Nau Tanze Tango mit dem Leben
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8387-4483-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-8387-4483-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der leidenschaftliche Tango Argentino hat es Nicole Nau angetan. Mit Ende zwanzig kratzt die junge Grafik-Designerin ein wenig Geld zusammen, um sich einen langgehegten Traum zu erfüllen: ein Tango-Kurs in Buenos Aires. Fasziniert von der pulsierenden Metropole, den bunten Tanz-Salons und den mitreißenden Tango-Shows gibt sie spontan Heimat, Familie und Job auf, um als freie Künstlerin zu leben. Trotz großer körperlicher und finanzieller Belastungen entwickelt sie sich in den folgenden Jahren zur weltweit gefeierten Tänzerin. Und als sie schließlich den Tango-Star Luis Pereyra trifft, scheint ihr Glück perfekt ...
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KAPITEL 1
Bridge over troubled Water von Simon and Garfunkel. Ich liebe dieses Lied! Mit geschlossenen Augen höre ich auf die Musik und lasse mich vom Rhythmus bewegen. Seit Stunden tanze ich durch das Wohnzimmer der elterlichen Wohnung und bin in Gedanken ganz weit weg. Plötzlich klirrt irgendwo ein Glas. Was ist passiert? Ich bleibe abrupt stehen und halte den Atem an. Ist etwas mit Mama? Es ist ein kalter Oktober-Abend 1977. Ich bin 14 Jahre alt und allein zu Hause mit meiner Mutter und meiner erst eineinhalb Jahre alten Schwester Joëlle. Meine ältere Schwester Mylène ist schon 16 und darf bei einer Freundin schlafen. Papa arbeitet als Grafiker und hat immer viel zu tun. Wenn er an wichtigen Projekten arbeitet, kommt er am frühen Abend nur kurz nach Hause, sieht nach, ob alles okay ist, und verschwindet dann wieder in sein Büro in der Düsseldorfer Innenstadt. Er vertraut mir und weiß, dass ich mich immer gut um Joëlle kümmere. Denn für Mama ist das seit einiger Zeit schwierig geworden. Papa spricht nicht gern darüber. Aber alle wissen es: Mama trinkt! Auf Zehenspitzen gehe ich leise über den Flur zu ihrem Schlafzimmer. Vorsichtig drücke ich die Klinke herunter und öffne einen Spalt weit die Tür. Mama liegt rücklings auf dem Bett. Sie trägt ein dunkles Strickkleid mit einem schicken Leopardengürtel, dazu nur noch einen cremefarbenen Pumps. Der andere liegt wie achtlos weggekickt unter einem Sessel. Ihr halblanges dunkelblondes Haar ist unfrisiert und hängt strähnig ins Gesicht. Ihr Mund ist weit geöffnet. Sie atmet schwer. Mama liegt schon seit drei Stunden so im Bett. Den ganzen Nachmittag hindurch hat sie im Wohnzimmer Wein getrunken. Als sie sich wieder hinlegen wollte, rief sie mich zu Hilfe. Ich habe sie vom Sofa hochgezogen, untergehakt und versucht, ins Bett zu bringen. Das war nicht einfach. Denn nach zwei Flaschen Wein hat sie immer Mühe, auf den eigenen Beinen zu stehen. Aber ich will nicht, dass sie fällt. Sie schämt sich immer sehr, wenn sie gestürzt ist, und lallt dann irgendwelche Ausreden von Schwindelattacken und zu hohen Absätzen. Mama denkt immer noch, dass niemand weiß, dass sie Alkoholikerin ist. Und weil ich will, dass sie wenigstens einen Rest von Würde behält, stütze ich sie immer, so gut es eben geht, mit ganzer Kraft. Auch heute wollte ich ihr ersparen, volltrunken vor den Füßen der eigenen Tochter zu landen. Das sollte sie nicht auch noch erleiden müssen. Sie nicht und ich nicht. Und meine Schwestern genauso wenig. Also biss ich mir lieber die Lippen blutig, als sie fallen zu lassen. Und wirklich, ich schaffte es auch diesmal! Ich