Silvy hingegen ist ziemlich plötzlich im Dorf aufgetaucht. Dass sie von jemand anderem schwanger ist, weiß auch ihr Zuku¨nftiger Ipi nicht …
Geprägt von der mu¨ndlichen Erzähltradition Timors, strotzt der Roman vor satirischem Witz und komischen Überzeichnungen und erzählt leichtfu¨ßig von Gewalt und Menschlichkeit am Rande des indonesischen Archipels.
Weitere Infos & Material
Am Abend des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft und eine Stunde bevor die Killer sich Zutritt zu seinem Haus verschafften, wurde Martin Kabiti von Sergeant Ipi mit dem Motorrad abgeholt. Das Motorrad, eine Yamaha RX King, war frisiert worden und nun verstärkte der Auspuff die Motorengeräusche zu einem ohrenbetäubenden Röhren, das die Holzwände der von ärmeren Leuten bewohnten Häuser erzittern ließ, die Hunde zum Bellen reizte und die Fledermäuse in den Wipfeln der Kapokbäume aufscheuchte. In der kühlen Abendluft hatten sich feine Nebelschleier zwischen den Bananenstauden verfangen und auf den Oberflächen der Blätter niedergeschlagen, sodass diese im Scheinwerferlicht des Motorrads silbrig schimmerten. Drei Hunde jagten dem Gefährt hinterher, und als einer von ihnen nach Sergeant Ipis Bein schnappte, ließ dieser den Motor noch lauter aufheulen, als wollte er die dürren Kläffer herausfordern. Es war dies ein glücklicher Abend für ihn. Er hatte bereits sämtliche Vorbereitungen für eine bescheidene Feier in der Polizeiwache, in der er arbeitete und lebte, getroffen. Es würde Rica Anjing, gegrilltes Schwein, Reh und allerlei Getränke geben, und zwar sowohl solche mit den offiziellen Zollaufklebern auf der Flasche, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, als auch Sopi Kepala, das alkoholische Gebräu aus Palmsaft, das man hier im Dorf bekam. »Lass uns das Finale gemeinsam ansehen. Komm zu mir und freu dich mit mir!«, so lautete die Einladung, die er zwei Tage zuvor an Martin Kabiti gerichtet hatte. Sergeant Ipis Einladung galt aber nicht nur Martin Kabiti. Er hatte zwei Schuljungen aufgetragen, allen Männern im Dorf, angefangen von den Oberschülern ohne Bartwuchs und Motorradtaxifahrern über die Unruhestifter und Kleinganoven, die nicht selten Schläge von ihm einzustecken hatten, bis hin zu den Dorfältesten und honorigen Herren von seiner Feier zu berichten. Martin Kabiti einzuladen war für ihn jedoch etwas ganz Besonderes und er fühlte sich verpflichtet, diesen Mann persönlich mit seinem Motorrad abzuholen. Martin Kabiti, der den bewaffneten Kampf schon vor einer ganzen Weile an den Nagel gehängt hatte und keinen Gedanken an die Möglichkeit eines bevorstehenden Unheils verschwendete, zog sich seine dicke Jacke mit Tarnmotiv über, die er noch aus der Zeit besaß, als er am Berg Matebian Jagd auf Aufständische machte, steckte seine Füße in schwarze Socken und in Carvil-Sandalen, griff nach seinem Hausschlüssel und eilte aus dem Haus. Seine Frau ließ ihn ohne die leiseste Vorahnung ziehen, und seine Kinder schliefen bereits tief und fest, in den Schlaf gesungen vom Chor der Zikaden und der nachtaktiven Tiere der Savanne. Martin Kabiti nahm auf dem Sozius Platz. Auf dem gesamten Weg zur Polizeiwache überholten sie junge Männer in Jacken und alte Männer in Sarongs, die man hier Bete nannte; sie alle eilten zu Fuß in dieselbe Richtung. Ein anderes Motorrad, besetzt mit zwei aus Java herbeorderten