Nelson | Die Argonauten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Nelson Die Argonauten

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-446-25789-4
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es ist die Geschichte einer Liebe: Maggie Nelson verliebt sich in Harry Dodge, einen Künstler – oder eine Künstlerin? – mit fluider Genderidentität. Harry hat bereits ein Kind, Maggie wird schwanger, zu viert bauen sie ein gemeinsames Leben. "Die Argonauten" ist eine ergreifende Geschichte queeren Familienlebens, zugleich erfindet Maggie Nelson eine ganz eigene Form der philosophischen Erkundung. Memoir, Theorie, Poesie: Es ist ein Buch, das sich nicht einordnen lässt und das unsere Einordnungen herausfordert mit seinem radikal offenen Denken. Im Geiste von Susan Sontag und Roland Barthes verbindet Maggie Nelson theoretische und persönliche Erkenntnissuche, um zu einer neuen Erzählung des Wesens von Liebe und Familie zu gelangen.
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Wenn man sich als weibliches Kind auf die Suche nach sexuellen Szenen macht und alle, die man findet, sich als Szenen der Vergewaltigung von Kindern und anderen Missbrauchs herausstellen (so wie in sämtlichen meiner Lieblingsbücher in den Pre-Teen-Jahren: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt, Ayla und der Clan des Bären, Garp und wie er die Welt sah und der Handvoll Erwachsenen-Filme, die ich sehen durfte – allen voran Fame – Der Weg zum Ruhm, mit der unauslöschlichen Szene, in der der Fotograf Irene Cara verspricht, sie zum Star zu machen, wenn sie für die Kamera ihr Hemd auszieht und an ihrem Daumen lutscht), dann formt sich die eigene Sexualität um diese Tatsache herum. Es gibt keine Kontrollgruppe. Ich möchte nicht einmal über »weibliche Sexualität« sprechen, solange es keine Kontrollgruppe gibt. Und es wird nie eine geben. In der Highschool gab uns ein kluger Lehrer die Kurzgeschichte »Wilde Schwäne« von Alice Munro zu lesen. Die Geschichte blies durch mein vom Penis-Maiskolben vernebeltes Gehirn und fegte es sauber. Auf ein paar Seiten breitet Munro alles aus: Wie die Kraft adoleszenter Neugierde und einsetzender Lust häufig im Widerstreit steht mit der Notwendigkeit, sich vor widerwärtigen und niederträchtigen Übeltätern zu schützen; wie man zugleich Genuss und furchtbare Entwürdigung erleben kann, ohne dass dies bedeutet, die Entwürdigung wäre gerechtfertigt oder eine Form der Wunscherfüllung; wie es sich anfühlt, gleichzeitig Komplize und Opfer zu sein; und wie derartige Doppeldeutigkeiten bis ins Erwachsenenalter fortleben können. Munro macht »Wilde Schwäne« erträglicher und interessanter, indem sie erzählt, wie die Protagonistin von einem Fremden in einem Zug befriedigt wird (natürlich ein reisender Priester), ohne Zustimmung oder Protest, aber auch ohne gezwungen zu werden, irgendetwas an seinem Körper zu tun. Anstelle einer Genitalbeschreibung gibt Munro uns ein Landschaftsbild: der Ausblick aus dem Fenster des dahinschießenden Zuges, den das Mädchen vor Augen hat, während sie kommt. Als Iggy fünf Monate alt war, nahmen wir ihn mit zur Trapez-Burlesk-Show meiner besten Freundin, doch wir wurden am Eingang von einem gutgelaunten Türsteher abgewiesen, der uns mitteilte, die Show sei erst ab 18. Ich sagte ihm, dass ich unbesorgt sei, das fünf Monate alte, mir vor die Brust geschnürte Baby dem obszönen Mundwerk und nackten Körper meiner besten Freundin auszusetzen. Er sagte, das Problem sei nicht per se mein Baby – das Problem sei, dass andere Leute das Baby sehen und dadurch an die Babys erinnert werden würden, die sie vielleicht zu Hause gelassen hatten, und dann würde es sich für sie nicht mehr