Nassehi / Felixberger | Kursbuch 206 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Nassehi / Felixberger Kursbuch 206

Impfstoffe.

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-96196-215-0
Verlag: Kursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Impfstoffe sind das neue Lebenselixier, die Türöffner zu einem Lebensalltag, wie wir ihn früher kannten. Dahinter lauert das mobile Hoffnungsmantra der Gegenwart: Wer geimpft ist, lebt länger, ist mobil, befreit und entfesselt. Zurück in die Spur! Biontech, Sputnik oder Moderna als die neuen Bewegungssanitäter im COVID-SOS. Bitte eintauchen in den sattsam bekannten Medienbrei.

HALT! Kurswechsel. Das Kursbuch blickt tiefer, breiter und weiter. Impfstoffe sind eine systemische Metapher, wie man auf das Unerwartete, Plötzliche und Unscharfe vorbereitet wird. Wie impft man die Demokratie vor möglichen Gegnern? Kann man Verhaltensänderungen impfen? Ist Künstliche Intelligenz wirklich ein Beschleuniger für mehr Effizienz und Kompetenz? Hilft Bildung gegen das Elixier der Dummheit und ideologischer Verbohrtheit? Und wie funktionieren eigentlich Viren bei Tieren?

Essays mit Substanz, verimpft von Armin Nassehi, Josef Reichholf, Käte Meyer-Drawe, Michael Leitl und Juliane Junge-Hoffmeister. Außerdem gehen bekannte Publizisten, Wissenschaftler und Kulturschaffende in kleinen Intermezzi der Frage nach, wogegen sie so richtig immun sind. Von Kurt Kister bis Birte Förster, von Udo di Fabio bis Petra Bahr. In dieser Ausgabe finden Leser und Leserinnen erstmals auch eine Arbeit des Infografik-Künstlers Jan Schwochow sowie eine Spotreportage rund um Impfzentren in Deutschland von Heike Littger. Und FLXX sucht zu guter Letzt Impfstoffreste in der früheren Politikwelt von Angela Merkel.
Dieses Kursbuch ist ein Impfstoff mit garantierten Nebenwirkungen in Form von Sinngerinnseln im Gehirn.
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Dämonen, Heilige und Helden
Über Medizingeschichte und Literarisierung des ­Impfens Ein Gespräch mit der Germanistin und Medizinhistorikerin ­Martina King Von Peter Felixberger und Armin Nassehi Kursbuch: Frau King, Sie sind Kinderärztin und Germanistin. Wie kamen Sie zu dieser Doppelausbildung? Was hat Sie angetrieben? King: Nach meiner fachärztlichen Ausbildung war ich unzufrieden, habe deshalb noch Germanistik studiert und promoviert, parallel zur ärztlichen Tätigkeit. Dann stellte sich die Frage der Habilitation, wodurch ich den Verbindungslinien zwischen Medizin und Literatur ein weiteres Stück näherkam. Die Folge war eine Schrift über die Kulturgeschichte der Bakteriologie. Bei den Medizinhistoriker*innen war das Thema brandheiß und eigentlich sehr gut erschlossen. Überhaupt nicht beleuchtet war, dass Mikroben am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht nur in die Ritzen der Alltagskultur sickerten, sondern daraus hervorquollen. Die illustrierte Massenpresse, Zeit­schrif­ten wie Die Gartenlaube oder Über Land und Meer sind voll von Bakterien­geschichten und Bakterienbildern. Jeder sucht sie im eigenen Badezimmer; man hat diese Mikrobenfixierung als epidemic entertainment bezeichnet. Da gibt es zur COVID-Pandemie erstaunliche Parallelen. Sich auf das Unsichtbare als infektiöses Agens zu konzentrieren, ist damals und heute ein großartiges Schauspiel, was mit vielen bunten Bildern, heute mit bunten Kugeln, damals mit kleinen anthropomorphen Männlein einhergeht. Auch um 1900, als die Menschen begriffen, dass sie von einer Welt kleiner, unsichtbarer Widersacher umgeben sind, war es ein riesiges Medien-, Literatur- und Kulturspektakel, was sich bis zu Kandinsky und den Dadaisten erstreckt hat. Nach der Ha­bilitation über Das Mikrobielle in der Literatur und Kultur der Moderne, die Ende dieses Jahres unter diesem Titel als Buch erscheinen wird, habe ich mich noch intensiver der Kulturgeschichte