E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Negel Das Virus und der liebe Gott
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-83691-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unzeitgemäße Betrachtungen
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-451-83691-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joachim Negel, geb. 1962, Dr. theol., Studium der Philosophie und Theologie in Würzburg, Paderborn, Paris, Bonn und Münster, lange Jahre Dekan des Theologischen Studienjahres Jerusalem an der Abtei Dormitio B.M.V., Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg i.Ue.
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Intermezzo und Übergang
Literarische Verarbeitungen von Seuchen- und Epidemieerfahrungen
Es dürfte kaum ein Zufall sein, daß in den Wochen nach Ausbruch der Pandemie in den Buchhandlungen zehntausendfach Die Pest von Albert Camus nachgefragt wurde und tausendfach Il Decamerone von Boccaccio, ferner Novellen und Romane wie Nemesis von Philip Roth22, Bereitschaftsdienst von Hans Erich Nossack23, Die Liebe in den Zeiten der Cholera von García Márquez24, später dann auch Eine Seuche in der Stadt von Ljudmila Ulitzkaja25, kaum aber Alessandro Manzonis weitausladende Erzählung Die Brautleute (I Promessi Sposi), einer der ganz großen europäischen Pestromane.
Manzonis Roman, ein veritables Epos, 1827 erstmals erschienen, zwischen 1840 bis 1842 gründlich überarbeitet und bis heute immer wieder neu übersetzt26 und verfilmt, erzählt von einer Welt, die es nicht mehr gibt, einer Welt, in der aufgeklärtes Weltwissen, romantisches Freiheitspathos und seelenvoller Gottesglaube relativ problemlos ineins gehen konnten. Protagonisten des Romans sind Lucia und Renzo, ein junges Paar aus einem Dorf bei Lecco südlich des Comer Sees, das kurz vor der Hochzeit steht, jedoch aufgrund der gewalttätigen Zeitläufte immer wieder getrennt wird, nicht zuletzt, weil der lokale Feudalherr Don Rodrigo, ein veritabler Despot, selbst an Lucia Gefallen findet. Auch wenn ganz am Ende des Romans die Fäden sich entwirren und die Liebenden glücklich zueinander finden, hat man es hier gerade nicht mit einem „happy end“ im banalen Sinne zu tun. Was dem Leser auf knapp tausend Seiten geboten wird, ist vielmehr ein Panoptikum widersprüchlichster Figuren, deren Leben immer wieder überschattet ist von Angst und Not und heimgesucht wird von Katastrophen – nicht zuletzt der großen Mailänder Pestepidemie von 1629, geschildert in sieben langen Kapiteln.27 Und doch erscheint dieses höchst zerbrechliche Leben an keiner Stelle als ein auswegloses Gefängnis. Im Gegenteil: „Alles Leiden, verschuldet oder nicht, wird sinnvoll dadurch, daß es begriffen wird als Stimulans, sich dem allgemeinen Sog zur Bestialisierung zu widersetzen.“ Der Willkür der Mächtigen und Reichen und der Dummheit der auf ihren Vorteil bedachten Armen „stellt Manzoni eine auf die spirituelle Potenz des Menschen gegründete Rangordnung gegenüber; in ihr bestimmt sich die Stellung des einzelnen nach dem Maß an innerer Freiheit, das er, im Vertrauen auf die verborgene Präsenz Gottes in der Welt, sich selbst und seiner Umwelt gegenüber aufbringt.“28 Und so sieht man in diesem Roman eine nirgends versagende Barmherzigkeit am Werk; menschliche Verkehrtheit und Misere bleiben von ihr milde umhüllt, so dramatisch und fürchterlich sich die Verwicklungen im einzelnen auch ausnehmen mögen. Als deren Quintessenz kommen Lucia und Renzo zuletzt überein, „daß Unglück und Nöte zwar häufig kommen, weil man ihnen Grund zum Kommen gegeben hat, aber daß auch die vorsichtigste und unschuldigste Lebensführung nicht genügt, um sie sich fernzuhalten, und daß, wenn sie kommen, ob durch eigene Schuld oder nicht, sie durch das Vertrauen in Gott gemildert und für ein besseres Leben nützlich gemacht werden können.“ Und so endet Manzoni seinen Roman mit den Worten: „Dieser Schluß, obwohl er von einfachen Leuten gezogen worden ist, scheint uns so richtig, daß wir ihn hier ans Ende setzen wollen, gleichsam als Kern der ganzen Geschichte.“29
Manzonis Jahrhundertroman ist nicht nur ein Lobpreis der Liebesfähigkeit des Menschen in Zeiten von Seuche und Krieg, sondern auch ein Erlösungsroman. Rahmender Horizont der in ihm erzählten comédie humaine ist ein christlicher Glaube, der in einer „Mut und Widerstandskraft erfordernden lebenspraktischen Haltung“ gründet, einer durch und durch „unasketischen, heiterweltoffenen Katholizität“30, die es in dieser Form vielleicht nie gegeben hat, die aber als erzählte Welt zahllosen Lesern die Hoffnung auf ein Leben unter der Providenz Gottes ermöglichte.
