E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Naumann Glück gehabt
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-455-00027-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autobiographie
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-455-00027-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Ein zielstrebiges Leben habe ich nie geführt«, schreibt Michael Naumann über sich selbst. Was ihn antrieb, war eine unstillbare Neugier auf die Welt. Als Kind erlebte er in seiner Geburtsstadt Köthen den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs, sein Vater fiel bei Stalingrad. Im Alter von elf Jahren floh er 1953 mit seiner Mutter aus der DDR nach Hamburg. Die wilden Sechziger verbrachte er als Student in München. In seinen glänzend geschriebenen, durchaus selbstkritischen Erinnerungen blickt Michael Naumann zurück auf ein bewegtes Leben als Journalist, Hochschullehrer, Verleger und Politiker. Er erzählt von Begegnungen mit Helmut Schmidt, Marion Gräfin Dönhoff und Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, mit Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Otto Schily und Joschka Fischer. Seine Erinnerungen an bedeutende Autoren wie Harold Brodkey, Herta Müller, Paul Auster, Siri Hustvedt, Peter Nádas oder Thomas Pynchon gleichen Glücksmomenten eines Büchernarren. Als Gründungsdirektor der Barenboim-Said Akademie in Berlin stößt er schließlich auf das deutsche Baurecht und die erstaunlichen Auflagen des labyrinthischen Hochschulrechts.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Vorwort
Große Wäsche
Lauter erste Tote
»Eigentlich«
Bomben und ein Tornado
Trostkinder, Waffen und ein Zeichen Gottes
Flucht in den Westen
Rassenkunde im Klassenzimmer?
Exkurs mit Geräten
Mexico in Missouri
Der zweite Vater, eine Tragödie
Eine Liebe in Schweden
Atombomben und Prinzessinnen in Mittelfranken
Platon in Schwabing
Eric Voegelin
Die Hauptstadt der Bewegung, später
Ein Semester mit Ernst Nolte
High in San Francisco
Unbegrenzte Zumutbarkeiten
Hotel Sputnik in Prag, ein Tod in Berlin
Vor den Toren von BILD
Flucht in die Ehe
Ein Jahr mit Karl Kraus
Brotschrift-Jahre
Der Blutrichter von Danzig
»Würdest du Ulrike aufmachen?«
Ein Telegramm aus Hamburg
Journalismus als Idee und Vorstellung
Bürgerkrieg in Nordirland
Das Elend von Bochum
»Ich habe Angst«
Oxfords Seligkeiten
Der Monat
Ted
In Reagans Amerika (und ein paar Tage in Bonn)
Old friends
Zum Spiegel
Rudolf Augstein
Rowohlt – eine nüchterne Liebesgeschichte
Ledig
Die Ballon-Affäre
Die Buchfabrik
Von Dichtern und Freunden
Herta Müller und andere
Rosamunde Pilcher, Stephen Hawking, Salman Rushdie
Zufallsknoten
Putsch in Moskau
Mörder Mielke
Unter Richtern
Nobelpreise
Burn-out
Polypragmosyne in New York
Ein Kandidat mit Revolver
»Goebbels' Nachfolger«
Schröders WG
23,6 Milliarden Euro für die Banken
Windmühlen in Brüssel
Das Holocaust-Mahnmal
Ein Ärger nach dem anderen
»Hier zeige ICH!«
Das Museum Berggruen
Raubkunst, Beutekunst und der fromme Putin
Noch einmal DIE ZEIT
Die Leuna-Affäre
»Man hat mir kein Biskuit gegeben«
Vita activa in Hamburg
Der Zählkandidat
Im Gleitflug aus der ZEIT
»Cicero – jetzt mit Linksruck«
Eine musikalische Utopie
Zuletzt Bauherr
Gerettet!
