E-Book, Deutsch, Band 7, 512 Seiten
Reihe: Ein Harry-Hole-Krimi
Harry Holes siebter Fall
E-Book, Deutsch, Band 7, 512 Seiten
Reihe: Ein Harry-Hole-Krimi
ISBN: 978-3-550-92007-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Serienmörder tötet auf bestialische Art und Weise. Seine Opfer: junge Mütter. Auf der fieberhaften Jagd nach dem unheimlichen 'Schneemann' kämpft sich Kommissar Harry Hole durch ein Labyrinth aus Verdächtigungen und falschen Spuren. Immer neue Morde geschehen. Als Hole selbst ins Visier des Killers gerät, kommt es zu einem gnadenlosen Duell.
Verfilmt mit Michael Fassbender, Val Kilmer, Chloë Sevigny & Charlotte Gainsbourg.Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!
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KAPITEL 1
Mittwoch, 5. November 1980.
Der Schneemann Es war der Tag des ersten Schnees. Um elf Uhr vormittags fielen plötzlich und ohne jede Vorwarnung dicke Schneeflocken aus einem farblosen Himmel und legten sich auf die Felder, Gärten und Wiesen von Romerike wie eine Armada aus dem Weltraum. Um zwei Uhr nachmittags waren bereits zwei Räumfahrzeuge in Lillestrøm im Einsatz, und als Sara Kvinesland eine halbe Stunde später ihren Toyota Corolla SR5 langsam und vorsichtig zwischen den vornehmen Häusern des Kolloveien hindurchsteuerte, lag der Novemberschnee bereits wie eine weiße Daunendecke über der hügeligen Landschaft. Sie fand, dass die Häuser bei Tageslicht irgendwie anders aussahen. So anders, dass sie fast an seiner Garageneinfahrt vorbeigefahren wäre. Als das Auto beim Bremsen ins Rutschen geriet, hörte sie hinter sich ein Stöhnen, blickte in den Rückspiegel und sah das genervte Gesicht ihres Sohnes. »Keine Sorge, es dauert nicht lang«, versprach sie. Vor der Garage prangte ein großes schwarzes Stück Asphalt in all dem Weiß. Dort musste der Möbelwagen gestanden haben. Ihr Hals schnürte sich zusammen. Hoffentlich war sie nicht zu spät gekommen. »Wer wohnt denn da?«, kam es vom Rücksitz. »Ach, nur ein Bekannter von mir«, anwortete Sara und überprüfte im Rückspiegel, ob ihre Frisur noch saß. »Zehn Minuten, okay? Ich lasse den Schlüssel stecken, dann kannst du Radio hören.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie aus dem Wagen und trippelte auf glatten Sohlen zu der Tür, durch die sie so oft ein und aus gegangen war. Nur nicht am helllichten Tag, wie jetzt, gut sichtbar für die neugierigen Augen der vornehmen Nachbarschaft. Ihre spätabendlichen Besuche waren sicher nicht weniger anrüchig gewesen, aber zumindest kam es ihr passender vor, so etwas nach Einbruch der Dunkelheit zu machen. Drinnen im Haus summte die Klingel wie eine Hummel in einem Marmeladenglas. Während sie wartete und spürte, wie die Verzweiflung in ihr hochstieg, warf sie rasche Blicke nach rechts und links zu den Fenstern der Nachbarschaft, doch sie sah nur die Spiegelungen der schwarzen, kahlen Apfelbäume, des grauen Himmels und der milchig weißen Landschaft. Als sie drinnen endlich Schritte hörte, atmete sie erleichtert auf. Im nächsten Augenblick war sie im Haus und lag in seinen Armen. »Geh nicht weg, Geliebter!