E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Nelles Die Gräfin
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-446-28187-5
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-446-28187-5
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein atmosphärischer Roman über eine Gräfin auf der Hallig, deren Welt durch den Absturz eines Piloten ins Wanken gerät
Die Begegnung mit einem feindlichen Piloten, der 1944 vor der Hallig Südfall abstürzt, löst in der dort zurückgezogen lebenden, achtzigjährigen »Hallig-Gräfin« verzweiflungsvoll-ambivalente Gefühle aus. Zwischen den beiden entsteht allen Widerständen zum Trotz ein zerbrechliches Band.
Atmosphärisch und voll untergründiger Spannung erzählt Irma Nelles in ihrem späten Romandebüt die Geschichte der historisch verbrieften Gräfin, um die sich heute noch Mythen und Geheimnisse ranken.
Autoren/Hrsg.
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An einem der letzten Tage im August des Kriegsjahres 1944, kurz nach Mitternacht, bestieg John Philip Gunter das fabrikneue einmotorige Beobachtungsflugzeug Taylorcraft Auster V. Die wendige Maschine, sieben Meter lang und zweieinhalb Meter hoch, mit einer Spannweite von fast elf Metern, stand startbereit für den Pilot Officer der Royal Air Force auf dem Militärflugplatz Mildenhall in Südwestengland. Den jungen Mann begeisterte der technische Fortschritt, die Zukunft moderner Flugtechnik. Auch deshalb hatte er seine Militärlaufbahn begonnen und war bald in die Einheit der Kampfpiloten aufgerückt. In dieser Nacht würde er allein — ohne Kontakt zum Kontrollturm der heimischen Militärbasis — mit etwa zweihundert Stundenkilometern den Ärmelkanal in Richtung Schleswig-Holstein überfliegen, um den Zustand der deutschen Verteidigungslinien zu erkunden. Es galt herauszufinden, ob die Deutschen ihren in letzter Minute geplanten Bau des sogenannten Friesenwalls inzwischen womöglich wieder aufgegeben hatten. Dann nämlich würde es den Briten ein Leichtes sein, den deutschen Fliegerhorst im Osten Schleswig-Holsteins einzunehmen. Das Flugwetter schien das riskante Aufklärungsmanöver zu erlauben. Gunter hoffte, die dichte nächtliche Wolkendecke über der Nordsee würde ihn vor Spähern schützen. Ihm war klar, dass er in der Nähe der schleswig-holsteinischen Küste in die Suchscheinwerfer von Flakstellungen oder Maschinengewehr-Nestern geraten könnte. Hinter Sandsäcken, Baumstümpfen, Tarnnetzen und kleinen Erdwällen verborgen, würden sich meist blutjunge Wehrmachtssoldaten in ihren Schützengräben gegen vorstürmende Bodentruppen und Luftangriffe der Alliierten verteidigen. Er war stolz darauf, dass seine Vorgesetzten ihn für diesen geheimen Auftrag ausgesucht hatten. Sie schienen dem fabrikneuen Aufklärungsflugzeug zu vertrauen. Und seiner Nervenstärke. Offensichtlich hielten sie ihn für kaltblütig genug, den gefährlichen Alleinflug durchzustehen. Du bist schon aus riskanteren Einsätzen wieder lebend zurückgekehrt, schoss es ihm durch den Kopf, als er sich ins enge Cockpit der Maschine zwängte. Es wird auch dieses Mal klappen, dachte er, wohl wissend, dass das Überfliegen der bewachten Küste schwer einzuschätzen war. Sollten sich bei Sonnenaufgang die Wolken zu schnell verziehen und die Deutschen ihn entdecken, würde er selbst bei Rückenwind nicht berechnen können, wie viel Treibstoff er für den Rückflug brauchte. Die Unterseite der Maschine war gepanzert, daher schwerer als andere Flugzeuge dieses Typs. Was ist los mit dir? Warum bist du so unruhig? Behalte einen klaren Kopf!, schalt er sich, atmete tief durch und legte seinen Sicherheitsgurt an. Bleiern graue Wolken umhüllten ihn gleich nach dem Start. Gespannt beobachtete John Philip Gunter alle Blindfluganzeigen, die vor ihm in der Instrumententafel aufleuchteten: Kompass, Höhen- und Geschwindigkeitsmesser funktionierten einwandfrei. Er entspannte sich und spürte, wie ihn während des Abhebens Leichtigkeit überkam. Gefühle von Freiheit und Stärke, wie er sie nur während des Fliegens erlebte. * Zwölf Stunden später, in ihrem Haus auf der kleinen nordfriesischen Hallig Südfall, lehnte sich Diana Henriette Adelaide Charlotte Gräfin von Reventlow-Criminil am Mittagstisch in ihrem Stuhl zurück. Sie faltete sorgsam ihre Damastserviette zusammen und steckte sie in den silbernen Serviettenring. Gedankenverloren strich sie mit Mittel- und Zeigefinger über ein winziges Eichhörnchen in der Mitte des eingravierten, uralten Familienwappens. Dieses kurze, ihr kaum bewusste Ritual nach jeder Mahlzeit hatte sie aus jener Zeit herübergerettet, die ihr Leben ausmachte. Eine