E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Nesbø Headhunter
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-548-92017-7
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-548-92017-7
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Der Bewerber
Der Bewerber war nervös.
Er trug eine Rüstung von Herrenausstatter Gunnar Øye: einen grauen Ermenegildo-Zegna-Anzug, ein handgenähtes Hemd von Borelli und einen burgunderroten Schlips mit Samenzellenmuster, vermutlich Cerruti 1881. Bei den Schuhen war ich mir jedoch ganz sicher, das waren handgenähte Ferragamo. So ein Paar hatte ich selbst einmal besessen.
Die Unterlagen vor mir besagten, dass der Bewerber ein Top-Examen der Norwegischen Handelshochschule in Bergen vorzuweisen hatte, eine Amtszeit als Parlamentsabgeordneter der Bürgerlichen Partei und eine vierjährige Erfolgsstory als Leiter eines mittelgroßen norwegischen Industrieunternehmens.
Trotzdem war Jeremias Lander nervös. Auf seiner Oberlippe glänzte der Schweiß.
Er griff nach dem Wasser, das meine Sekretärin ihm hingestellt hatte.
»Ich möchte …«, begann ich und lächelte. Nicht das offene, bedingungslose Lächeln, mit dem man einen Fremden ins Haus bittet, in die Wärme. Nicht das unseriöse, sondern das höfliche, unverbindliche Lächeln, das laut Fachliteratur die Kompetenz des Gesprächsleiters zum Ausdruck bringt und seine Objektivität und analytischen Fähigkeiten betont. Das fehlende gefühlsmäßige Engagement des Fragenden lässt den Bewerber auf dessen Integrität vertrauen, wodurch er – auch wieder laut Fachliteratur – nüchterner und objektiver Auskunft gibt. Man vermittelt ihm damit das Gefühl, dass man jegliche Schauspielerei und Übertreibung durchschaut und dass jedes Taktieren bestraft wird. Aber ich lächle nicht so, weil es die Fachliteratur so empfiehlt. Dieser Berg mehr oder weniger qualifizierter Bullshit ist mir egal, ich halte mich bloß an das neunstufige Befragungsmodell von Inbaud, Reid und Buckley. Und ich lächle so, weil ich so bin: professionell, analytisch und ohne gefühlsmäßiges Engagement. Ich bin Headhunter. Das ist nicht sonderlich schwer. Aber ich bin der beste von allen.
»Ich möchte«, wiederholte ich, »… dass Sie mir als Nächstes von Ihrem Leben außerhalb der Arbeit erzählen.«
»Gibt es so etwas?« Sein Lachen lag anderthalb Töne höher, als es sollte. Wenn man einen derart trockenen Witz in einem Bewerbungsgespräch macht, sollte man es vermeiden, selbst zu lachen, dabei sein Gegenüber anzustarren und auf eine Reaktion zu hoffen.
»Das hoffe ich doch«, sagte ich, woraufhin sein Lachen in ein Räuspern überging. »Ich glaube, die Leitung des Unternehmens legt Wert darauf, dass der neue Geschäftsführer ein ausgeglichenes Leben führt. Sie suchen jemanden, der ein paar Jahre bleibt, einen Langstreckenläufer, der sich seine Zeit einzuteilen weiß. Nicht jemanden, der nach vier Jahren ausgebrannt ist.«
Jeremias Lander nickte und trank noch einen Schluck Wasser.
Er war etwa 14 Zentimeter größer als ich und drei Jahre älter. Also 38. Etwas zu jung für den Job. Und das wusste er, nur deshalb hatte er sich die Haare an den Schläfen unauffällig grau getönt. Ich sah so etwas nicht zum ersten Mal. Hatte schon Bewerber erlebt, die derart unter schwitzenden Händen litten, dass sie sich ein bisschen Kalk in die rechte Jackentasche gestreut hatten und mir den trockensten, weißesten Händedruck aller Zeiten boten. Landers Hals gab einen unfreiwilligen Gluckslaut von sich. Ich notierte auf meinem Fragebogen: MOTIVIERT, LÖSUNGSORIENTIERT.
»Sie wohnen also hier in Oslo?«, fragte ich.
Er nickte. »Skøyen.«
»Und Sie sind verheiratet mit …« Ich blätterte durch die Unterlagen und setzte die irritierte Miene auf, die den Bewerbern signalisiert, dass sie jetzt die Initiative übernehmen sollen.
»Camilla. Wir sind seit zehn Jahren verheiratet und haben zwei Kinder. Sie gehen zur Schule.«
»Und wie würden Sie Ihre Ehe charakterisieren?«, fragte ich, ohne aufzublicken. Ich gab ihm zwei lange Sekunden Zeit, und als ich bemerkte, dass er sich noch nicht gesammelt hatte und mir die Antwort schuldig bleiben würde, fuhr ich fort: »Glauben Sie, dass Sie noch immer zusammen sind, wenn Sie die nächsten sechs Jahre zwei Drittel ihres wachen Lebens mit der Arbeit verbringen?«
Ich blickte auf. Sein Gesicht strahlte die erwartete Verwirrung aus. Ich war mit voller Absicht inkonsequent gewesen. Ausgeglichenes Leben. Totaler Anspruch. Das passte nicht zusammen. Es vergingen vier Sekunden, bis er antwortete. Mindestens eine Sekunde zu viel.