«, flehte sie und hörte bereits das Zittern unterdrückter Tränen in ihrer Stimme. »Ich muss«, erwiderte er, und es klang wie der Refrain eines Liedes, dessen er mittlerweile überdrüssig war. Seine Hände suchten die altbekannten Wege, derer sie niemals überdrüssig geworden waren. »Nein, du musst nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Aber du willst. Du kannst es nicht mehr ertragen.« »Das hat doch nichts mit uns zu tun.« Sie hörte die Verärgerung in seiner Stimme, während seine kräftige und doch so zärtliche Hand über die Haut ihres Rückens nach unten glitt und sich unter den Bund ihres Rocks und ihrer Strumpfhose schob. Sie waren wie eingespielte Tanzpartner, die die kleinsten Bewegungen ihres Gegenübers kannten, die Schritte, den Atem, den Rhythmus. Erst die weiße Liebe, die gute. Dann die schwarze, der Schmerz. Seine Hand strich über ihren Mantel und suchte unter dem dicken Stoff ihre Brustwarzen. Er verlor nie die Lust daran, fand immer wieder dorthin zurück. Vielleicht weil er selbst keine hatte? »Hast du vor der Garage geparkt?«, fragte er und kniff fest zu. Sie nickte und spürte, wie ihr der Schmerz einen Pfeil der Lust in den Kopf schoss. Ihr Schoß hatte sich längst für die Finger geöffnet, die gleich ihren Weg dorthin finden würden. »Der Junge wartet im Auto.« Seine Hand hielt abrupt inne. »Er weiß nichts«, stöhnte sie und spürte das Zögern seiner Finger. »Und dein Mann, wo ist der jetzt?« »Na, wo wohl? Auf der Arbeit natürlich.« Jetzt war sie es, die ärgerlich klang. Zum einen, weil er ihren Mann erwähnt hatte und sie kaum über ihn sprechen konnte, ohne schlechte Laune zu bekommen, und zum anderen, weil ihr Körper jetzt nach Liebe verlangte, jetzt sofort. Sara Kvinesland öffnete seinen Hosenschlitz. »Nicht«, stammelte er und packte ihr Handgelenk. Da gab sie ihm mit der anderen eine kräftige Ohrfeige. Verblüfft sah er sie an, während sich über seinem Wangenknochen ein dunkelroter Fleck ausbreitete. Sie lächelte, fuhr ihm mit den Fingern durch die dichten schwarzen Haare und zog sein Gesicht zu ihrem herunter. »Von mir aus kannst du fahren«, fauchte sie. »Aber erst fickst du mich noch mal. Verstanden?« Sie spürte seinen keuchenden Atem an ihrem Gesicht. Erneut schlug sie mit der einen Hand zu, während sie spürte, wie sein Glied in ihrer anderen wuchs. Er stieß jetzt härter in sie, mit jedem Mal etwas härter, aber trotzdem, es war vorbei. Plötzlich war sie empfindungslos, die Magie war verloschen, die Spannung verschwunden. Einzig ihre Verzweiflung war geblieben. Sie verlor ihn. Jetzt, da sie hier auf seinem Bett lag, verlor sie ihn. All die Jahre der Sehnsucht, all die Tränen, die sie vergossen hatte, all die Verzweiflungstaten, die sie um seinetwillen begangen hatte. Und er hatte ihr niemals etwas zurückgegeben. Abgesehen von dem einen. Jetzt stellte er sich ans Fußende des Bettes und nahm sie mit geschlossenen Augen. Sara starrte auf seine Brust. Anfangs hatte sie der Anblick irritiert, doch mit der Zeit hatte sie Gefallen gefunden an der durchgehenden weißen Hautfläche über seinen Brustmuskeln. Er erinnerte sie an alte Statuen, bei denen man die Brustwarzen aus Scham weggelassen hatte. Sein Stöhnen wurde lauter. Sie wusste, dass er gleich mit einem gewaltigen Brüllen kommen würde. Wie sie dieses Geräusch geliebt hatte. Diesen immer wieder überraschenden, ekstatischen, beinahe schmerzerfüllten Gesichtsausdruck, als übersteige der Orgasmus jedes Mal aufs Neue seine wildesten