bugsierte Mama schließlich ans Fußteil ihres Bettes, von wo sie laut stöhnend auf die Matratze plumpste. Dann saß sie da wie ein hilfloses Kind, mit ganz rührendem Blick, und sah mich noch einmal orientierungslos an, bevor sie nach hinten sackte, weich in die dicken Kissen fiel und in fast demselben Moment einschlief. Mama wird jetzt die nächsten zwei, drei Wochen jeden Abend so im Bett liegen. Sie ist eine Quartalstrinkerin, wie Papa uns einmal erklärt hat. Das heißt, es gibt Zeiten, in denen sie trinkt, und Zeiten, in denen sie keinen Tropfen Alkohol anrührt, also »trocken« ist. Wenn Mama nüchtern ist, ist sie die beste Mama der Welt. Sie liebt uns drei Mädchen und unternimmt viel mit uns. Wir backen zusammen, spielen Karten, nähen Kleider, toben auf den Rheinwiesen und fahren Fahrrad. Dreieinhalb Frauen, die ein super Team sind: Mama, Jahrgang 1934, schlank, schön, eine Traumfrau. Sehr gepflegt im Äußeren, sehr geschliffen im Umgang, elegant und kultiviert. Mylène, meine ältere Schwester, die nie genau weiß, was sie möchte, aber auf jeden Fall mit dem Kopf durch die Wand will. Joëlle, unser Nesthäkchen, das bei jeder Gelegenheit zu weinen beginnt. Und natürlich ich, ihre »Nicoleta«, auf die sie in diesen Phasen immer so stolz ist. Wenn ich aus der Schule komme, nimmt sie mich als Erstes fest in die Arme und streichelt mir über den Kopf. Dann will sie wissen, was ich erlebt habe, und stellt viele Fragen: »Wie war es denn heute? Was hat der Lehrer gesagt? Hast du wieder gezeichnet?« Mama ist immer sehr geduldig, wenn ich ihr meine Klassenarbeiten zeige, und freut sich riesig über die guten Noten. Meine Bilder und Skizzen lobt sie überschwänglich, und besonders gut gelungene wie ein abgezeichnetes Wollknäuel oder die Skizze eines Hundes hängt sie in den Flur. »Du wirst bestimmt einmal Künstlerin, und dann kann ich in einer Galerie deine Bilder bewundern«, sagt Mama oft. Sie ist von Stolz erfüllt. Und das nicht nur, weil ich so gut in der Schule bin und so schön malen kann, sondern auch, weil ich so gewissenhaft auf meine kleine Schwester aufpasse, häufig den ganzen Haushalt schaffe und sogar darauf achte, dass Mylène, wenn sie spät nach Hause kommt, noch etwas zu essen bekommt. Und auch, weil ich immer aufräume, bevor Papa in der Tür steht und sich lautstark über das ganze Chaos aufregen kann. Mama nimmt mich dann oft in den Arm, hält mich fest und fragt mich lachend: »Weißt du eigentlich, dass ich dich ganz doll lieb habe?« Es ist unser Spiel, und ich steige sofort darauf ein und frage: »Wie lieb hast du mich denn?« Dann legt sie mit gespielter Nachdenklichkeit den Kopf zur Seite, scheint einen Moment überlegen zu müssen und sagt schmunzelnd: »Aber, meine Nicoleta, so lieb, wie man ein so wunderbares Kind wie dich nur haben kann!« Und schon liegen wir zwei uns selig in den Armen und halten uns fest. Ganz fest. Aber leider ist Mama nicht immer nüchtern. Und besonders belastend für mich ist, nie zu wissen, wann ihre Trinkphase beginnt. Gut, es gibt bestimmte Anzeichen dafür, dass Mama wieder Alkohol braucht. Wenn ich aus der Schule komme und sie im Wohnzimmer sitzt, statt in der Küche für uns zu kochen, dann ist es ernst. Meistens hat sie dann auch diesen komischen Blick, und ich bin sofort hellwach. Steht in der Küche eine Weinflasche? Erzählt sie, dass sie so gern mit Wein kocht? Ich beobachte, wie sie aufsteht. Hat sie Mühe, das Gleichgewicht zu halten? Ja! Das war es dann. Es geht wieder los. Etwas tapsig kommt sie dann auf mich zu. »Wie war dein Tag, Liebes?