Neidhardt | Endlosschleifentage | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 312 Seiten

Neidhardt Endlosschleifentage

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7099-8452-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 312 Seiten

ISBN: 978-3-7099-8452-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Von Trauer und Freundschaft, Verlust und Tabus, von Neuanfängen und Abschied David und Katha kennen sich schon immer, sind gemeinsam erwachsen geworden und haben jung geheiratet. Doch dann kommt Katha bei einem Autounfall ums Leben, und Davids Welt steht still. Sie war jedes seiner ersten Male, sie ist jede Erinnerung. Kinga, Kathas beste Freundin, die den Unfall mit- und überlebt hat, versucht zu helfen, sich zu kümmern - während sie eigentlich mit ihrem eigenen Trauma klarkommen muss. David kämpft sich Tag für Tag auf den Friedhof - zu Katha - und fragt sich, wie Trauern geht. Am Friedhof lernt er Marie kennen. Was bedeutet loslassen? Marie ist die Tochter des Totengräbers, die ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten muss und von Konventionen nichts hält. Der Friedhof ist ihr Leben, und sie weiß, dass niemand hier zu viel Zeit verbringen sollte. Kinga hingegen denkt, dass David erst einmal trauern muss. Aber David kann weder das eine noch das andere. Jeder Schritt in eine Richtung ist ein Schritt weg von Katha. Der Halt von Marie fühlt sich wie Verrat an. Die Enttäuschung von Kinga lähmt ihn. Nur die Musik, die er macht, klingt richtig. Die zutiefst menschlichen Momente  Wie fühlt es sich an, die eigene Frau, die beste Freundin viel zu früh zu verlieren? Wie trauert man richtig? Wie findet man zurück in einen Alltag, ins Leben? David findet Antworten: in den Menschen, die ihm Halt geben, in den Augenblicken, die ihn hoffen lassen, und in den neuen - ganz eigenen - Wegen, die sich hinter der Trauer auftun. Fabian Neidhardt schreibt wie im Film, erzählt mitreißend und intensiv von den dunkelsten und den wunderbarsten Gefühlen - da sind Schmerz und Angst, aber vor allem: Wärme und Hoffnung. Ein Roman, der zum Weinen und zum Lächeln bringt.

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. 1986 wurde er als erstes Kind von vieren in eine polnisch-italienische Familie geboren, ist auf einem Friedhof groß geworden, studierte u. a. Literarisches Schreiben in Hildesheim und lebt in Stuttgart und Hamburg. Nach 'Immer noch wach' (2021) und 'Nur ein paar Nächte' (2023) erscheint im März 2025 mit 'Endlosschleifentage' der dritte Roman von Fabian Neidhardt bei Haymon.
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2


Marie sitzt neben der offenen Tür der Aussegnungshalle auf dem Boden, den Kopf gegen die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, und hört Franz zu. Früher saßen sie gemeinsam hier und haben ihrem Vater zugehört. Die Leute waren zwar nie wegen ihm da, aber er spielte, als wären sie es, und Marie hat es geliebt. Damals hat Eckstein noch ab und zu mit ihnen geredet, irgendwas von Respekt gesagt und ob sie nicht woanders sitzen könnten, vielleicht irgendwo, wo man sie nicht sieht. Seit Jahren aber sagt er nichts mehr, und manchmal wirft er ihr einen verschwörerischen Blick zu, wenn er vorbeikommt. Fühlt sich wie ein gemeinsames Geheimnis an.

Der Boden neben ihr knarzt, und die Jungs rollen den Sarg auf dem kleinen Wagen raus. Marco, Wojciech, Peter und Mohammed sind alle über siebzig und in Rente. Sie rollen den Wagen, seit Marie ein Kind war, und sie strahlen dabei immer noch die Würde aus, mit der der Wagen geschoben werden sollte. Selbst wenn das Rad hinten links bei jeder Umdrehung quietscht. Für einen Moment passt das Quietschen zum Rhythmus der Musik, dann nicht mehr, und Marie muss grinsen. Weil sich nie jemand traut, etwas zu sagen.

