E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Neft Vom Licht
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-944035-78-9
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-944035-78-9
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aussteigerroman, radikale Reflexion und verstörende Familiengeschichte: "Vom Licht" ist eine literarische Herausforderung, die lange nachwirkt. In seinem neuen Roman gewährt Anselm Neft einen tiefen Einblick in fundamentalistisches Denken und den radikalen Kern des Christentums. Brisanter Stoff und exzellente Prosa.
Adam ist 21 und ganz allein. In der Dachkammer eines entlegenen und verwilderten Selbstversorgerhofes im österreichischen Voralpenland schreibt er über sein bisheriges Leben: das abgeschottete Landleben ohne Schulbesuch, die religiöse Heimerziehung durch seine Zieheltern und seine innig geliebte, drei Jahre ältere Stiefschwester Manda.
Durch seine Notizen versucht Adam zu verstehen, was mit seiner Familie geschehen ist, wie er der wurde, der er ist, und was er tun kann, um trotzdem weiterzuleben.
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DAS HAUS
Seit Tagen versuche ich, die Traurigkeit zu ergründen, die mich beim Anblick des Esstisches überkommt, und glaube, eine Ursache in der Unverrückbarkeit des Tisches gefunden zu haben. Er ist zwar theoretisch verrückbar, steht praktisch aber, seit ich denken kann, an derselben Stelle und erfüllt eine einzige Funktion. An diesem Tisch haben wir mittags und abends gegessen. Gefrühstückt und gearbeitet und beisammengesessen wurde am Küchentisch in der Küche, einem Tisch unter dem Manda und ich als Kinder manchmal gehockt haben, wohingegen der Esstisch im Esszimmer nie dazu eingeladen hätte, Teil eines Spiels zu werden. So selbstverständlich mir die Unverrückbarkeit des Tisches in vielen Jahren erschienen ist, so sehr vermute ich nun darin einen Grund für meine Traurigkeit. Zuerst war das traurige Gefühl da, dann fand ich den Gedanken, der dem Gefühl zugrunde lag, die Absicht des Gefühls. Ich kann gar nicht sagen, was ich gerne an diesem Tisch noch getan oder beobachtet hätte, ich kann nicht einmal sagen, dass ich gerne etwas anderes getan oder beobachtet hätte, ich kann nur sagen und sage es mir seit Tagen immer wieder, dass es mich traurig macht, dass der Tisch immer an der gleichen Stelle gestanden und immer nur die eine Funktion erfüllt hat. Durch unser Verhalten ist er mehr und mehr zum Esstisch und im Laufe der Zeit schwerer und dichter geworden, sodass es immer undenkbarer wurde, ihn zu verrücken oder, auch dieses Wort schon eine Festlegung: zu zweckentfremden. Etwas von der Erstarrung des Tisches ist in mich übergegangen und geht weiter in mich über, wenn ich ihn betrachte oder mir vorstelle. Eine weitere Ursache der Traurigkeit sehe ich in der Erinnerung an die Mahlzeiten. Wir aßen schweigend. Valentins Kauen verursachte mir Kopfschmerzen und einen Druck in der Brust, in der ich meine Schreie erstickte. Ich stellte mir die eingespeichelte, zerkaute Masse vor, die er im Mund bewegte und dann durch eine Röhre hinab in die Eingeweide sog. Ich dachte an die wimmelnden Bakterien, die im Mund und in der Röhre und im Magen und im Darm leben und den Brei für ihre Zwecke nutzen und umwandeln. Ich bemühte mich, möglichst lange selbst zu essen, um mich nicht auf Valentins Kauen und Schlucken konzentrieren zu müssen, aber oft machte das Essen keine Freude, auch weil mir die eigene Speiseröhre widerlich wurde, ich schaffte nicht viel, und ich durfte nicht stochern. Wir sollten keine Meinung zum Essen haben, wir sollten nicht gierig oder angewidert sein. Wir aßen, weil wir es mussten, aber ich wusste früh, dass Valentin oft gerne aß und Norea das Essen in der Regel verabscheute, auch wenn sich keiner von beiden etwas anmerken lassen wollte. Wir saßen immer auf den gleichen, uns jeweils zugewiesenen Stühlen. Wir blieben jedes Mal sitzen, bis alle ihre Mahlzeit beendet hatten. Damals hätte ich es nicht ausdrücken können, sondern erlebte es wie einen Traum, der in der Erinnerung etwas anderes ist als im Augenblick des Träumens: Keiner von uns wollte auf diese Weise an diesem Tisch sitzen, und doch taten wir es jahrelang jeden Tag. Denke ich heute daran, betrachte ich heute den Tisch, werde ich so müde, dass ich mit geschlossenen Augen auf dem Sofa im Wohnzimmer oder auf meinem Bett oder einem Stuhl in der Dachkammer sitze und warte, dass die Müdigkeit aufhört, aber ich weiß, dass es immer nur kurze Unterbrechungen sind und dass ich immer schon müde gewesen bin: im Haus vor allem im Kopf, mit Druck von innen gegen die Augen, im Freien vor allem als Schwere des ganzen Körpers, vor allem der Beine, die träge werden und nicht weit laufen wollen, obwohl ich glaube, dass ich weit laufen will. Mich beschäftigt der Gedanke, dass der Tisch, bevor er ein Ding wurde, ein Gedanke gewesen ist. Jemand muss ihn sich ausgedacht haben, natürlich ausgehend von anderen Tischen, aber auch diese anderen Tische sind ursprünglich ausgedachte Tische, die