Zeit, aus der ihr außer Erinnerungen kaum etwas geblieben war. In dieses Leben gehörte auch der weiche Baumwollstoff des graublauen Kleides, das sie heute trug. Damals sollten daraus die Schürzen der Köchin und der beiden Hausmädchen genäht werden, die auf dem elterlichen schleswig-holsteinischen Gut Emkendorf nahe Rendsburg die Hausarbeit unter sich aufteilten. Inzwischen lebte sie seit über dreißig Jahren an der nordfriesischen Küste. Die Sommermonate verbrachte sie auf der kleinen Hallig Südfall südwestlich der Insel Nordstrand gelegen, die stürmischen Wintermonate auf ihrem 1910 gleichzeitig erworbenen Püttenhof in der Trendermarsch am Außendeich von Nordstrand. Im Frühjahr, als die ersten wärmeren Tage die Vorfreude auf den Sommer weckten, hatte sie den leichten Baumwollstoff zur Schneiderin in Husum gebracht. Ob sie ihr daraus wohl zwei Kleider für den Alltag nähen könnte? Ohne Firlefanz, Rüschen oder sonstiges modisches Zeug. Praktisch sollte ihr Gewand und für die Arbeit in Stall und Halliggarten geeignet sein. Nur dieses Mal nicht aus dunklem, winterlich warmem Samt wie der Umhang und das Kleid, die sie im Herbst, noch vor dem Großen Krieg, für sie genäht hatte. Der Rocksaum sollte zwei Handbreit über dem Knöchel enden. Und in tiefe, seitlich eingesetzte Taschen müssten Schnüre, Scheren, auch Schlüssel und handliches Werkzeug passen. Nicht nur weil sie nach dem Tod ihres Vaters die meiste Zeit auf einer einsamen Hallig verbrachte, verzichtete Diana von Reventlow-Criminil darauf, sich zu kleiden wie damals, als ihr älterer Bruder Adolf Cécil weithin bekannte, glanzvolle Abendgesellschaften auf Schloss Emkendorf gab, auf denen sich der europäische Hochadel zusammenfand. Ihr lag nichts daran, sich durch elegante, teure Kleidung von anderen Gesellschaftsschichten abzuheben. Sie hatte sich längst einer anderen, schlichten Lebensweise zugewandt und ihr vorheriges Leben aufgegeben. Dass ihresgleichen sie deshalb für einen exzentrischen, vom Leben enttäuschten Blaustrumpf hielten, störte sie nicht. Im Gegenteil. Zurückgezogen von allen ihr widerstrebenden Einflüssen und Machenschaften, fern von Rücksichtslosigkeit und Demütigung, die Menschen einander zufügen konnten, kam sie in Ruhe ihren täglichen Pflichten nach. Dass sie bereits die achtzig überschritten hatte, sah ihr niemand an. Ihr ebenmäßiges, stets leicht gebräuntes Gesicht, ihr kluger, melancholischer Blick aus tief liegenden dunklen Augen, ihr volles kaum ergrautes Haar zeugten von ungewöhnlicher Schönheit junger Jahre. Es ist zu heiß. Ich werde meinen Mittagsschlaf abkürzen, dachte sie. Ihr Jagdhund, der im kühlen Hausflur liegend ihre Stube bewachte, sprang knurrend auf und rannte hinaus auf die Veranda. Sie folgte ihm und legte, geblendet vom grellen Licht, schützend die Hand über die Augen. Hunter ist so unruhig. Er ist bestimmt durstig. Es ist wirklich ungewöhnlich heiß, sagte sie sich und beobachtete den kohlschwarzen Gordon Setter, der seine Ohren bewegte, als witterte er Gefahr. Beruhigend strich sie ihm über den Kopf und die weiche Schnauze. Der Hund sprang auf, rannte kläffend die Außentreppe hinab und mit langen Sprüngen über die Warft bis an die Halligkante. Dort blieb er stehen und sah angespannt übers hitzeflimmernde Watt. Was war denn los? Was war bloß in diesen Hund gefahren? Mit dem Fernglas suchte sie die blendend helle Weite ab: die nur wenige Zentimeter mit Wasser bedeckte Meeresfläche, in der sich der Himmel spiegelte, als wären sie eins. Nordstrand im Osten erschien nur noch als auf und ab tanzende zerfließende Linie. Selbst die Halbinsel Eiderstedt, südwestlich gelegen, deren Kirchtürme sonst bei klarem Wetter gut zu sehen waren, konnte sie durch ihr Fernglas kaum noch erkennen. Bis zum silbern flirrenden Horizont hinüber gab es nichts, das Hunter hätte beunruhigen können. Beim Blick ins gleißende Blau des Himmels spürte Diana, wie müde sie war. Ich muss mich ausruhen, dachte sie. Bald haben wir Hohlebbe. Bald ist Stille zwischen den Gezeiten. Kein Laut, kein Möwenruf. Trotzdem folgte sie ihrem Hund, der nach wie vor laut kläffend am Halligufer hin und her rannte. »Was hörst du denn nur? Da ist doch gar nichts«, versuchte sie, das aufgeregte Tier zu besänftigen. Hunter antwortete mit dunklem Knurren. Auf Hunters Witterung konnte sie sich verlassen. Er war ein guter Spürhund und hatte ein feines Gehör. Ich werde Maschmann fragen, überlegte sie. Vielleicht ist ihm da draußen im Watt etwas aufgefallen. Sie wandte sich um und griff nach ihrem Hund, als sie plötzlich leise verwehende Töne zu hören meinte....