« Diese Frage stellt sie mir immer. Aber ich weiß längst, dass sie heute nicht an der Antwort interessiert ist, und schweige. In diesen Momenten würde sie meine Worte sowieso nicht verstehen. Ich kann an ihrem Gang, dem Tonfall ihrer Frage, der Art, wie sie sich bemüht, etwas zu kochen, an all dem kann ich sofort erkennen, ob Mama nur angesäuselt oder bereits volltrunken ist. Und wenn sie zu tief ins Glas geschaut hat, dann scheint sie eine ganz andere Person zu sein. Im günstigsten Fall ist sie nur abweisend und mit sich selbst beschäftigt. Dann möchte sie liegen oder Musik hören oder einfach nur in Ruhe Wein in sich hineinschütten. Wie lieb sie mich hat, kann sie mir dann nicht mehr sagen. Wie auch? Ihr fallen doch die entsprechenden Wörter gar nicht mehr ein. Am liebsten möchte sie nicht gestört werden und wimmelt mich deshalb ab. In einem Tonfall, der keine Widerrede duldet, gibt sie mir Anweisungen: »Geh in den Supermarkt und kauf mir eine Flasche Wein!« Doch das ist oft nur die Ruhe vor dem großen Sturm. Denn Mama trinkt ja weiter, und mit jedem Schluck wird sie unberechenbarer. Um der in ihr aufsteigenden Wut zu entgehen, beeile ich mich, ihr alles recht zu machen, koche, stelle meiner Schwester das Essen hin, füttere die Kleine und wasche ganz schnell ab. Dann versuche ich, aus dem Haus zu kommen, bevor Mylène geht und ich bleiben muss. Denn einer muss ja immer fürs Baby da sein. Das hat uns Papa eingebläut. Wenn ich rechtzeitig wegkomme, versuche ich, zu einer Freundin zu gehen. Wenn niemand Zeit hat, laufe ich durch die Straßen. Ich sehe mir Schaufenster an, beobachte die Tiere am Rheinufer, spiele mit den Hunden der Nachbarin. Ich hoffe, dass die Zeit schnell vergeht und ich bald wieder nach Hause kommen kann. Dann, wenn Mama so betrunken ist, dass sie schläft, und ich den ganzen Absturz nicht miterleben muss. Ich mag Mama nicht sehen, wenn sie volltrunken ist. Ihr Gesicht ist dann aufgequollen, und wenn sie spricht, läuft ihr Flüssigkeit aus den Mundwinkeln. Sie ist eine vollkommen andere Frau als sonst: ungerecht, grob, nicht einzuschätzen. Mal weint sie und drückt uns Kinder fest an sich. Mal brüllt sie uns grundlos an, beschimpft uns als »faules Pack« und »dumme Gören«, die ihr das Leben verdorben hätten. Mama lässt uns dann immer wissen, dass sie wegen uns ihren Beruf aufgeben musste. Sie war Filmdisponentin in einem Archiv und schwärmt davon, wie viel Freude ihr der Beruf immer gemacht habe. Sie erzählt überhaupt viel, wenn sie getrunken hat. Meist sind es schaurige Geschichten von ihrer Flucht aus dem Osten in den letzten Kriegstagen. Weil ihre Mutter damals schon tot war, musste sie ihre kleinen Schwestern in einer Schubkarre in die Freiheit schieben. Sie erzählt auch immer von dem Motorradunfall, bei dem ihre Mutter starb, und den nackten Füßen vieler toter Kinder. Was um Himmels Willen sie wo genau gesehen und erlebt hat? Ich weiß es nicht. Es sind immer nur Bruchstücke, die wir erfahren. Aber sie muss unter irgendetwas sehr leiden. Wenn Papa dazukommt, gibt es schnell Streit. Der Ablauf ist fast immer gleich: Papa sieht, dass Mama getrunken hat, und reißt sofort die Schranktüren auf. Aufgebracht durchsucht er alles nach Weinflaschen. Wenn er eine gefunden hat, läuft er ins Bad. Augenblicke später hören wir es gluckern. Mama rennt ihm nach. Die Tür knallt zu. Erst murmeln die beiden, dann schreien sie sich gegenseitig an, wütend und verletzt zugleich....