vielleicht auch anders hätten ausgedacht werden können, es sei denn, unsere Gedanken sind selbst wieder Dinge, die nur die Positionen und Funktionen einnehmen können, die jemand, der darüber herrscht, festgelegt hat. Der Tisch im Wohnzimmer unseres Hauses ist aus dunklem Holz. Die Tischplatte ragt an den Rändern ein wenig über die vier eckigen Beine und ist einige Zentimeter dick und an den Ecken mit eisernen Beschlägen verziert. Die Stühle haben hohe, eckige Lehnen und sind auch aus einem dunklen, schweren Holz, dessen Namen ich nicht kenne. Ich habe die Idee, die fauligen Vogelscheuchen zu holen und auf die Stühle zu setzen. Drei Vogelscheuchen auf drei Stühlen und ich auf dem vierten, aber das wäre Unsinn. Weil ich viel Zeit habe, fällt mir viel Unsinn ein. Diese Notizen sind womöglich auch Unsinn. Im Philippusevangelium steht zu lesen: »Die Namen dieser Welt gehören dem Irrtum an, sie sind von den Archonten zur Irreleitung der Menschen eingeführt worden.« Wenn ich nun also schreibe, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder zeitliche Ordnung, lediglich dadurch festgelegt, dass ich zur Disziplinierung meiner ansonsten zu wild wuchernden Gedanken die wichtigsten mir bekannten Orte und Räume zum Ausgangspunkt nehme, dann kann ich nicht anders, als die Wörter dieser Welt zu benutzen, die ihrerseits nicht anders können, als irreführend zu sein. Den Wörtern geht es wie dem Tisch: Sie wurden ausgedacht, und das Prinzip, nach dem sie ausgedacht wurden, ist dem Ausdenkenden verborgen. Er hat die Wörter ausgedacht, nicht aber das Prinzip. Die Freiheit könnte da beginnen, wo die Wörter nicht hinreichen, wo das ihnen zugrunde liegende Prinzip entlarvt und ungültig gemacht wird, und es berauscht und bestürzt mich, dass dieser Gedanke doch in Wörtern formuliert werden kann. Ich habe den Schreibtisch aus Valentins Zimmer hier hoch in die Dachkammer geschafft. Dazu musste ich die Beine zunächst abschrauben und dann wieder an der Platte befestigen. Die Dachkammer ist mir besonders lieb. Hier unter der spitzgiebeligen Zimmerdecke haben Manda und ich häufig gesessen und uns Geschichten erzählt oder über die Äcker zu den Wipfeln der Bäume oder darüber hinaus auf den Traunstein geschaut. Die Dachkammer schien uns der dem restlichen Haus am weitesten entrückte Ort. Sie erschien uns auch als der stillste Ort. Jetzt hingegen höre ich ein an- und abschwellendes Rauschen, als würde im ersten Stock oder im Erdgeschoss jemand staubsaugen. Gehe ich allerdings in den ersten Stock, ist das Geräusch nur noch so hintergründig wahrzunehmen, dass ich daran zweifle, ob ich tatsächlich ein akustisches Signal empfange oder nur das Geräusch erinnere, das ich in der Dachkammer gehört habe. Im Erdgeschoss wiederum ist das Geräusch in manchen Räumen zu hören, in anderen nicht oder so verwirrend leise wie im ersten Stock. Im grün gekachelten Bad im Erdgeschoss – das meistens nur von Valentin aufgesucht wurde, während Norea, Manda und ich die Dusche im orange gekachelten Bad im ersten Stock benutzten – höre ich es dafür umso lauter, lauter vielleicht sogar als in der Dachkammer. Ich habe erst überlegt, ob es sich um eine Maschine im Keller handelt, dort widerwillig die kalten, dunklen Räume voller Kisten, Werkzeuge, Einmachgläser und Vorräte untersucht und nichts gefunden, auch nicht in der seit Jahren brachliegenden Milchkammer. Dann kam mir der Einfall, jemand außerhalb des Hauses müsse das Geräusch verursachen, vielleicht ein Bauer kilometerweit entfernt oder Menschen, die etwas reparieren und dazu einen Apparat benutzen, dessen Getöse sich durch sonderbare Wege der Luft in unser Haus verirrt und dort akustischen Pfaden folgt, die ich nur notdürftig beschreiben, aber nicht verstehen kann. Trete ich allerdings ins Freie, verstummt das Geräusch. Ich kann das Haus komplett umrunden, an jeder beliebigen Stelle stehen bleiben und lauschen: Ich höre alles Mögliche, aber nicht das Geräusch. Kehre ich zurück ins Haus, dauert es eine Weile, bis ich das Geräusch wieder wahrnehme, so als ob sich meine Ohren erst daran gewöhnen müssten. Anfangs dachte ich, das Geräusch wäre immer da: an manchen Stellen deutlich vernehmbar, an anderen schwach oder überhaupt nicht. Aber vor ein paar Tagen lag ich wieder einmal angezogen in der Wanne, um das Geräusch zu ergründen, und hörte es nicht. Ich hörte das hintergründige Bienenstocksummen des Raumes und das Surren der Lampe über dem Badezimmerspiegel, aber nicht das Geräusch. Ich wartete und lauschte, aber nichts veränderte sich, außer dass das Summen und das Surren lauter und besser unterscheidbar wurden. Es könnte etwas mit dem Strom zu tun haben. Ich weiß, dass unser Haus trotz seiner einsiedlerischen Lage an ein Stromnetz angeschlossen ist. Ich erinnere mich an Valentins Worte, dass er ursprünglich nicht zum Stromnetz gehören wollte, da alle Stromanbieter verbrecherisch seien. Er sagte, er habe von einem Generator geträumt, aufgrund praktischer Erwägungen aber auf die Anschaffung verzichtet. Angeschafft und auf dem Dach...