Hinter dem Wagen schreiten Pfarrer Eckstein und der Kerl, der seine Frau verloren hat. Wahrscheinlich ist er zum letzten Mal bei seiner Hochzeit so andächtig gelaufen. Autounfall, hat Eckstein gesagt, und sie hätte es sich denken können, aber sie ist trotzdem überrascht, wie jung er ist. Kaum älter als sie. Sein dunkler Blick starr auf das quietschende Rad gerichtet, die braunen Haare ein wenig zu lang, das Gesicht schockgefroren. Noch hat er die Wahrheit nicht an sich rangelassen, noch könnte das alles nur ein Traum sein. Sie kennt das Gefühl. Der Arme. Aber bevor er hinter der Frau mit den Krücken verschwindet, die mit einer älteren Dame knapp hinter ihm geht, sieht Marie noch etwas anderes. Da liegt was unter all der Dunkelheit, in seiner Haltung, in dem Blick, in der Art, wie er nach dem Kragen tastet. Irgendetwas an ihm lässt sie nicht los. Sie richtet sich auf und sieht ihm nach, bis die ganze Gruppe die Halle verlassen hat.

Als Letztes tritt Anjuli in die Sonne, wie immer im dunklen Hosenanzug, wie immer mit ernstem Gesicht, wie immer die Hände gefaltet. Sie sind gleich alt, aber Anjuli strahlt die gleiche Würde aus wie die Jungs. Sie lächelt leicht, als sie Marie sieht. Marie steht auf und hält ihr die Faust hin. Sie wirft einen Blick über Maries Schulter, dann schlägt sie ihre Faust dagegen und grinst breit.

„Alles gut? Eckstein hat gesagt, Autounfall.“

„Sie hat die Kontrolle verloren. Vereiste Straße.“

„Scheiße. War deshalb der Deckel drauf?“

„Nee, Anna hat sie eigentlich ziemlich gut hinbekommen. Aber der Witwer wollte sie auf keinen Fall sehen.“

„Keine Verabschiedung?“

„Doch, aber nur die Mutter und die beste Freundin. Sie saß mit im Auto.“

„Die mit den Krücken?“

„Jep. Sie hat auch alles organisiert. Ihm muss es richtig schlimm gehen. Seh ihn heute auch zum ersten Mal.“ Anjuli nickt in Richtung der Leute, setzt sich in Bewegung. „Ich geh mal zu den Jungs. Wir sehen uns bald, ja?“

Marie streckt die Hände aus, zeigt auf den Friedhof.

„Du weißt ja, ich bin hier.“

Beide lachen, weil, wo sollte sie sonst sein? Marie hebt die Gräber aus und lebt im Haus auf dem Friedhof, natürlich ist sie hier. Aber jedes Mal, wenn sie diesen Witz macht, hat sie ein schales Gefühl in der Brust. Wie eine Wahrheit, die festgetreten wird und sich immer schwerer ändern lässt.

Franz spielt wuchtig und setzt seinen ganzen Körper ein, besonders am Ende muss die ganze Halle vibrieren. Als er den Finger von der letzten Taste löst und nur noch das elektrische Summen der E-Orgel zu hören ist, klatscht Marie und wohoot, imitiert eine jubelnde Menge.

„Sehr schön. Pippi Langstrumpf?“

Franz setzt sich aufrecht hin, zieht das Hemd glatt und rückt die Fliege gerade.

„Ecki sagte, sie war Erzieherin. Ist nicht originell, aber ich fand’s passend.“

„Ist es.“ Sie lehnt sich an die Lehne der ersten Bankreihe, verschränkt die Arme und sieht nach draußen, desinteressiert. „Sag mal, der Witwer.“

Franz klatscht in die Hände und zeigt auf Marie.

„Ich wusste es! Ich hab ihn da sitzen sehen und wusste, der wird dich interessieren.“

Marie schüttelt abschätzig den Kopf, hofft, dass sie nicht rot wird, und spürt diesen leichten Ärger. Wie kann es sein, dass ihr Bruder sie so gut kennt?

„Der ist doch gar nicht mein Typ.“

Franz tappt suchend neben der Orgel gegen den Boden, bis er den Schalter erwischt, und das Summen verstummt.

„Ne, aber du hast ein großes dunkles Herz für eingerissene Seelen, die am Abgrund stehen.“

Marie spürt den Stich, wie jedes Mal, wenn er recht hat, und zuckt mit den Schultern.

„Arsch.“

Er kichert und schiebt sich zwischen Schemel und Orgel hervor. Sein Kichern ist so hell und klar, Marie stellt sich ein kleines Mädchen vor, das irgendwo in ihrem Bruder lebt und dessen Stimme sie lachen hört.

Manchmal kann Marie nicht glauben, dass sie aus den gleichen Genen entstanden sind. Sie würde dreimal in ihren großen Bruder passen. Vielleicht ist sie deshalb immer einsam und rastlos und auf der Suche nach mehr. Und er sich selbst genug.

„Ich fand ihn tatsächlich süß. Aber er steht ja offensichtlich auf Frauen.“

„Vielleicht auch auf beides. Und normalerweise hält dich das doch auch nicht ab.“

Franz legt seinen Arm um ihre Schulter und zieht sie an sich, während sie zum Ausgang laufen.

