Nerdinger | Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 817 Seiten

Reihe: Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung

Nerdinger Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert

Geschichte, Gesellschaft, Funktionen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-406-80711-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichte, Gesellschaft, Funktionen

E-Book, Deutsch, 817 Seiten

Reihe: Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung

ISBN: 978-3-406-80711-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit diesem Buch legt Winfried Nerdinger, renommierter und vielfach ausgezeichneter Architekturhistoriker, einen umfassenden Überblick zur Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert vor. Es sind 100 prägende Jahre, von Peter Behrens bis Günter Behnisch, vom Völkerschlachtdenkmal und Faguswerk bis zur Stalinallee und dem neuen Bundestag – 100 Jahre, in denen sich Deutschlands städtebauliches Bild prägend herausbildet. Erstmals werden hier Architektur und Städtebau im Zusammenhang der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen vorgestellt.

Der Schwerpunkt dieser Geschichte der Architektur in Deutschland liegt auf dem Zeitraum 1890 bis 1990 – vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Die Umbrüche 1918/19, 1933 und 1945 verändern jeweils die äußeren Rahmenbedingungen, ab 1945 spaltet sich das Bauwesen in die Besatzungszonen auf und nach der Gründung von BRD und DDR 1949 werden die Entwicklungen in Ost und West von Konkurrenz und Konvergenz bestimmt. Mit der politischen Einigung verbinden sich die verschiedenen Architekturstränge wieder, das Jahr 1990 bildet daher eine wichtige Zäsur. Ein Ausblick auf die Zeit nach 1990 beschließt diese facettenreiche Sozial-, Wirtschafts-, Institutionen- und Technikgeschichte der Architektur.