Erwartungen. Sie wartete jetzt nur noch auf dieses letzte Brüllen, den dröhnenden Abschied in seinem kahlen Schlafzimmer, das längst all seiner Bilder, Gardinen und Teppiche beraubt war. Danach würde er sich anziehen und in einen anderen Teil des Landes ziehen, wo ihm, wie er ihr beteuert hatte, eine Stelle angeboten worden war, die er nicht ablehnen konnte. Ihre Beziehung jedoch konnte er ablehnen, all das hier. Und trotzdem vor Genuss brüllen. Sie schloss die Augen. Aber es kam kein Brüllen. Er war erstarrt. »Was ist los?«, fragte sie und schlug die Augen auf. Sein Gesicht war tatsächlich verzerrt. Aber nicht vor Ekstase. »Ein Gesicht«, flüsterte er. Sie zuckte zusammen. »Wo?« »Da draußen, vor dem Fenster.« Das Fenster befand sich am Kopfende des Bettes, direkt über ihr. Sie drehte sich herum und spürte ihn aus sich herausgleiten. Sein Glied war bereits erschlafft. Das Fenster über ihrem Kopf war so weit oben, dass sie aus ihrer Position nichts sehen konnte. Und zu weit oben, als dass man von außen hätte hineinsehen können. Da es draußen bereits dunkel wurde, sah sie nur das doppelte Spiegelbild der Deckenlampe. »Du hast dich selbst gesehen«, meinte sie. Ihr Ton klang beinahe bittend. »Das hab ich auch erst gedacht«, sagte er und starrte noch immer auf das Fenster. Sara zog die Knie an, richtete sich auf und blickte in den Garten. Und da war es, das Gesicht. Vor lauter Erleichterung lachte sie laut los. Das Gesicht war weiß, mit Augen und Mund aus schwarzem Schotter, der vermutlich aus der Einfahrt stammte. Als Arme dienten zwei Apfelbaumzweige. »Aber mein Gott«, rief sie lachend, »das ist doch nur ein Schneemann!« Dann ging ihr Lachen in Weinen über, und sie schluchzte hilflos, bis sie seine Arme um sich spürte. »Ich muss jetzt gehen«, flüsterte sie unter Tränen. »Bleib noch ein bisschen«, bat er. Sie blieb noch. Als Sara zur Garage ging, stellte sie fest, dass beinahe vierzig Minuten vergangen waren. Er hatte ihr versprochen, sie anzurufen. Er war schon immer ein guter Lügner gewesen, aber dieses Mal freute sie sich darüber. Schon bevor sie zum Auto kam, sah sie das weiße Gesicht des Jungen, der sie von der Rückbank aus anstarrte. Als sie am Türgriff zog, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass das Auto abgeschlossen war. Sie sah durch die beschlagene Scheibe zu ihm herein, doch erst als sie ans Seitenfenster klopfte, machte er ihr auf. Sie stieg ein. Das Radio war aus. Es war eiskalt im Auto. Der Zündschlüssel lag auf dem Beifahrersitz. Sie drehte sich zu ihrem Sohn um. Er war blass, seine Unterlippe zitterte. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Nein«, sagte er. »Ich hab ihn gesehen.« In seiner Stimme schwang der dünne, schrille Unterton mit, den sie nicht mehr gehört hatte, seit er als kleiner Junge zwischen ihnen auf dem Sofa gesessen und sich beim Fernsehen die Hände vor die Augen gehalten hatte. Doch jetzt war er im Stimmbruch, gab ihr keinen Gutenachtkuss mehr und begann sich für Motoren und Mädchen zu interessieren. Und eines Tages würde er sich mit einem von ihnen in ein Auto setzen und sie verlassen, auch er. »Was meinst du damit?«, erkundigte sie sich und drehte den Zündschlüssel. »Der Schneemann« Als der Motor nicht ansprang, befiel sie jähe Panik. Dabei wusste sie gar nicht, wovor sie...