E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 190 mm
Nelles / Geßner Heilung
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-910654-10-5
Verlag: InnenAnsichten
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 190 mm
ISBN: 978-3-910654-10-5
Verlag: InnenAnsichten
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wilfried Nelles (Dr. phil., M.A.) ist Psychologe und Sozialwissenschaftler und leitet gemeinsam mit seinem Sohn Malte Nelles das Nelles-Institut für Phänomenologische Psychologie, Lebensintegrationsprozess und Aufstellungsarbeit in Nettersheim, Eifel und Berlin. Nelles ist Autor vieler Bücher, die in zehn Sprachen übersetzt wurden. Mit dem 'Lebensintegrationsprozess' (LIP) hat er ein neues psychologisches Paradigma entwickelt, in dem es um die ungeteilte Zustimmung zum eigenen Sein geht, um ein Ja zu sich selbst und zum Leben, wie es ist. Malte Nelles ist Diplom-Politologe, Lehrtherapeut für Systemaufstellungen (DGfS) und leitet gemeinsam mit seinem Vater Wilfried Nelles das Nelles-Institut. In Berlin führt er eine Praxis für heilkundliche Psychotherapie, Coaching und Paartherapie. 2023 erschien sein erstes Buch 'Gottes Umzug ins Ich. Eine Tiefenpsychologie des modernen Menschen' im Europa Verlag. Er lebt mit seiner Familie (zwei Kinder) in Berlin. Thomas Geßner ist Diplom-Theologe, Lehrtherapeut für Systemaufstellungen (DGfS) und führt in Halle (Saale) ein Ausbildungsinstitut und eine Praxis für phänomenologische Aufstellungsarbeit, LIP nach Nelles und Beratung. Er ist Gastdozent an verschiedenen Ausbildungsinstituten in Deutschland und Europa und veröffentlicht Bücher, Texte und Videos über seine Arbeit. Er war zwanzig Jahre lang ev. Pfarrer, bevor er sich 2011 beruflich ganz der Aufstellungsarbeit zuwandte. Er ist Vater und Großvater und lebt mit seiner Frau und Kollegin Melanie Geßner in Halle (Saale).
Autoren/Hrsg.
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Heilung
Malte Nelles
Ich möchte heute uber Erfahrungen und Formen von Heilung sprechen, die uns in unserer Arbeit und auch in unserem privaten Leben begegnen. Ich folge hierbei in sehr groben Zugen einem Versuch, den der jungianische Psychoanalytiker Wolfgang Giegerich gemacht hat, in dem er die Frage gestellt hat: »Was heilt in der Psychotherapie?«2. Hierbei geht es nicht darum zu schauen, was ich tun muss, um Heilung herzustellen, sondern es wird in der Nachbetrachtung geschaut, was bei den Menschen, denen Heilung widerfahren ist, geschehen ist. Heilung wird demnach weniger als ein subjektiv herzustellender Zustand betrachtet, sondern als etwas, was objektiv, also aus sich heraus, geschieht und an dem wir teilhaben und zeitweilig »mithandeln«. Wir sind, auch als Therapeuten, nicht die Akteure, die sie »machen«. Heilung widerfährt uns – oder auch nicht.
Meine Betrachtung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Trennschärfe, sondern folgt dem Strom der Gedanken, die mir zum Thema kamen. Nicht nur nach Rom fuhren viele Wege, sondern auch zur Heilung – oder in eine andere Richtung – und oft sind diese Wege sehr unterschiedlich. Dennoch möchte ich versuchen, in den Fällen, in denen Heilung geschehen ist bzw. in denen Heilung erfahren wurde, von den konkreten Einzelfällen zu abstrahieren und auf einer allgemeineren Ebene zu schauen, was dort geschehen ist.
Der persönliche Hintergrund
Als ich mich auf diesen Vortrag vorbereitetet habe und uber das gewichtige Wort »Heilung« kontempliert habe, habe ich einen großen Respekt verspurt. Ich habe mich gefragt, ob ich uberhaupt die richtige Person bin, um uber dieses Thema zu sprechen. Viele von euch wissen, dass ich eine lange Geschichte mit einer chronischen Erkrankung habe, die in meiner Jugend begann.3 Es ging los als eine schwere, verschleppte Atemwegsinfektion und wuchs sich dann aus in eine chronische, dauerhaft bestehende Symptomatik von Entzundung, Infektanfälligkeit, Mudigkeit und Schwäche, die mein vorheriges Leben beendete. Mein Leben ist seitdem geteilt in ein »Davor« und »Danach«. Seitdem ist nichts mehr so, wie es vorher einmal war.
