E-Book, Deutsch, 290 Seiten
Nenik E. oder Die Insel
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86391-300-7
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 290 Seiten
ISBN: 978-3-86391-300-7
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Francis Nenik ist ein Pseudonym, der Autor scheut die Öffentlichkeit. Er wurde Anfang der 80er geboren und lebt in Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in renommierten Zeitschriften wie Merkur, Edit und Words Without Borders, die zum Teil fürs Radio vertont wurden. Sein Debütroman 'XO' erschien 2012 in Form einer Loseblattsammlung, im selben Jahr erhielt er den 2. Preis im Essay-Wettbewerb der Literaturzeitschrift Edit. Der Essayband 'Doppelte Biografieführung' sowie der Roman 'Die Untergründung Amerikas' erschienen 2017, im Januar 2017 startete Francis Nenik sein 'Tagebuch eines Hilflosen', in dem er online die Amtszeit von Donald Trump literarisch begleitet.
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Sonntag, 15. April 1945
Ich friere. Die Decke hat über Nacht die Feuchtigkeit aufgesogen wie ein Schwamm. Sogar die Blätter im Koffer sind von einem feinen Taufilm überzogen, und während ich das hier notiere, streicht ihn der Stift in kleinen Bögen aus und überschreibt ihn mit meinen Worten.
Meine Worte liegen auf dem Papier wie ich auf der Insel. Sie sind mein Eiland. Ein Archipel aus Grafit in einem Meer aus Tau.
Ich habe gefrühstückt. Brot mit Rindfleisch und Wachsbohnen. Und zum Nachtisch Kondensmilch. Ich habe mit einem spitzen Stein ein Loch in die Dose gedrückt und getrunken.
Und jetzt? Jetzt sitze ich hier und lese die Zeitung. Ich habe sie mir aus den Zweigen des Holunderbusches geholt.
Der Nebel war dicht genug, dass ich zu ihm gehen konnte. Es war ein Gefühl von Freiheit, über die Insel zu laufen. Als würde ich eine Reise machen. Meine Knochen waren über Nacht ganz starr geworden, und es hat gut getan, sie auszuschütteln und nach all den Stunden wieder aufrecht zu gehen. Ich konnte den Holunderbusch von meinem Lager aus nicht sehen, aber ich hatte ein Ziel. Ich wollte schauen, ob die Äste noch drunter liegen.
Der Fluss ist über Nacht angestiegen. Die Männer in der Holzstoff-Fabrik haben gestern Abend die Tore des Mühlgrabens geschlossen, und als ich heute Morgen aufgewacht bin und das Rauschen vernommen habe, hatte ich Angst, die Äste könnten weggespült worden sein. Aber sie waren noch da. Das Wasser ist höchstens einen Fuß gestiegen. Genug immerhin, um es wieder übers Wehr fluten zu lassen.
Ich habe mein Gesicht im Fluss gewaschen und ein wenig getrunken, und als ich zurückgehen wollte, habe ich etwas im Holunderbusch hängen sehen. Es waren Reste von altem Zeitungspapier. Sie müssen sich bei einem früheren Hochwasser darin verfangen haben. Das Papier war schon ganz morsch und ist unter meinen Händen zerbröselt wie altes Pergament.
Ich habe ein paar von den Zeitungsfragmenten vorsichtig aus den Ästen entfernt und sie mit in mein Lager genommen. Jetzt liegen sie vor mir auf dem Koffer, und ich weiß nicht recht, was ich mit ihnen anfangen soll. Es sieht aus wie ein Puzzle, bei dem fast alle Teile fehlen, und selbst die, die ich habe, ergeben keinen Sinn.
