Nassehi / Felixberger | Kursbuch 205 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Nassehi / Felixberger Kursbuch 205

Musikbox

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-96196-203-7
Verlag: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Musikboxen und Jukeboxen sind die Wundertüten des Musikalischen. Darin schlummern Standardhits, aber auch unbekannte Fundstücke und andere Juwelen. Die Kursbuch-Musikbox erscheint inmitten der Corona-Pandemie. Sie ist Hitparade, Essay-Pop, akademische Eigenkomposition und Eintauchen in schillernde Musikgeschichte(n). Ein Wurlitzer musikalischer Vielfalt und Differenz. Darin findet man Lockdown-Musikempfehlungen von Robert Habeck bis Ulrike Draesner, von Sibylle Lewitscharoff bis Jagoda Marinic, von Gustav Seibt bis Dmitrij Kapitelman. Ebenso Streifzüge durch Hitlisten, digitale Musik, durch das Symphonische und die Volksmusik. Wir treffen Gioachino Rossini beim Komponieren, beobachten Dirigentinnen in einer Männerdomäne sowie einen Rapper bei einem Schreibexperiment über Hiphop mit einem Universitätsprofessor. Ungewöhnliche Perspektiven, Sichtachsen und Tonlagen. Zum Klingen gebracht im Kursbuch 205: Musikbox.
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Karl Bruckmaier
Diese Scheibe ist ein Hit
Ein Versuch über das Unvergängliche Karl Dall gewidmet In Tokyo I’ve got it made
In Tokyo I’m on the Hit Parade Gruppo Sportivo Die Sonne geht auf. Die Sonne geht unter. Die Sonne geht auf. Die Sonne geht unter. Am ersten Tag haben wir gehungert. Am zweiten Tag haben wir den Hyänen etwas Aas stibitzt. So war dieser Tag also deutlich besser als der davor. ? So sieht sie also aus, die vermutlich erste Bestenliste der Menschheitsgeschichte. Zwei kurze Striche für die Ewigkeit in einer Höhle bei Bourdieu in Südfrankreich. Und unserem Vorfahren mit dem verkohlten Ast in der Hand – nennen wir ihn Pierre – sind wir bis heute ähnlich: Wir können kaum bis drei zählen, sind aber fasziniert von Listen, Rangordnungen, Aufzählungen. Wir suchen gleichzeitig das Ähnliche und feiern den Unterschied – same same but different. Während Pierre als Nächstes eine Liste mit leckeren Höhlensnacks kontempliert – Platz 1: Sciurus vulgaris, Platz 2: Apodemus sylvaticus –, wird er vom drittgefährlichsten Raubtier seiner Zeit – Ursus spelaeus – hinterrücks gemeuchelt und gefressen, übrigens Todesursache Nummer 1 jener gleichförmigen Tage. Was die Soziologie um einige Zehntausend Jahre zurückgeworfen hat. Zeitsprung: Am 15. Tag des Jahres 2021 erfahre ich in einem Nachruf auf den Gitarristen Sylvain Sylvain, dass »Personality Crisis«, ein Song der New York Dolls, Platz 267 auf der Liste der besten Lieder aller Zeiten einnimmt. Das zugehörige Album The New York Dolls aus dem Jahr 1973 nimmt Platz 301 auf der Liste der 500 besten Rock-Alben aller Zeiten ein. Aller Zeiten! Pierres Geist nickt. In der Liste der besten Gitarristen aller Zeiten kann ich Sylvain Sylvain aber nicht finden. Sonst hätte ihn seinerzeit vielleicht Mick Jagger, Platz 16 auf der Liste der besten Sänger, als Ersatz für Mick Taylor angeheuert: »Wir werden zweifellos einen brillanten, blonden, einsachtzig großen Gitarristen finden, der sich selber schminken kann.« Pierres Geist nickt. Vermutlich, weil er ein wenig aussieht wie Ron Wood, seit gut 40 Jahren der schwarzhaarige, einsfünfundsiebzig große Nachfolger Taylors bei den Rolling Stones, Platz 4 in der Liste der besten Bands und Musiker aller Zeiten. Diese Viertbesten sind 2020 mit dem wiederveröffentlichten Album Goats Head Soup von 1973 zur Nummer 1 in den Hitparaden von Österreich und dem United Kingdom avanciert, was einem den letzten Restglauben an Schwarm- und Schwärmerintelligenz rauben kann: Eine Platte, deren bekanntester Song die Ballade »Angie« ist und deren Kauf ein jeder Fan der Stones seinerzeit schon bereut hat – geht’s noch? Nun, es geht seit 1936, als in den USA die ersten Listen mit Musik, geordnet nach Schallplattenverkaufszahlen, veröffentlicht wurden. Seither gilt es, in die Charts zu kommen. »Und wenn euch der Rhythmus packt, dann klatscht alle mit im Takt.