Soldaten von der Grenzwache, heulte hinter ihnen auf. Der Fahrer beschleunigte, sowie er das Dröhnen der RX King von Sergeant Ipi erkannte. Martin Kabiti hatte die beiden Soldaten eingeladen. Er hatte ihnen schon mehrere Male geraten, engeren Kontakt zur Zivilbevölkerung zu suchen. Und dieser Abend bot dafür eine besonders günstige Gelegenheit, denn so würden sie sich unter die Dorfbewohner mischen und ihre Begeisterung für dieselbe Sache mit ihnen teilen können. Die beiden Motorräder fuhren das letzte Stück des Weges nebeneinander her, und die Männer aus dem Dorf, an denen sie vorüberfuhren, hoben respektvoll grüßend die Hand. Die Leute von Oetimu hatte das Fußballfieber gepackt. Allabendlich versammelten sie sich vor dem Fernseher und feuerten die Männer an, die auf dem grünen Rasen einem Ball hinterherjagten. Sie schnitten sich die aktuellen Spielpläne aus der Zeitung aus und klebten sie an die Wand im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer oder sogar in der Hütte auf dem Feld; sie machten mit dem Bleistift ein Zeichen hinter dem Namen des Landes, welches bereits ein Spiel verloren hatte, und ein anderes Zeichen hinter dem Namen jenes Landes, welches ihrer Beurteilung nach noch ein Spiel verlieren würde. Sie hatten einen Favoriten, von dessen Sieg sie fest überzeugt waren, nämlich Brasilien; denn abgesehen davon, dass die brasilianischen Fußballer spielten, als würden sie tanzen, besaß die brasilianische Elf einen unbezwingbaren Stürmer: Ronaldo Luis Nazário de Lima. Die Leute vergötterten Ronaldo, sie nannten ihre Hunde Ronaldo und auch andere Tiere in Haus und Hof, und wenn Brasilien spielte, blieben in den Häusern nur die Frauen und Kinder zurück, während die Männer, jung und alt, sich vor dem Fernseher versammelten und ihrem Idol zujubelten. Im Dorf gab es allerdings insgesamt nur drei Fernsehgeräte. Eins in der Polizeiwache, eins im Haus von Mas Zainal und eins im Haus von Baba Ong, dem Besitzer des Gemischtwarenladens Subur. Baba Ong war ungemein geizig und würde die Leute aus dem Dorf niemals in sein Haus lassen, es sei denn, sie wollten etwas bei ihm kaufen. Er besaß lange, blickdichte Vorhänge, die den Fernseher im Wohnzimmer vor den Augen der Kinder abschirmten, die oft und gerne durch die Fenster linsten. Mas Zainal hatte derart vorstehende Zähne, dass er jedem Besucher seines Hauses den Eindruck vermittelte, er würde ihn freundlich anlächeln. Allerdings war Mas Zainal Alteisensammler, und in seinem Haus fernzusehen bedeutete, sich zwischen verrostete und scharfkantige Eisenwaren sowie gebrauchte Ackus und Batterien zu zwängen. Zudem war man starken Gerüchen ausgesetzt: Der Duft nach frisch zubereitetem Essen drang aus der Küche und machte Appetit, aber gleichzeitig wurde einem von dem Gestank nach Altöl speiübel. Kein Zweifel, die Polizeiwache war der beste Ort, um fernzusehen – auf der geräumigen Fläche des Fußbodens würde man sich mit ausgestreckten Beinen fläzen können, zur Abwechslung könnte man sich gegen die glatt verputzte Wand lehnen und falls keine wichtigen Leute anwesend waren, könnte man sich auf das weich gepolsterte Sofa setzen –, doch Sergeant Ipi schaltete das Gerät üblicherweise nur für wichtige Leute wie Martin Kabiti, die Dorfältesten, Lehrer oder andere respektable Persönlichkeiten ein. So hatten die gewöhnlichen Leute, wenn sie fernsehen