Mir ist aufgefallen, dass ich vor kurzem mein 25-jähriges »Jubiläum« mit dieser Symptomatik erlebt habe, ohne dass ich bewusst daruber nachgedacht hätte. Naturlich wunsche ich mir bis heute, dass diese Krankheit komplett verschwindet, vor allem in Zeiten, in denen sich die Symptome bemerkbar machen und mein Leben bestimmen. In meinen jungeren Jahren war dieser Wunsch nach absoluter Heilung viel drängender und belastender als heute und er fuhrte mich in einen Teufelskreis, da ich mich in meinem Bewusstsein nur noch mit einem Leben identifizierte, in dem ich geheilt war, ich tatsächlich jedoch immer kränker und schwächer wurde. Zu Beginn meiner Zwanziger, nachdem ich bereits zu Hause ausgezogen war und studierte, wurde es so schlimm, dass ich wieder bei meinen Eltern einziehen und in meinem Kinderzimmer leben musste, weil ich meinen Alltag nicht mehr alleine meistern konnte. Ich lebte mit dieser Behinderung, hatte aber nicht einmal einen guten Namen oder eine echte Diagnose dafur, so dass ich mich fur das Ganze auch noch schämte.
Heute bin ich in meiner Position als Therapeut, Ausbilder und Aufstellungsleiter zwangsläufig fur viele Menschen eine Projektionsfläche fur Heilung, der man große Hoffnungen entgegenbringt. Bin ich, der nach wie vor nicht umfänglich – im Sinne einer Symptomfreiheit – »geheilt« ist, der Richtige, um hieruber zu sprechen? Ich habe keine Antwort darauf, aber weiß zumindest, dass mich die Frage von Gesundheit und Krankheit schon länger als mein halbes Leben beschäftigt. Was ich in Bezug auf meine Erkrankung meine gelernt zu haben, ist leider bescheidener als die Errettung aus all dem, von der ich solange geträumt habe. Ich habe einigermaßen gelernt, damit zu leben, und vor allem, dass es mir nichts bringt, dagegen zu leben.
Auf der körperlichen Ebene ist und bleibt vieles an der Symptomatik offen fur mich. Manchmal habe ich heute ein gutes halbes Jahr, in dem ich sogar wieder ein bisschen Sport machen kann, und die Atemschmerzen sind ein kleineres Zipperlein. Manchmal habe ich ein halbes Jahr lang durchgehend Halsschmerzen oder eine immer wieder aufflammende Bronchitis, und es ist herausfordernd, das alltägliche Leben mit Familie und Beruf einigermaßen hinzubekommen. Auf einer anderen Ebene, der seelischen, innerlichen und geistigen, war diese Krankheit jedoch eine Heilung fur mich. Sie hat meinem Leben mit all dem, was ich an ihr gehasst habe und manchmal weiterhin hasse, auf kompromisslose Weise Richtung gegeben. Sie war so viel stärker als all das, was ich aus meinem Ich heraus gerne gehabt hätte und geworden wäre. Sie hat mich dahin geschliffen und nicht selten gequält, Wege zu gehen und Talente zu entwickeln, denen ich ansonsten keine Bedeutung gegeben hätte. Meine Art zu leben und zu lieben wären ohne diese Erfahrung und ihren Schliff an mir nicht dieselben. Wenn ich zuruckschaue, weiß ich, dass ich ohne die Erkrankung und die mannigfaltigen Probleme, die sie mitbrachte, als Person wesentlich langweiliger geblieben wäre. Der fiktive Mann, der von dem Ganzen verschont geblieben ist, auf den ich in meiner Imagination schaue, tut mir ein bisschen leid, weil er wenig Konturen entwickelt hätte. Heilung in einem seelischen und nicht nur in einem körperlichen Sinne ist, wenn ich das ernst nehme, etwas sehr Relatives und geht Wege, fur deren tieferes Verständnis es manchmal viele Jahre braucht.