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Einführung
Dass kein einziger Zustand der Menschen und Dinge Aufmerksamkeit verdient an sich, sondern nur im Zusammenhange mit dem vorhergehenden und folgenden Dasein; dass die Resultate an sich nichts sind, alles nur die Kräfte, die sie hervorbringen, und die aus ihnen entspringen. Wilhelm von Humboldt[1] Industrialisierung, Verstädterung und Urbanisierung basieren – wie kapitalistische Wirtschaft, bürokratische Ordnung und technisch-wissenschaftliche Rationalisierung – auf der von Max Weber aufgezeigten Entfaltung des okzidentalen Rationalismus. Die Prozesse lösten traditionelle Bindungen auf und bewirkten Verunsicherungen, auf die künstlerische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Antworten erfolgten. Eine Zusammenfassung der Reaktionen geschah zuerst im Bereich der Kunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in dem substantivierten Begriff «die Moderne». Da der Begriff «durch das Selbstverständnis der avantgardistischen Kunst geprägt ist»[2], behielt er eine «ästhetische Kernbedeutung». Für die meisten Künstler und Architekten ist «modern» beziehungsweise «die Moderne» bis heute positiv besetzt, die Begriffe transportieren für sie die darin eingelassenen Interessen und Leitideen wie zeitgemäß, Abwendung von historischen Formen, fortschrittlich, innovativ sowie implizit auch eine moralische Wertung. Als der Herausgeber der Zeitschrift «Baukunst und Werkform», Alfons Leitl, 1948 erklärte, ein «guter Architekt» sei «immer ein moderner Architekt»[3], fällte er nicht nur ein pauschales Qualitätsurteil, sondern er bediente sich auch einer seit über einem halben Jahrhundert mit «modern» verknüpften moralischen Konnotation, die er zur Exkulpation derjenigen verwendete, die während des Nationalsozialismus «modern» gebaut hatten, während umgekehrt «unmodern» zur Kennzeichnung der NS-Zeit diente – beides verfälschte historische Fakten. Eine Geschichte der Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert ist auch eine Geschichte der Moderne – Begriffe, Selbstverständnis, Werke und Werte müssen deshalb hinterfragt und in den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen dargestellt werden, um die mit der «Moderne» transportierten Vorstellungen einzuordnen.[4] Schon Max Weber verwies auf die Antinomien beziehungsweise Paradoxien der Rationalisierung, die strukturell zur Moderne gehören. Wie die Antworten so liegen auch die Probleme in den Entwicklungspotenzialen der Moderne selbst, im Industriekapitalismus, in der Bürokratisierung, in sozialtechnischen Integrationsstrategien, im Hegemonialanspruch von Technik und Wissenschaft sowie in der angeblichen Sachgesetzlichkeit der Rationalisierung.[5] Die kapitalistische Wirtschaft ist verbunden mit Leistungssteigerung wie auch den Zwängen eines Social Engineering, der Zuwachs an Ordnung und Rationalität erzeugt auch eine Kolonialisierung der Lebenswelt und Ausbrüche in die Barbarei.[6] Der «modernen Architektur» sind die Antinomien der Moderne konstitutiv eingeschrieben. Auf die Massengesellschaft, die Verdichtung der Städte und deren hygienische und soziale Zustände sowie auf die Trennung von der Natur antwortete die architektonische Moderne mit urbanistischen und sozialen Konzepten wie der Garten-, Trabanten- oder Bandstadt, mit Auflockerung, Durchgrünung und Trennung der urbanen Funktionen, mit Zeilenbau und neuen Wohnformen. Die Kehrseite waren Auflösung von Urbanität, Verlust von identitätsstiftender Tradition, soziale Segregation sowie Behausung des Menschen entsprechend den ökonomisch begründeten Prinzipien maschineller Produktion. Von ihren Protagonisten wurde die moderne Architektur als Befreiung des Menschen vom Ballast der Historie, als Rettung aus kranken Städten und ungesunden Mietskasernen sowie als Weg zu egalitären Räumen in einer neuen Gesellschaft gepriesen. Die Entwicklungsgeschichte der Moderne war jedoch «keine Einbahnstraße zur Freiheit»[7]. Die Modernisierungsprozesse sind an gesellschaftliche Strukturen gebunden, sie finden in Demokratien wie auch in Diktaturen statt und können deshalb auf ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Ziele ausgerichtet sein. Rationalisierung und «moderne» Architektur sind für nahezu jeden Zweck und jede Gesellschaftsform verwendbar. Die «dunkle» Seite der Moderne beziehungsweise das «Doppelgesicht»[8] der modernen Architektur blieb lange von den positiven Konnotationen überlagert. Um immanente Ambivalenzen und Paradoxien der Moderne nach den Erfahrungen der 1930er- und 1940er-Jahre besser zum Ausdruck zu bringen, ersetzten Sozial- und Geschichtswissenschaften den Epochenbegriff durch eine von der Rationalisierung entkoppelte «Modernisierung»[9]. Das Ende des Fortschrittsglaubens und die Erkenntnis von Grenzen des Wachstums in den 1970er-Jahren führten zum begrifflichen Modell einer «reflexiven Moderniserung»[10], in der die bisherigen Vorstellungen von der Moderne selbst zum Thema wurden. In der Folge wurde «die Moderne» zunehmend pluralisiert, und in den Untersuchungen über «Multiple Modernities»[11] erfolgte eine Differenzierung hinsichtlich der global unterschiedlichen Entwicklungen sowie eine Historisierung der verschiedenen Moderne-Diskurse. Im Bereich der Architektur wandte sich eine als «Postmoderne» bezeichnete Bewegung seit den 1960er-Jahren gegen die von den Rationalisierungsidealen geprägte moderne Architektur, die als «klassische» oder «erste» Moderne in die Geschichte verabschiedet werden sollte. Die postmoderne Architektur charakterisierte sich durch Bezüge auf die Historie, wandte sich gegen internationale Gleichform und anonyme Räume, verknüpfte sich mit dem konkreten Ort und spielte mit Bildern, Widersprüchen und Zitaten. Die Entwicklung der postmodernen Architektur führte jedoch nicht zu einer Revision der Grundlagen der modernen Architektur, sondern mit der Aufgabe der Totalisierung bildeten sich plurale Architekturbereiche aus.[12] Die neuen postmodernen Architekturformen passten sich in die ökonomischen Prozesse ein, zudem wurde die «klassische Moderne» rückblickend in verschiedene Kategorien wie «andere», «heroische», «konservative», «konsequente», «moderate» oder «sanfte» Moderne aufgeteilt, um mittels einer größeren Bandbreite verschiedene Entwicklungsstränge in die Gegenwart leiten zu können. Dies konterkarierte allerdings die Reformanliegen der sozial engagierten Vertreter moderner Architektur, die sich um eine Umsetzung eines von aufklärerischen Idealen getragenen «Projekt Moderne»[13] bemühten. Die in den Begriff «moderne Architektur» ein- und festgeschriebenen positiven Konnotationen können nicht mehr aufgehoben werden, die Darstellung der Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts berücksichtigt die Ambivalenzen der Moderne, indem die Planungen und Bauten in politische, ökonomische und soziale Zusammenhänge eingebettet und die Begriffe soweit möglich reflexiv verwendet werden.[14] Wird der Blick auf «die Moderne» fokussiert, werden Entwicklungslinien und Bedeutungen konstruiert, die das Baugeschehen nicht adäquat abbilden und historische Zusammenhänge ausblenden. Es geht also darum, die Entwicklung der Architektur sowohl in ihrer Vielfalt als auch in historischen Prozessen zu verfolgen. Nicht Betrachtungen von einzelnen Bauten und Planungen, sondern die vielfältigen Bedingungen der Bau- und Planungstätigkeit und deren architektonische Ausformung im Wechselspiel der Kräfte stehen deshalb im Vordergrund, um die Wege von 100 Jahren Architektur in Deutschland zu erhellen. Die Untersuchung setzt um 1890 ein,[15] da in der folgenden Dekade mehrere ineinandergreifende, auch für die Architektur konstitutive Ereignisse wirksam werden: Die Entlassung Otto von Bismarcks im März 1890 und die folgende Herrschaft Wilhelms II. markieren einen politischen Epochenwechsel, der zum Ersten Weltkrieg führt[16] sowie wilhelminischen Pomp und monumentale Repräsentation verstärkt. Das Ende der Sozialistengesetze 1890 kennzeichnet den Beginn einschneidender gesellschaftlicher und sozialer Entwicklungen über verstärkte Arbeiterorganisationen sowie genossenschaftliche Baubetriebe, die sich aufgrund neuer Hypothekengesetze entfalten können. In wirtschaftlicher Hinsicht setzt nach einer Depression in der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre ein Aufschwung ein, der mit kleinen Abschwächungen bis 1914 anhält. Für das Bauwesen beginnt mit dem Mitte der 1880er-Jahre patentierten Moniersystem für Eisen- beziehungsweise Stahlbeton und dem 1892 eingeführten monolithen...


Winfried Nerdinger war Professor für Architekturgeschichte und Direktor des Architekturmuseums der TU München sowie Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums München. Seit 2019 ist er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.



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