anfühlen wie erwachsenes Ausgehen. Es würde die Kabarett-Atmosphäre stören. Ich bin sehr für erwachsenes Ausgehen und Kabarett-Atmosphäre. Dies ist kein Traktat für das Recht, überall ein Baby mit sich herumzutragen. Ich glaube, was mich störte, war, dass es uns nicht meine Freundin sagte, die uns ja eingeladen hatte. Da es der Türsteher war, der die Botschaft übermittelte, spürte ich (ist das paranoid? – er machte ja nur seinen Job) das Gespenst dessen, was Susan Fraiman als »heroische, schwule, männliche Sexualität« beschrieben hat, die »als Ersatz für ›nicht durch eine zeugungsfähige Weiblichkeit verschmutzte‹ Queerness« einstehe. Um diesem Ersatz etwas zu entgegnen, erläutert Fraiman in einem Kapitel mit dem Titel »Auf der Suche nach dem Anus der Mutter«, das sich durch Freuds berüchtigte Krankengeschichte über den Wolfsmann schlängelt, das Konzept der sodomitischen Mütterlichkeit. Ein erwachsener Mann (der Nachwelt als Wolfsmann bekannt) erzählt Freud in der Analyse davon, wie er als kleiner Junge – vielleicht sogar als Baby – seine Eltern dabei beobachtete, wie sie es »in der Stellung von rückwärts« machten, Doggystyle, bei mehreren Gelegenheiten. Er erzählt von den »Stellungen, welche er die Eltern einnehmen sah, die aufrechte des Mannes und die tierähnlich gebückte der Frau«. (Es sollte vielleicht erwähnt werden, dass diese Erinnerung aus dem Wolfsmann herausgepresst wird – sie ist nicht der Kern seines Leidens.) Freud schreibt, der Wolfsmann »konnte das Genitale der Mutter wie das Glied des Vaters sehen und verstand den Vorgang wie dessen Bedeutung«. Er berichtet auch, der Wolfsmann habe »vorher angenommen, der beobachtete Vorgang sei ein gewalttätiger Akt, allein dazu stimmte das vergnügte Gesicht nicht, das er die Mutter machen sah; er mußte erkennen, daß es sich um eine Befriedigung handelte«. Wenn Freud allerdings fortfährt und die Szene interpretiert, verschwinden die Geschlechtsteile der Mutter. Die Mutter wird zum »kastrierten Wolf, der die anderen auf sich aufsteigen ließ«, und der Vater zum »aufsteigenden« Wolf. Das ist eigentlich keine Überraschung – wie Winnicott angemerkt hat (und Deleuze und viele andere), erscheint Freuds Karriere manchmal wie die Abfolge von Phasen des Berauschtseins durch theoretische Konzepte, die ganz bewusst Nuancen ausradieren. (Oder Wirklichkeit: Freud schlägt später vor, der Junge habe vielleicht Schäferhunden beim Kopulieren zugeschaut und das Bild auf seine Eltern gestülpt, und er bittet seine Leser, »sich mit mir zum vorläufigen Glauben an die Realität dieser Szene zu entschließen«. Solche freimütig zugegebenen Schlenker ins Vorläufige machen die Lust am Lesen von Freud aus; die Probleme beginnen, wenn er sich der Versuchung hingibt – oder wir uns hingeben –, endgültige Schlüsse zu ziehen, anstatt uns daran zu erinnern, dass wir uns im Spiel mit dem Provisorischen befinden.) Zur Zeit der Niederschrift der Wolfsmann-Krankengeschichte war Freuds plat du jour jedenfalls der Kastrationskomplex. Und dieser Komplex verlangt es, dass die Frau »nichts« hat, auch wenn der Patient das Gegenteil beteuert. Freud kaschiert nicht den Ausdruck der Befriedigung im Gesicht der Mutter, die der Wolfsmann beschreibt, aber er verdreht sie bis zur Unkenntlichkeit. Er entwickelt folgende These: Mit anzusehen, wie seine kastrierte Mutter auf diese Weise gefickt wird, und zu sehen, dass sie es genießt, erzeugt für den Wolfsmann eine ursprüngliche, destabilisierende Angst, »die sich als Sorge um sein männliches Glied gegen eine Befriedigung sträubte, für die der Verzicht auf dieses Glied Bedingung schien«. Freud fasst diesen psychischen Knoten wie folgt zusammen: »Wenn du vom Vater befriedigt werden willst, mußt du dir wie die Mutter die Kastration gefallen lassen; das will ich aber nicht.