Das größte Stück besteht aus gerade mal fünf Zeilen, deren Ränder weggebrochen sind, und das Einzige, was ich noch lesen kann, ist, dass es eine spezielle Form des Obstanbaus gibt, die sich Etagenobstanbau nennt, aber weder weiß ich, was dieser Etagenobstanbau ist, noch wer ihn betreibt. Ich weiß noch nicht mal, aus welchem Jahr die Zeitung stammt und in welcher Stadt sie erschienen ist. Ich weiß nur, dass ich gegessen und gelesen habe. Und dass ich damit begonnen habe, mich einzurichten auf dieser Insel.
Es ist, als müsste ich von nun an jeden Morgen zum Holunderbusch gehen und in ihm von Dingen lesen, die ich nicht kenne, aus Zeiten, von denen ich nicht weiß, wann sie waren. Vielleicht fügt sich dann ja alles zusammen.
Der Holunderbusch ist komplett von Moos überwachsen. Eine grün-braune Kruste, unter der sich das Holz verbirgt, weich und weiß wie die Haut eines Menschen.
Die drei großen Äste dagegen sind dick wie ein Schienbein und haben ihr Innerstes nach außen gekehrt. Das Wasser hat ihnen die Rinde heruntergeschmirgelt, und selbst in den ausgebrochenen Astlöchern ist nichts mehr zu finden. Von außen betrachtet, birgt das Holz keine Geheimnisse mehr, aber wenn ich mit meinen Händen darüberstreiche, kann ich nicht glauben, wie glatt es ist. Selbst jetzt, wo die Äste neben mir im Gebüsch liegen und ich sie wieder und wieder berühre, vergeht dieses Gefühl nicht. Drei Stück totes Holz, das die Farbe und Festigkeit von Knochen besitzt, und doch ist es, als würde ich etwas Herrliches streicheln.
Der Nebel schwindet heute schneller als gestern. Ich kann bereits die Ufer erkennen. Ich werde das Opernglas nehmen und so lange schauen, bis die Umrisse des Pfarrhauses auftauchen.
Es ist niemand zu sehen. Im Pfarrhaus kein Licht, und hinter den Fenstern keine Bewegung. Auf dem Hof ist auch alles still. Selbst in die Kirche scheint niemand zu gehen. Dabei müssten sie doch Gottesdienst haben, es ist schließlich Sonntag!
Dann hat Pfarrer Pohlisch also erreicht, was er wollte, und den Gottesdienst hoch in die Stadtkirche verlegt. Für Gott, hat er gesagt, dürfe niemand ein Weg zu weit sein. Nur für ihn gilt das nicht. Für ihn war der Weg runter ins Tal von jeher ein Abstieg. Er fühlt sich Gott nur oben auf seinem Felssporn ganz nah.
Jetzt scheint er es geschafft zu haben, und die Leute aus dem Dorf müssen zum Gottesdienst hoch in die Stadt, wo der kleine Prophet wohnt. Die Kirche drüben am Ufer ist jedenfalls leer, genau wie das Pfarrhaus und die Schule. Das ganze Gelände sieht aus wie ein Stillleben, das gemalt werden will. Sogar der kleine Anbau rechts neben der Schule, in dem Retschky seine Seidenraupen züchtet, wirkt völlig verlassen.
Wenn es stimmt, was der Totengräber Wundmann mir erzählt hat, dann hat die Gemeinde den Anbau erst vor ein paar Jahren errichtet, weil die Klassenzimmer nicht mehr ausgereicht haben. Aber dann hat Retschky ihn umfunktioniert, um Seidenraupen darin züchten zu können. Ein Aufzuchtzimmer für Tiere statt Kinder.
Drüben auf der Chaussee kommen Pferdefuhrwerke gefahren. Acht Stück, und vor ihnen fährt der Holzkutscher Ziemann mit seinem Traktor. Er hat wie üblich drei Hänger angekoppelt, nur dass sie diesmal leer sind, genau wie die der Pferdefuhrwerke.
Es sieht aus, als wollten sie alle hoch in die Stadt. Aber warum?