wollten, keine andere Wahl, als sich im Haus von Mas Zainal umgeben von allerlei Eisenschrott und unangenehmen Gerüchen zu versammeln. Sergeant Ipi hatte den Männern daher mit seiner Einladung, an diesem Abend bei ihm in der Polizeiwache fernzusehen, eine riesengroße Freude bereitet. Umso größer war ihre Freude, als sie von der üppigen Auswahl an Fleischspeisen und Getränken erfuhren, die der junge Polizist bereits besorgt haben wollte. Die Männer strömten also in Scharen herbei, und auch Mas Zainal schaltete sein Fernsehgerät aus und machte sich auf zur Polizeiwache, um dort gemeinsam mit den anderen das Finale zu sehen. Als die beiden Motorräder nebeneinander in den Hof der Polizeiwache einfuhren, hatte sich dort bereits eine erwartungsvolle Menschenmenge von rauchenden oder Betel kauenden Männern eingefunden. Die Wache war zu klein, als dass man sie Polizeirevier hätte nennen können, aber auch zu groß für einen Polizeiposten. Das Gebäude war aus Stein gebaut und verfügte über zwei Räume, einen im hinteren Bereich, in welchem Sergeant Ipi schlief, und einen deutlich größeren, zur Straße hin gelegenen, den er zum Arbeiten nutzte. In Letzterem schrieb er seine Berichte, sah fern, empfing Besucher und hier aß er auch. Nachdem er sein Motorrad abgestellt hatte, griff Sergeant Ipi nach dem Schlüssel unter der Fußmatte und öffnete die Tür. Martin Kabiti, der sich für die respektabelste Person unter den Anwesenden hielt, trat als Erster ein und ließ sich sogleich auf Sergeant Ipis Bürostuhl nieder, einem Stuhl nämlich, der mit einem dicken Polster bezogen war, Rollen unter den Füßen hatte und sich drehen ließ. Die beiden Soldaten traten als Nächstes ein und setzten sich auf das Sofa hinter dem Drehstuhl mit Martin Kabiti. Dieses Sofa war recht breit und hätte noch drei weiteren Personen Platz geboten, doch niemand aus dem Dorf hätte es als angemessen empfunden, Seite an Seite mit Soldaten aus Java zu sitzen und fernzusehen. Sergeant Ipi setzte sich gegenüber auf eine Bank aus Holz, auf der einem schon nach wenigen Minuten der Hintern weh tat. Zu ihm quetschten sich zwei der Dorfältesten, drei Lehrer und zwei junge Kerle, die als Streithähne bekannt waren. Der einzige vorhandene Tisch war bereits in eine Ecke gerückt worden, sodass in der Mitte des Raumes Mas Zainal zusammen mit den anderen, weniger wichtigen Dorfbewohnern im Schneidersitz auf dem Boden Platz fand. Weitere Zuschauer drängten sich im Hof der Wache, zwängten ihre Köpfe zur Tür und zu den Fenstern hinein. Bevor er den Fernseher einschaltete, machte Sergeant Ipi sich daran, die Fleischspeisen und die alkoholischen Getränke aus dem hinteren Raum herbeizuholen. Zwei der jungen Kerle halfen ihm, die Töpfe und Schüsseln auf dem Tisch, aber auch darunter und unter dem Fernsehregal zu arrangieren; die Speisen waren reichlich, sie heranzuschaffen schien beinah kein Ende zu nehmen. Während die beiden Jüngeren noch mit den Töpfen und Schüsseln hantierten, wählte Sergeant Ipi eine der Flaschen Sopi Kepala aus, zog das zusammengerollte Maisblatt, das als Korken diente, heraus und hob zur Erklärung an, warum er diese Feier ausrichtete. Silvy, jenes Mädchen, das zwar vor kurzem erst nach Oetimu gekommen sei, aber sofort alle Bewohner mit ihrer Schönheit und Klugheit zu verzaubern vermocht habe, jenes Mädchen also sei nun seine Liebste und...