zwischen Medizin und Literatur verschrieben. Es geht in meiner Forschung vor allem um Textualität, Poetizität und Medialität – und zwar von literarischen und medizinischen Texten. Jemand wie ich, mit einer Doppelausbildung, findet hier gut Platz. Ich wurde sowohl in Germanistik als auch in Medizingeschichte habilitiert, sodass ich an meinem Lehrstuhl hier in Fribourg ein gemischtes Team aus Medizinhistoriker*innen und Germanist*innen habe. Wir blicken sozusagen von zwei Seiten auf unsere Forschungsthemen. Kursbuch: Gehen wir in medias res. Lässt sich eine beiderseitige Ge­schichtsschreibung im Umgang mit Impfstoffen erkennen und rekonstruieren? King: Die Medizinhistoriker*innen haben das fabelhaft erschlossen. Es gibt sehr grundlegende Arbeiten über den Impfwiderstand im frühen 19. Jahrhundert. Oder über die Geschichte der Durchsetzung der Vakzination. Auch über die Durchsetzung der Pockenschutzimpfung rund um das Preußische Impfgesetz; ferner Arbeiten bis in die jüngste Vergangenheit, etwa mit der Durchsetzung der Masernimpfung in der DDR. Kulturhistorisch hingegen ist dieses Thema keineswegs gut untersucht. Kursbuch: Was müsste man hinzufügen, um dieses Defizit auszu­gleichen? King: Die kulturellen Dimensionen. Denn um 1800 gibt es noch keine institutionelle bzw. professionalisierte Medizin, sondern eine Ge­lehrten­medizin; und insofern ist das Impfen automatisch auch ein kulturelles Thema. Medizinische Fragen werden unter anderem in phi­losophischen, gelehrten Zirkeln verhandelt; sie sind ein Thema der aufkläreri­schen Anthropologie. Lassen Sie uns über die Anfänge der Pockenschutzimpfung reden, genau genommen über den Entwick­lungs­prozess von einer hochriskanten Technik, der Variolation oder des »Blatternbelzens«, hin zur Vakzination. Das ist ein Vorgang von höchster kultureller Tragweite. Bis hin zu Goethe und Kant äußerten sich zahlreiche privilegierte Sprecher aus den gebildeten Schichten dazu. Die dazugehörigen Darstellungen, Grafiken, literarischen Texte und Medien waren äußerst populär. Kursbuch: Es ging bei der Pockenimpfung natürlich um die Durchsetzung von Dingen, gegen die es Widerstand gab oder die sich nicht von selbst verstehen ließen. King: Die erste Form des Pockenschutzes, die Variolation, ist die gezielte Inokulation mit dem Eiter einer Person, die nur leicht an Pocken erkrankt ist. Diese volksmedizinische Praxis stammt ursprünglich aus der Türkei, Griechenland und dem Orient. Die Frau des britischen Botschafters in Konstantinopel, Lady Mary Montagu hat das 1717 bei ihrem eigenen Sohn praktiziert und in ihren aristokratischen Kreisen durchzusetzen versucht. Im Orient konnte man beobachten, dass dort, wo in großem Maßstab inokuliert wurde, die Kindersterblichkeit abnahm. Der Diskurs war jedoch ausschließlich den Gelehrten und der Aristokratie vorbehalten, er verband sich mit dem grundsätzlichen aufklärerischen Erziehungsprojekt. Im Volk hingegen hatte sich unterdessen sehr starker Widerstand gebildet. Ein Kind bewusst dem Einspritzen von Eiter unter die Haut auszusetzen und dann zuzuschauen, wie das Kind Pocken bekommt, war kontraintuitiv. Es bildete sich folglich eine Trennlinie zwischen Aufklärung, finanzieller Kaufkraft und den weitgehend illiteraten Arbeiterschichten, die sich dagegen wehrten. Als etwas später dann Edward Jenner kam, eigentlich mit einer viel weniger gefährlichen Impftechnik, der Kuhpockeninoku­lation oder »Vakzination«, blieb die Durchsetzung schwierig, das Thema war und blieb kontrovers: Einerseits gehörte der Pockenschutz zur aufkeimenden öffentlichen Gesundheitsfürsorge und zur aufklärerischen Selbstsorge. Andererseits gab es auch Aufklärer, die die Ein­heit und Ganzheit des humanen Subjekts durch die »Brutalimpfung«, also das Einspritzen von tierischem Eiter, bedroht sahen, allen voran der anthropologische Arzt Marcus Herz; auch sein Lehrer