»Das hoffe ich doch.«
Sicheres, routiniertes Lächeln. Aber nicht routiniert genug. Nicht für mich. Er hatte meine eigenen Worte verwendet, und ich hätte ihm das als Pluspunkt angerechnet, wäre die Ironie beabsichtigt gewesen. In diesem Fall handelte es sich aber nur um das unbewusste Nachäffen einer Person, die er als überlegen einstufte. SCHLECHTES SELBSTBILD, notierte ich. Und er »hoffte« – das hieß, er war sich nicht sicher, skizzierte keine Visionen, blickte in keine Kristallkugel und schien sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass eine der Mindestanforderungen an eine Führungsperson darin bestand, jederzeit den Eindruck hellseherischer Fähigkeiten vermitteln zu können.
KEIN IMPROVISATIONSTALENT. KEIN CHAOSPILOT.
»Arbeitet sie?«
»Ja, in einer Anwaltskanzlei im Zentrum.«
»Jeden Tag, von neun bis vier?«
»Ja.«
»Und wer bleibt zu Hause, wenn eines der Kinder krank ist?«
»Sie. Aber das passiert zum Glück höchst selten, Niclas und Anders sind …«
»Sie haben also keine Haushaltshilfe oder sonst irgendjemanden, der Ihnen tagsüber zur Hand geht?«
Er zögerte, wie es Bewerber tun, wenn sie unsicher sind, welche Antwort die richtige ist. Trotzdem lügen sie enttäuschend selten. Jeremias Lander schüttelte den Kopf.
»Sie sehen so aus, als würden Sie etwas für Ihre Fitness tun?«
»Ja, ich treibe regelmäßig Sport.«
Dieses Mal kein Zögern. Jeder weiß, dass Firmen keine Manager wollen, die bei den ersten Schwierigkeiten einen Herzinfarkt bekommen.
»Jogging und Langlauf vielleicht?«
»Ja, die ganze Familie ist gern auf dem Land. Und wir haben eine Hütte im Norefjell.«
»Ah ja, dann haben Sie sicher auch einen Hund.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nicht? Sind Sie allergisch?«
Energisches Kopfschütteln. Ich notierte mir: EVENTUELL ETWAS HUMORLOS.
Dann lehnte ich mich zurück und legte die Fingerspitzen der beiden Hände aneinander. Natürlich eine übertrieben arrogante Geste. Was soll ich sagen? Ich bin so.
»Was meinen Sie, welchen Wert hat Ihr Renommee, Lander? Und wie sind Sie versichert?«
Er zog seine bereits verschwitzte Stirn in Falten und versuchte, meine Frage zu verstehen. Nach zwei Sekunden fragte er resigniert:
»Wie meinen Sie das?«
Ich seufzte, als läge das auf der Hand. Sah mich um, als suchte ich nach einer pädagogischen Allegorie, auf die ich noch nicht zurückgegriffen hatte. Und fand sie schließlich wie immer an der Wand.
»Interessieren Sie sich für Kunst, Lander?«
»Nicht sehr. Aber meine Frau.«
»Meine auch. Sehen Sie das Bild dort?« Ich zeigte auf »Sara gets undressed«, ein mehr als zwei Meter hohes Gemälde auf Latex, das eine Frau in einem grünen Rock darstellte, die sich gerade einen roten Pullover über den Kopf zog. »Ein Geschenk von meiner Frau. Der Künstler heißt Julian Opie, und das Bild ist eine Viertelmillion Kronen wert. Haben Sie irgendwelche Kunstwerke in dieser Preisklasse?«
»Ja, die habe ich tatsächlich.«
»Gratuliere. Sieht man diesen Bildern auch an, wie viel sie wert sind?«
»Eine gute Frage.«
»Nicht wahr? Das Bild dort drüben besteht aus ein paar wenigen Strichen, der Kopf der Frau ist ein bloßer Kreis, eine Null ohne Gesicht, und die Farbgebung ist monoton und ohne Textur. Es ist überdies auf einem Computer erstellt worden und könnte durch einen einfachen Tastendruck millionenfach ausgedruckt werden.«
»Wow.«
»Das Einzige – und es gibt wirklich keinen anderen Grund – das Einzige, was dieses Bild so wertvoll macht, ist das Renommee des Künstlers. Sein Ruf. Das Vertrauen des Marktes in die Genialität dieses Mannes. Dabei ist es schwierig, diese Genialität konkret zu beschreiben, nichts ist sicher. So ist das auch mit Führungspersönlichkeiten, Lander.«
»Ich verstehe. Renommee. Es geht um das Vertrauen, das ein Chef weckt.«
Ich notierte: KEIN IDIOT.
»Genau«, fuhr ich fort. »Davon hängt alles ab. Nicht nur der Lohnscheck, sondern auch der Börsenwert eines Unternehmens. Darf ich fragen, was für ein Kunstwerk Sie haben...