„Schwesterherz, ich finde, wir haben in unserem Leben schon viel zu oft um Dinge gekämpft. Und ich kann es nicht sehen, wenn du enttäuscht bist, weil du verlierst.“

Sie schlägt mit der Faust gegen seine Schulter, und obwohl er flink ist, schafft er es nicht, ihr auszuweichen. Er schreit kurz auf, aber er schmunzelt, während er sich die Stelle reibt, und auch sie muss lächeln. Für einen Moment müssen sich ihre Augen an die Helligkeit außerhalb der Halle gewöhnen, dann schaut sie in die Richtung, in der sie gestern das Grab ausgehoben hat. Eckstein redet noch, der Witwer steht alleine in der prallen Sonne. Franz lehnt seine Schulter gegen ihren Rücken und schiebt sie sanft nach vorne.

„Na los. Geh schon.“

Marie tippt sich mit dem Zeigefinger gegen den Kopf, ohne Franz anzusehen.

„Das kann ich auch später machen. Oder wenn er wieder mal da ist. Der beerdigt gerade seine Frau.“

„Na ja, bis dass der Tod sie scheidet, oder?“

Sie kichern beide, bis Marie den Kopf schüttelt.

„Du spinnst.“

„Schau uns an. Wir beide.“

Marie wirft einen Blick zum Haus in der Mitte des Friedhofs und in den dunklen Teil dahinter, der unter den jahrzehntealten Birken und Eichen im Schatten liegt.

„Glaubst du, sie wäre enttäuscht von uns?“

Franz macht ein verächtliches Geräusch und sieht sie mit diesem ungläubigen Blick an, der fragt, wie sie überhaupt auf die Idee kommen kann. Trotzdem weiß Marie, dass er sie ernst nimmt. Wie er sie schon immer ernst genommen hat.

\

Nach dem Abi und kurz vor ihrem Studium ist sie für ein halbes Jahr nach Amerika gegangen. Ist dort per Work and Travel durch das Land gereist, hat Nick und Norah kennengelernt und wusste, dass das nicht das letzte Mal war, dass sie mit ihrer Gitarre unterwegs sein würde. Als sie ging, umarmte Franz sie nur kurz und schob sie aus der Tür, fast, als hätte er Besseres zu tun. In der Tür blieb sie stehen und wartete, bis er sie ansah.

„Ich hab ehrlich gesagt ein bisschen Angst.“

Und dann schaute er sie mit genau diesem ungläubigen Blick an, der ihr erstmal ziemlich wehtat, weil sie sich nicht gesehen fühlte. Nicht ernst genommen. Er schüttelte den Kopf, sagte stumm: ‚Du brauchst keine Angst haben, und jetzt geh schon.‘ Und schloss die Tür hinter ihr. Auf halbem Weg über den Friedhof fiel ihr ein, dass sie die Regenjacke an der Garderobe vergessen hatte. Aber kurz bevor sie die Tür erreichte, sah sie durch das Fenster neben der Tür Franz, er saß auf dem kleinen Absatz direkt hinter der Tür, hatte den Kopf in die Hände gelegt, und Tränen liefen über seine Wangen. Sie beobachtete ihn so lange, dass sie fast ihre Bahn zum Flughafen verpasste, und kaufte sich dann in Amerika eine neue Jacke. Sie schrieben sich fast jeden Tag, schickten sich Bilder und Memes, und welche schönere Art gab es, sich Sorgen um sie zu machen, als ihr nicht zu sagen, dass er sich Sorgen machte?

\

Sie sagt es ihm nie, aber sie liebt ihren Bruder. Und sei es nur dafür, dass er so viel von ihr weiß und trotzdem noch mit ihr redet. Franz schüttelt den Kopf.

„Sie war immer stolz auf uns. Von Anfang an und bis zum Ende. Sie war selbst am Ende Paps nicht böse. Ich glaube, ihre Liebe für uns war so groß, wir hätten sie nie enttäuschen können. Und wenn sie jetzt hier wäre, würde sie dir auch in den Arsch treten, damit du endlich da...


Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. 1986 wurde er als erstes Kind von vieren in eine polnisch-italienische Familie geboren, ist auf einem Friedhof groß geworden, studierte u. a. Literarisches Schreiben in Hildesheim und lebt in Stuttgart und Hamburg. Nach "Immer noch wach" (2021) und "Nur ein paar Nächte" (2023) erscheint im März 2025 mit "Endlosschleifentage" der dritte Roman von Fabian Neidhardt bei Haymon.



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