Immanuel Kant war dieser Meinung. In gewisser Weise waren das also Stimmen der intellektuellen Machthaber, die zunächst das neue bessere Ver­fah­ren torpedierten. Kursbuch: Wir kennen die Impfskepsis in den gebildeten Ständen heute auch noch. Wie ist das zu erklären? King: Es ist in der longue durée der Zusammenhang zwischen einem gebildeten Bürgertum und einer medikalen Dissidenz, die in der Naturheilkunde und in zahlreichen weiteren esoterischen Strömungen um 1900 ihren ersten großen Aufschwung erlebte; es scheint eine Ent­wicklungslinie von Bildung und Irrationalismus zu geben: Lieber teuer und vegan essen, als sich impfen zu lassen. Die Impfskepsis um 1800 wiederum hängt an anderen Dingen: zunächst am aufklärerischen Subjektbegriff und am Glauben an eine traditionelle, philosophisch-deduktive Medizin, die man nicht der blinden Empirie überlassen möchte. Der Arzt müsse vielmehr den Gesetzen der Vernunft gehorchen. Und das bedeutet, dem Menschen kein tierisches Material zu injizieren, noch dazu von einem Rindvieh, das in der Scala Naturae viel weiter unten steht. Wenn man Jauche vom Rindvieh einimpfe, entstünden – in der Sprache der zeitgenössischen Ärzte – »Stockungen« und »Schärfen« bis hin zum Tod. Die Integrität des aufklärerischen Subjekts habe kein Kontinuum zum Tier. Diese Ängste setzten sich in die einfachen Bevölkerungsschichten hinein fort und wurden durch Karikaturen in frühen Unterhaltungsmedien und durch polemische Antiimpfschriften auch immer weiter befördert. Kursbuch: Mit Edward Jenner scheint sich aber in der Frage der Brutalimpfung ein Fortschritt abzuzeichnen? King: Jenner ist Landarzt. Ihm geht es um die Durchsetzung einer pastoral-ländlichen Medizinpraxis. Also gegen eine philosophische Medizin, die antiempirisch verfährt. Er argumentiert genau gegenteilig, dass es ein Kontinuum zwischen menschlichen und tierischen Krankheiten gebe. Deshalb könne man die Kuhkrankheit einsetzen, um den Menschen vor seiner Krankheit zu schützen. Kursbuch: Was genau ändert sich dadurch in der Folge? King: Zunächst kommt es in Deutschland zu einer Erstarkung der Me­dizinstatistik. Wissenschaftler widmen sich zunehmend der Pocken­statistik. Das ist der Beginn einer epidemiologischen Evidenzerzeugung, die es vorher so nicht gab. Pockensterblichkeit wird nach Regionen dokumentiert. Mit dem Ergebnis: Wo man vakziniert, kommt es zu einer überwältigenden Senkung der Mortalität. Was bedeutet, dass sich mit diesem Instrument der Staatskörper, die Untertanen und Soldaten gesund erhalten lassen. Die Napoleonischen Kriege spielen deshalb für die Impfdurchsetzung eine sehr große Rolle. In den süddeutschen Staaten kommt es sehr schnell zur Impfpflicht. Bayern zum Beispiel mit einem Impfgesetz schon 1807. Gleichzeitig kommt es zu einer rich­tig großen publizistischen Propagandawelle. Kursbuch: Interessant ist, dass zur gleichen Zeit Hygieneplanung in Städten, ja eigentlich Stadtplanung insgesamt, entsteht. Damit einher­geht eine neue Bildungs- und Militärplanung und Architektur. Beobachten sich Gesellschaften fortan selbst ganz anders? King: Hier beginnen eigentlich die Medikalisierung der Gesellschaft und eine gewisse Mathematisierung der Medizin. Hygiene- und Stadtplanung kommen allerdings erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts rich­tig in Schwung. Die Statistik entwickelt sich zwischenzeitlich deutlich weiter, insbesondere nach der ersten Cholerawelle 1832. Das Empirische setzt sich allgemein durch. Vielleicht mit kleinen...


ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem "Mit dem Taxi durch die Gesellschaft", in der kursbuch.edition erschien zuletzt "Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests".

PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: "Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?"


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