Nachwort
Personenregister
Über Michael Naumann
Impressum
Große Wäsche
»Der Mensch ist frei … Und würd’ er in Ketten geboren.« Friedrich Schiller »Der Mensch ist frei, und würd’ er in Köthen geboren.« Heinrich Heine Es stimmt, dass ich mich an meine zweifellos schmerzhafte Geburt am 8. Dezember 1941 in der Kleinstadt Köthen selbst nicht erinnere. Andere Menschen haben mir von ihr erzählt. Nachdem mir mein sieben Jahre älterer Bruder Jürgen später berichtete, dass es an jenem Tag mitten im Weltkrieg »große Wäsche« gab, was lästig genug gewesen sei, habe ich mir im Keller unseres Hauses den großen Waschkessel genauer angeschaut. Ich konnte gerade über seinen Rand schauen. Der Bottich stand auf einem Zementsockel und war aus Zinn oder einem anderen hellgrauen Metall. Später, ich muss schon mindestens vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, habe ich den Geruch von Seifenlauge und Kochwäsche als etwas Besonderes empfunden, das mit mir selbst zu tun hatte. Irgendwann, als jener Geruch schon längst aus der Welt des mechanisierten deutschen Haushalts verflogen war, roch ich ihn einmal wieder, ich weiß nicht mehr, wo, aber es ist das Einzige, was ich seitdem mit dem Tag meines Eintritts in die Welt verbinden kann – eine eher unangenehme Vorstellung. Es war eine Hausgeburt, urkundlich bezeugt von einer Hebamme der fast neunhundert Jahre alten anhaltinischen Kleinstadt Köthen. Die Geburtsurkunde ziert ein Adler mit Hakenkreuz zwischen den bösen Krallen. Umgeben von den fruchtbaren Äckern der Magdeburger Börde, wenige Kilometer von der Elbe entfernt, zehrt die kleine Stadt heute noch von dem Ruf, dass Johann Sebastian Bach dort sechs Jahre seines Lebens verbracht hat und einige seiner schönsten Kompositionen notierte, unter anderen die Brandenburgischen Konzerte und die Französischen Suiten. Ein bescheidenes Marmordenkmal steht auf der Wallstraße, wo er angeblich (auch) gewohnt hat. Im Sommer fotografieren sich japanische Touristen, die zu den lokalen Bachfestspielen um die halbe Welt gereist sind, vor der weißen Halbbüste. Bachs erste Frau Maria Barbara war in Köthen gestorben, ihr inzwischen unbekanntes Grab liegt untergepflügt und verloren unter einem Parkrasen, und seine zweite Frau, die »Singjungfer« Anna Magdalena Bach, folgte ihr im Bett und im Leben des großen, dicken Genies nach. Sie war Sopranistin am fürstlichen Hof und zog mit dem Kapellmeister 1723 weiter nach Leipzig. Europäische Landkarten markierten das Herzogtum »Coethen« vor dem Wiener Kongress als eigenständigen Staat. Hier verschrieb der Homöopath Samuel Hahnemann dreizehn Jahre lang bis 1835 als Herzoglicher Leibarzt seinen Patienten die von ihm entwickelte zweifelhafte Medizin. Sein kleines Krankenzimmer lag über einem Kuhstall, durch Öffnungen im Fußboden drang die Tierwärme nach oben. Hier öffnete das erste Kino schon 1908 seine Tore, und hier wählten im Jahr 1930 bereits 25,5 Prozent die NSDAP – sieben Prozent über dem Landesdurchschnitt. An vielen Hauswänden und Balkons ragen heute noch Fahnenhalter aus verrostetem Blech hervor, kleine erigierte Erinnerungsposten an staatlich verordnete Fest- und Feierstimmung. Aus Köthen stammt der SS-Offizier und Urheber von zehntausendfachen Gaswagen-Morden, Walter Rauff, der nach dem Krieg mit Hilfe des Vatikans nach Südamerika entkommen konnte, wo er jahrelang als Agent beim Bundesnachrichtendienst im Sold stand. Unbehelligt starb er unter dem Schutz der mörderischen Regierung Pinochet (angeblich als Konserven-Fabrikant) 1984 in Chile. Sein Name ist der schrecklichste Stolperstein meiner Geburtsstadt. Andere erinnern an seine Opfer. In der Stadt steht immer noch ein schönes kleines Wohnhaus, das dem zarten Heimwehdichter Joseph von Eichendorff gehörte; doch er wohnte hier nur wenige Monate und blieb in seinen Gedichten der Erinnerung an seine wohlbehütete Kindheit im Schlesischen treu. Ein Dachfenster in Form einer großen Augenbraue blickt auf die Straße, und kaum jemand, der vorübergeht, wird ahnen, wer dort einmal lebte. An Fenstern ist in seinen Gedichten kein Mangel. Kann es sein, dass Straßen, Plätze, Kirchen, Amtsgebäude, Schulen, kurzum das ganze urbane Ensemble einer Stadt durch ihr einfaches Dasein Einfluss nehmen auf die Gedanken und Tätigkeiten ihrer Kinder? Lassen sich die architektonischen Eindrücke der Kindheit und Jugend in Lebensspuren eines Komponisten, eines Massenmörders oder eines Poeten wie Eichendorff wiederfinden? Machen schöne Gebäude moralische Menschen? Oder verhält es sich umgekehrt? Hässliche Städte – was tun sie ihren Bewohnern an? Dass ganze Landschaften Menschen verzaubern, ja verzücken können, ist bekannt. Aber was heißt