« Das will ich aber nicht: Für Freud ist jenes »das« die Kastration – ohne Zweifel ein zu großer Preis für jede erdenkliche Befriedigung, die zu bekommen wäre. Für manche Queer-Theoretiker, die in Freuds Bugwelle schreiben, ist jenes »das« allerdings etwas ganz anderes: Das Verlangen, vom Vater sexuell befriedigt zu werden, und in diesem Fall wird der Penis nicht zurückgewiesen, sondern multipliziert. Diese Lesart behandelt die Erinnerung des Wolfsmanns an seine Begegnung mit seinen Eltern »in der Stellung von rückwärts« als eine ursprüngliche, kodierte Phantasie von homosexuellem, männlichem Sex, eine Szene von Proto-Homosexualität. In dem Fall ist die spätere Angst des Wolfsmanns vor seinem Vater nicht die Angst vor der Kastration, sondern vor seiner eigenen homosexuellen Begierde in einer Welt, die das aber »nicht will«. Diese Interpretation hat Reiz und Gewicht. Aber wenn die Geschlechtsteile der Frau vorsätzlich ausradiert werden müssen, um dort anzugelangen, und ihre Befriedigung zu einem Lehrstück über die Risiken der Kastration verzerrt werden muss, haben wir ein Problem. (Faustregel: Wenn etwas vorsätzlich ausradiert werden muss, um irgendwo anzugelangen, gibt es meistens ein Problem.) Deshalb beabsichtigt Fraiman, die Befriedigung der Mutter wieder auf die Bühne zu holen und ihr – »selbst als Mutter« – Zugang zu gewähren zu einer »nicht-normativen, nicht-prokreativen Sexualität, zu einer im Vergleich zum pflichtbewusst Instrumentalen überschüssigen Sexualität«. Die Mutter mit solchem Zugang zum Überschuss ist die sodomitische Mutter. Warum brauchte ich so lange, um jemanden zu finden, mit dem meine Perversionen nicht nur kompatibel waren, sondern mit dem sie perfekt harmonierten? Damals wie jetzt spreizt du meine Beine mit deinen Beinen und stößt deinen Schwanz in mich hinein, füllst meinen Mund mit deinen Fingern. Du tust so, als würdest du mich benutzen, führst das Schauspiel deiner egoistischen Befriedigung auf, während du dafür sorgst, dass ich zu meiner komme. In Wahrheit ist es aber mehr als eine perfekte Ergänzung, denn das impliziert eine Form von Stasis. Wir hingegen sind immer in Bewegung, verändern unsere Formen. Egal, was wir machen, es fühlt sich immer dreckig an, ohne dass es sich schlecht anfühlt. Manchmal sind Worte ein Teil davon. Ich erinnere mich, wie wir irgendwann am Anfang nachts im höhlenhaften Atelier einer meiner Freundinnen in Williamsburg standen (sie war verreist), vollkommen nackt, und wieder waren Bauarbeiter draußen und zogen auf der anderen Straßenseite einen Luxuswohnungsturm hoch, und ihre Lichtmasten fluteten das Studio, orangefarbene Schatten und Schäfte, als du mich auffordertest, dir laut zu sagen, was du mit mir machen solltest. Mein ganzer Körper kämpfte damit, irgendeinen aussprechlichen Satz zu sagen. Ich wusste, du warst ein gutes Tier, aber es fühlte sich an, als würde ich vor einem enormen Berg stehen, dem lebenslangen Widerwillen, mir das zu nehmen, was ich wollte, es einzufordern. Jetzt warst du hier, dein Gesicht war nah an meinem, wartend. Die Worte, die ich schließlich fand, waren vielleicht Argo, aber ich weiß...


Nelson, Maggie
Maggie Nelson, geboren 1973, ist Dichterin, Kritikerin und Essayistin. Sie lehrt an der University of Southern California und lebt mit ihrer Familie in Los Angeles. Für ihr hoch gelobtes Buch "Die Argonauten", 2017 in deutscher Übersetzung veröffentlicht, wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr 2020 "Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses".


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