Freilich – Manzonis Werk scheint heutige Leser kaum mehr zu erreichen (auch päpstliche Empfehlungen helfen da nicht weiter31). Wie sonst wäre zu erklären, daß in den Monaten der Corona-Pandemie nicht dieses Werk, sondern die genannten anderen auf den Toplisten der Buchhandlungen standen? Keine Frage, alle sind sie im Vergleich zu Manzoni von ähnlicher literarischer Qualität. Während jedoch in den Promessi Sposi ein auktorialer Erzähler Vernunft und Glaube, individuelles Freiheitsstreben und politische Verantwortung unter den Auspizien einer fragilen Gesellschaftsordnung und einer bedrohlichen Natur in ein feines Gleichgewicht zu bringen weiß und darin einen göttlichen Horizont aufscheinen läßt, der alles milde überwölbt, stehen in den anderen Werken Seuche und Epidemie als Symbol für die metaphysische Sinnlosigkeit der Welt.
Da ist als erstes Albert Camus‘ großer Pestroman von 1947 zu nennen. Dieses Hohelied der Freundschaft und des solidarischen Kampfes gegen das nie zu besiegende Unheil von Natur und Geschichte ist so bekannt, daß wir uns eine Nacherzählung im Detail schenken können. Der christliche Glaube zeigt sich hier (anders als bei Manzoni) in einer wenig sympathischen Form. Vertreten wird er durch Pater Paneloux, einem Jesuiten, dessen Predigten von einer augustinisch imprägnierten Straftheologie durchdrungen sind. Diese wird in ihrer Rigidität später zwar aufgegeben; aber der Versuch des Paters, das Leiden der Unschuldigen in einem theologischen Gesamtsystem unterzubringen, stößt auf entschiedene Ablehnung durch Dr. Rieux, die Hauptfigur des Romans. Nachdem Rieux und Pater Paneloux dem langen, qualvollen Sterben eines Kindes hilflos hatten zusehen müssen, kommt es zu einem Zwiegespräch zwischen ihnen:
„‚Es gibt Zeiten in dieser Stadt [sagte Rieux], da ich nur mehr meine Empörung spüre.‘ ‚Ich verstehe‘, murmelte Paneloux. ‚Es ist empörend, weil es unser Maß übersteigt. Aber vielleicht sollen wir lieben, was wir nicht begreifen können.‘ Rieux richtete sich mit einem Schlag auf. Mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, deren er fähig war, schaute er Paneloux an und schüttelte den Kopf. ‚Nein, Pater‘, sagte er. ‚Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, eine Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.‘“32
Eine der religionskritischen Pointen des Romans besteht darin, daß Pater Paneloux, der sich angesichts der Haltlosigkeit seiner Theologie den Sanitätstruppen angeschlossen hat, zuletzt selber an der Pest erkrankt – und so seinerseits von der „Strafe Gottes“ getroffen wird. Rieux kann mit solchen Deutungsmustern nichts anfangen. Sein einziges Ziel ist die Gesundheit der ihm anvertrauten Menschen, „zuallererst ihre Gesundheit“. „Das Heil der Menschen“, von welchem der Pater spricht, ist „ein zu großes Wort“ für ihn. Wo hingegen Arzt und Priester im Kampf gegen Schmerz und Tod zusammenarbeiten, kann selbst der Gott, an den Paneloux glaubt und an den Rieux nicht glaubt, sie nicht scheiden.33
Ein ganz anderer Tonfall beherrscht Hans Erich Nossacks Bericht über die Epidemie [1973]. In dieser überaus bedrückenden dystopischen Erzählung (im Hintergrund steht die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs) geht es nicht um eine der bekannten Seuchen, welche die Menschheit immer wieder heimsuchen; vielmehr handelt es sich um eine tödlich verlaufende und an die Wurzel menschlicher Existenz und menschlichen Selbstverständnisses gehende Suizid-Welle. Weltweit und massenhaft legen Menschen, junge und gesunde zumal, Hand an sich, um unvermittelt, ohne jede Vorwarnung und nachvollziehbare Gründe aus dem Leben zu scheiden. Zu einer nur noch statistisch relevanten Größe anonymisiert, wird der Tod der Einzelnen um seine Einzigartigkeit und seine Würde gebracht. Da alle soziologischen, psychologischen und religiösen Deutungsmuster versagen, lehrt der epidemische Suizid-Horror zuguterletzt nur dieses Eine: „daß einen Millimeter neben der Wirklichkeit das Nichts ist.“34 Wenn die Wirklichkeit keine Illusionen mehr bereithält, so die existential-ontologische Botschaft des Romans, kann nur die „Routine des Daseins“ über die Leere hinwegtäuschen, „das ist die einzige Chance.“35 Nicht nachdenken, weitermachen! Mit dieser ernüchternden Nicht-Perspektive bricht der Bericht ab.
Wiederum Philip Roths Roman Nemesis [2010] handelt von einer im Sommer 1944 in der amerikanischen Stadt Newark ausbrechenden Polio-Epidemie. Seinen Protagonisten, den 23jährigen Eugene Cantor, wegen seiner athletischen Statur von allen nur „Bucky“ genannt, zeichnet er als moderne Hiob-Gestalt. Bucky ist...