Ziemanns Traktor gehört eigentlich der Holzstoff-Fabrik, aber dort arbeiten sie heute nicht, denn sonntags ist die Fabrik geschlossen. Nur Ziemann hat offenbar etwas zu tun.
Ziemann wohnt in einem winzigen Häuschen direkt gegenüber der Eisengießerei, nicht weit vom Pfarrhaus entfernt. Marie und ich haben ihn oft auf unseren Sonntagsspaziergängen gesehen. Er hatte den Traktor jedes Mal vor seinem Häuschen geparkt und stand auf den Hängern, um den Dreck der Woche runterzukehren, und ich habe mir immer vorgestellt, wie er, wenn er mit der Arbeit fertig ist, direkt von den Hängern in sein Häuschen reinsteigt. Er muss nur das Fenster aufstoßen und einen Schritt machen, schon ist er in der zweiten Etage. So groß sind die Hänger, und so klein ist sein Haus.
Nur heute hätte ich ihn nicht angetroffen. Heute zieht es ihn zusammen mit den Pferdefuhrwerken hoch in die Stadt.
Vor einigen Wochen hat mir Marie erzählt, dass sie gesehen hat, wie Ziemann mit seinem Traktor über die Brücke gefahren ist, just in dem Augenblick, als die Frau des Bahnwärters Bergmann die Schranken geschlossen hat. Ziemann hatte es eilig, seine Hänger waren meterhoch mit Baumstämmen beladen, die er in die Holzstoff-Fabrik bringen wollte. Aber die Frau des Bahnwärters hat ihn nicht mehr durchgelassen. Ziemann hat geschimpft und getobt, aber es war nichts zu machen, und kaum dass der Zug weg und die Schranke wieder oben war, hat er mit seinem Traktor Vollgas gegeben, so sehr, dass die Maschine einen Sprung nach vorn getan hat und hinten ein Teil der Baumstämme vom Hänger gerutscht ist.
Marie hat mir oft solche Geschichten erzählt wenn wir abends im Bett lagen. Es war, als wollte sie mich teilhaben lassen am Leben vor Ort. Als wollte sie mir zeigen, dass es nichts gibt, worüber ich mir Sorgen zu machen brauche. Dass die Welt hier höchstens mal kurz aus dem Gleichgewicht, aber niemals aus den Fugen gerät, selbst dann nicht, wenn rundrum alles bereits in Schutt und Asche liegt.
Aber die Welt muss nicht in Schutt und Asche liegen, um grausam zu sein!
Was, wenn Marie und die Kinder doch irgendwo Schutz gesucht haben? Am Fuße des Felssporns, auf dem die Stadt ruht, gibt es eine Reihe von Türen. Sie sind direkt in den Felsen gesetzt und liegen nicht weit von der Brücke und den Häusern entfernt. Die Türen sind nicht groß, aber ein Mensch passt hindurch. Was dahinter ist, kann ich nicht sagen. Ich habe nie eine geöffnet und auch nie jemand hindurchgehen sehen. Wenn wir sonntags daran vorbeigelaufen sind, habe ich sie mir immer als eine Reihe von Grabkammern vorgestellt, sorgfältig verschlossen mit kleinen, hechtgrauen Türen.
Etwas muss sich hinter den Türen verbergen. Vielleicht sind es Luftschutzkeller. Vielleicht sind sie dorthin gegangen. Und Retschky mit ihnen. Aber es gab keinen Alarm. Dass sie nicht mehr da sind, muss also einen anderen Grund haben.
Außerdem, wenn Fliegeralarm war, haben wir immer Schutz im Kohlenkeller der Kirche gesucht. Wenn Marie und die Kinder dort gewesen wären, hätte ich sie gesehen. Zum Kohlenkeller gelangt man nur durch die Sakristei, und in der bin ich gewesen.
Es ist nur ein Gedanke, es sind alles nur Gedanken, aber was, wenn Retschky hoch in die Stadt gegangen ist, um beim Ausheben der...