Dies ist mein persönlicher Hintergrund zum Thema, den ich teilen möchte, bevor ich mich nun dem Allgemeinen zuwende. Ich teile das hier, da ich daran erinnern möchte, dass man bei keiner theoretischen psychologischen Betrachtung vergessen darf, wer sie wann entwickelt hat oder auch nur wer wann, also unter welchen Lebensbedingungen, von den Ideen eines anderen Psychologen infiziert wird und sie dann aufgreift und weiterdenkt. In jeder ernsthaften und kraftvollen psychologischen Theorie steckt neben ihrer allgemeinen Wahrheit, von der man sich, sofern man sie als wahrhaftig erfährt, durchwirken lassen kann, stets auch das persönliche Ringen desjenigen, der sie entwickelt. Jede psychologische Idee trägt den (manchmal auch verzweifelten) Versuch ihres Entwicklers in sich, sich selbst zu heilen. Freuds »Ich«, Jungs »Selbst«, Hellingers »Zugehörigkeit« und »Ordnungen der Liebe« und hier bei uns mit Sicherheit auch die Lebensstufen und dabei besonders das »Erwachsensein« von meinem Vater, meine »Neurosen« oder Thomas (Geßners) »Symbiosen« – dies sind alles Konzepte, in denen die eigenen höchstpersönlichen offenen seelischen Existenzfragen zu allgemeinen Begriffen ausgearbeitet worden sind. Jede Psychologie ist ein Selbstbekenntnis.
Heilung durch Liebe
Ich möchte nun den ersten Faktor benennen, dessen Zeuge wir in vielen Prozessen von Heilung werden. Er kommt vor allem anderen und ist so selbstverständlich, dass ich ihn in der Präsentation, die ich vorbereitet habe, nicht einmal aufgefuhrt habe, aber er springt gerade in mein Bewusstsein: Es ist die Heilung durch Liebe.
Was macht man, wenn ein Kind Fieber bekommt und krank wird? Was braucht es? In 95 Prozent aller Fälle braucht es keine Medizin und Untersuchung, sondern körperliche und seelische Zuwendung und Nähe. Es braucht Liebe, um wieder gesund zu werden. Dies ist so naheliegend und selbstverständlich, dass wir kaum daruber sprechen, geschweige denn weiter daruber nachdenken. Der Ursprung der christlichen Religion, die unsere Kultur und Seelen so tief geprägt hat, ist die einfache Botschaft, dass die Liebe das ist, was heilt (jenseits davon, wieviel von dieser Botschaft Jesu in der institutionalisierten Religion ubriggeblieben ist). In der Psychotherapie gibt es tausende Studien uber »Wirkfaktoren« von Therapie, und was ist das Wichtigste, was herausgekommen ist? Dass es auf die Beziehung zwischen Therapeut und Patient ankommt. Dass da jemand ist, dem ich mich öffnen mag, den ich als ehrlich und integer wahrnehme, zwischen dem und mir – nun in einem allgemeinsten Sinne – Liebe fließt.
Dieses Allerselbstverständlichste fällt uns erst auf, wenn es fehlt. Ich erinnere mich an eine Aufstellungsarbeit mit einer Klientin im Mai 2021. Sie war die Großmutter zweier Enkeltöchter und war in einem heftigen Konflikt mit ihrer Tochter, der Mutter der beiden Kinder. Ihre Enkeltöchter, die sieben und neun Jahre alt waren, hatten vor kurzem Corona. Ihre Eltern, die alles den staatlichen Maßgaben entsprechend richtig machen wollten, haben die beiden Kinder in der Wohnung in Quarantäne gesetzt. Die Mahlzeiten wurden vor der Tur des Kinderzimmers abgestellt und durften erst in Empfang genommen werden, wenn die Eltern wieder auf Abstand waren. Ansonsten blieb die Tur abgeschlossen. Die Großmutter war hieruber so entsetzt, dass sie ihrer Tochter vorgeworfen hat, dass man so nicht mit kranken Kindern umgehen darf, worauf ihre Tochter den Kontakt zu ihr abbrach und sie die Enkeltöchter nicht mehr sehen durfte. Ohne hieruber bewusst nachzudenken, war sie felsenfest vom Vorrang des Heilfaktors »Liebe« fur Kinder, hier im Sinne von körperlicher Nähe und Zuwendung, uberzeugt. Die öffentliche Lobby fur die Liebe und Bindung als Heilfaktor war in Zeiten der Pandemie – vor allem gegenuber Kindern und Alten – ungefähr so stark wie diese verzweifelte Großmutter in ihrem Kampf gegen die Windmuhlen des von der Pandemie infizierten...