« Und diesen Takt haben Pink Floyd musikalisiert in ihrem ebenfalls 1973 erschienenen Song »Money«, wo die Registrierkassen die konsumkritischen Tänzer einpeitschen, als wäre man selbst im Lande Pop versessen auf stalinistische Militärparaden. Heute, in Zeiten der extremen Diversifizierung von Hit-Listen, in Zeiten personalisierter Algorithmen, die jedem Kunden eines Streaming-Dienstes sein ganz privat scheinendes Musikuniversum erschließen, in Zeiten, in denen Zeitgenossenschaft durch Zeitgleichheit eliminiert wird, wohnt diesen eigentlich durch und durch kommerziellen Auskünften, die Hitparaden erteilen, etwas charmant Menschliches, zuzeiten auch Nostalgisches inne – so als würde man durch eine Wunderkammer streifen, jene Vorläufer unserer Museen also, die wie die Charts vergangener Jahrzehnte nebeneinander präsentieren, was nicht nebeneinander gehört: Muschel neben Koralle neben präpariertem Elefantenfuß neben missgebildetem Fötus. Roy Black neben Deep Purple neben Heino neben Joni Mitchell. Im Rückblick weisen diese Verkaufshitparaden aber trotzdem eine seltsam anmutende Homogenität auf. Betrachtet man etwa die Auflistung der erfolgreichsten US-amerikanischen Musiker in den neunzehnfünfziger Jahren, so wird dem halbwegs Popinteressierten gar nicht weiter auffallen, dass er all diese Namen kennt, von Elvis Presley über Fats Domino bis zu den Platters. Noch vertrauter dann die Namen aus den Neunzehnsechzigern, von den Beatles über James Brown bis zu den Supremes. Die Top Twenty aus den Neunzehnsiebzigern wirkt dann schon fast, als handle es sich um eine Liste der Mitbewohner unserer intellektuellen WG, von Aretha Franklin über Fleetwood Mac bis zu David Bowie. Mit den Namen aus den Neunzehnachtzigern war man schließlich ständig im Bett, von Madonna über Michael Jackson bis hin zu Prince. In den Neunzehnneunzigern kann dem genauen Beobachter der Hitliste eine erste Korrosion an deren Rändern auffallen: Wer Jeff Buckley oder Radiohead hörte, war nicht mehr notwendigerweise vertraut mit dem Output von Mariah Carey. Und springt man in das eben vergangene Jahrzehnt, muss ich gestehen, dass mir fünf der genannten 20 überhaupt nichts mehr sagen und dass ich von weiteren fünf nur die Namen kenne, aber keinen Song. Neben dem natürlich wirksamen biologistischen Argument, dass ein alter, weißer Popkritiker Pitbull und Rihanna einfach nicht mehr auf dem Radar hat, gibt es aber meines Erachtens ein weiteres, weitaus gewichtigeres Argument: Die Charts als Fenster in den Seelenzustand einer Kultur haben diese Kultur nur so lange einigermaßen unverpixelt abgebildet, als eine die sozialen Gruppen der Gesellschaft übergreifende Verfasstheit existiert hat, die man gemeinhin »Jugendkultur« nennt. Diese Jugendkultur wurde zu Beginn der neunzehnfünfziger Jahre in den USA etabliert und sollte einerseits dazu dienen, die Heranwachsenden an den westlichen Wertekanon wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu gewöhnen, andererseits und vor allem anderen aber, die bislang unwichtige Gruppe der Teenager als Konsumenten zu erschließen, also mit einer eigenen Literatur, einer eigenen Mode, einer eigenen Sprache, aber vor allem einer eigenen Musik auszustatten. Dies ist von Anfang an aus dem Ruder gelaufen; statt braver Songs à la Cliff Richard oder Peter Kraus entdeckten die von der Leine gelassenen Teens Little