das, »verzaubern«? Was hat Italien Goethe wirklich angetan? Sein geschätzter Winckelmann hat das gelobte Griechenland nie gesehen, und doch hat er es als eine Art Widerspiel des nordeuropäischen Verzichts auf heitere Schönheit neu erfunden. Die Anschauung der antiken Statuen von Rom reichte ihm dazu aus; die »dicken Wolken über Theben« hat er erfunden. Köthen ist weder schön noch wirklich hässlich, sondern eine Stadt aus dem Architekturbaukasten des 19. Jahrhunderts. Es ist übersichtlich und nahezu geruchlos, seitdem die Braunkohle nach der Wende aus den heimischen Öfen verbannt wurde. Wäre die Stadt ein Mensch, hätte sie das Aussehen eines Angestellten aus einem Rechnungshof, der sein Leben mit Rechenschiebern vermessen hat. In meiner Kindheit wuchs die Stadt – wenngleich nur scheinbar – im gleichen Maß mit den von Jahr zu Jahr erweiterten Streifzügen mit Freunden aus der Nachbarschaft, um jetzt in der Nachbetrachtung des Erwachsenen wieder zu schrumpfen auf die mikroskopisch genauen, kleinteiligen Bilder des Langzeitgedächtnisses. Lange Schulwege verkürzen sich bei der Nachbesichtigung, und der ferne Magermilchladen der Nachkriegsjahre liegt plötzlich wenige Meter vor der eigenen Haustür. Er steht leer. Und da meldet sich zum Beispiel in der Erinnerung der Anblick winziger Staubwölkchen, die zwischen den nackten Zehen des vielleicht Fünfjährigen aufstiegen wie feinste Explosionen, als er an einem heißen Sommertag über einen sandigen Feldweg lief. Oder der Anblick vom Penis eines erwachsenen, zweifellos pädophilen Mannes, der eine kleine Truppe von Jungens in einem Schützengraben neben einer ehemaligen Flakstellung auf dem Müllberg – der einzigen Erhebung weit und breit – ermunterte, ihre kleinen Schwänze vorzuzeigen. Sie kramten in ihren kurzen Hosen, und ich tat es bestimmt auch. Das seltsame Erlebnis behielt ich für mich, aus Scham oder aus einem Gefühl heraus, etwas prinzipiell Geheimes erlebt zu haben, das niemanden sonst etwas anging. Aus den Wänden der Schützengräben ragten die Müllreste der Stadt hervor, Fetzen von Stoff, Blechkanten, es roch süßlich nach Verfall. Die Beamten und Fabrikanten, die Ärzte und höheren Angestellten Köthens sprachen Hochdeutsch, die anderen waren an einem breiten, fast dumpfen Sächsisch zu erkennen. Dabei konnte sich die Stadt doch der zweitältesten europäischen Wissenschaftsakademie rühmen, der 1617 vom Fürsten Ludwig I. und anderen gegründeten »Fruchtbringenden Gesellschaft« zur Pflege der deutschen Sprache, die in der Stadt allerdings bis heute malträtiert wird. Unvergessen ist die Ohrfeige der Großmutter, als ich zum ersten Mal statt »nein« »näh« sagte. Sie war damals in den Augen ihres kleinen Enkels eine graue, unfreundliche Kreatur mit stechenden Augen, einem stramm geflochtenen Dutt und einer harten knochigen Hand. Einen Kuss hat sie mir nie gegeben, das hätte mich auch erschreckt. Ein Hauch von selbstzufriedener Genügsamkeit hing noch in den fünfziger Jahren über Köthen, und der ist weiterhin auf dem Friedhof zu verspüren. Der jüdische Friedhof liegt abgegrenzt, aber gut erhalten auf dem Gelände am Rand der Stadt. Die moosbedeckten Grabmale der christliche Bäcker und Müller, der Ingenieure und Angestellten aus der Vorkriegszeit wetteifern miteinander in versteinertem Stolz auf das im arbeitsamen Leben Erreichte, direkt neben einigen dorischen, langsam ergrauten Grabtempeln längst vergessener Großbürger. Inzwischen verweist nur noch ihre marmorne Haltbarkeit auf die Illusionen der Nachfahren, die bis 1945 auf familiären Zusammenhalt und Dauer setzten, jetzt aber wie die Naumanns und Schönfelds und Friedheims oder Mendershausens längst in alle Winde verstreut sind. Auf die gelegentlichen Besucher dieser Familien wirkt Köthen wie ein abgetragener Anzug. Einer dieser »Abkömmlinge« aus Köthen ist der ehemalige Finanzvorstand des Axel-Springer-Konzerns und ein Urenkel des Holzfabrikanten Naumann (nicht verwandt!). Als ich einmal das Köthener Rathaus besuchte, stellte ich fest, dass die prachtvolle Holztäfelung des Festsaals aus der Werkstatt seines Urgroßvaters stammte; finanziert wurde sie vom Bankier Max Friedheim, einem jüdischen Verwandten meiner Mutter. Friedheim war wie viele andere bürgerliche Juden Deutschlands getauft worden, er war Ehrenbürger der Stadt, und so hatte das Namensschild am Kopf des Rathaussaals den rassistischen Bildersturm des Dritten Reichs überstanden. Der Ingenieur Max Naumann, mein Großvater, hatte die Tochter des Hoffotografen Eduard von Spoenla geheiratet. Dessen Foto zeigt einen vollbärtigen Mann. Sein schmales Gesicht lässt einen halblustigen, im Kern unseriösen Charakter vermuten. Es kann aber auch die offenkundige...