Richard und James Brown, statt »Democracy« Bürgerrechte, Antifaschismus und Anarchie und statt erbaulichen Gedichten wurde Kerouac gelesen und Burroughs missverstanden. Bei sexueller Unverkrampftheit, bei langen Zotteln oder Sicherheitsnadeln durchs Ohr wollte noch der letzte Dorf-Disco-Türsteher dabei sein, die Tüte mit selbst angebautem Gras immer griffbereit. Die Verkaufslisten in den wichtigsten Pop-Nationen begannen sich zu ähneln, begannen ein jugendkulturelles Eigenleben über Länder und Kontinente hinweg zu spiegeln, begannen mit einer Zunge zu sprechen: Englisch. Afroamerikanisch. Ein gefühlt linker Internationalismus einer Generationskohorte: Das war wirklich neu. Als sich in den neunzehnachtziger Jahren die fast schon als Naturkonstante wahrgenommene lineare Abfolge von dominanten Stilen im Pop nicht mehr fortsetzte, als das Konstrukt »internationale Jugendkultur« zu den gleichzeitig erfolgreichen und wieder auf Ausschluss bestehenden Klängen von Rap, Grunge, House und Techno zusammenkrachte, konnte man auch die kommerziellen Charts nicht mehr als Rosetta Stone des Pop lesen, wo sich im Einen die Erklärung für das Andere fand. Es begannen die Jahre der offen oder verdeckt subjektiven Listen, in Deutschland exemplarisch zu bekichern in der Zeitgeist-Zeitschrift Tempo, aber auch in den ungezählten, typografisch durchgeknallten Techno-Blättchen jener Zeit. Oder selbst auf der Schallplattenseite der Süddeutschen Zeitung. Und jede hippe Radiosendung gefiel sich darin, Jahresbestenlisten zu erstellen. Denen übrigens eine statistische Untugend anhaftet: Wenn ein Dutzend Musikjournalisten jeweils die zehn ihrer Ansicht nach besten Alben eines Jahrgangs nennen, wird nie die tatsächlich beste Platte gewinnen, sondern immer ein Konsensprodukt – die vielleicht fünftbeste Platte eines Jahres, wenn alle Glück haben. Denn Spitzenleistungen werden oft nur von Experten erkannt oder erahnt – etwa die bahnbrechende Metal-Platte, welche die Musik auf Jahre hinaus verändern wird, hält der Country-Experte für bloßen Lärm. Aber die Konsensrocker, von denen man so viel gehört und gelesen hat, die hat jeder auf dem Zettel. Summa summarum: Platz 1. Pierres Geist seufzt. Seit der Höhlenbär ihn verspeist hat, hat er in seinem Schwebezustand das Rad erfunden, die Zahl ? bis zur letzten Stelle im Kopf ausgerechnet, hat Koptisch gelernt und wieder vergessen, den Wankelmotor entwickelt und das Sperrdifferenzial, hat, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie durchaus studiert, denn, so viel sei verraten, Unsterblichkeit ist fad. Und er hat sich in uns Listenreiche hineingedacht. Pierre erkannte, dass eine Wertung, eine Reihung Wirkmächtigkeit erlangt, wenn sie von einem Odysseus stammt, dem die Öffentlichkeit die höheren Weihen zum Priester einer bestimmten intellektuellen Glaubensrichtung abnimmt. So hielt der Großkritiker, den man bislang nur aus der bildenden Kunst oder der Literatur kannte, auch Einzug in den Pop. Von »Kritikerpäpsten« war plötzlich selbst in den Stadtzeitungen zu lesen. Die Verwendung komplexen Vokabulars wurde zur neuen Helmzier auf den unverwüstlichen Schlachtfeldern der Distinktion: Wer seinen Jean Baudrillard nicht von meinem Deleuze unterscheiden konnte, war auf immer geächtet – im Grunde die Blaupause für die gegenwärtige Entwicklung und Durchsetzung eines woken Elite-Sprechs, das...


ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem "Mit dem Taxi durch die Gesellschaft", in der kursbuch.edition erschien zuletzt "Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests".

PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: "Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?"


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