E-Book, Deutsch, Band 202, 216 Seiten
Reihe: Kursbuch
Nassehi / Felixberger Kursbuch 202
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96196-133-7
Verlag: Kursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Donner.Wetter.Klima.
E-Book, Deutsch, Band 202, 216 Seiten
Reihe: Kursbuch
ISBN: 978-3-96196-133-7
Verlag: Kursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Empörte Aktivisten im Hambacher Forst, wütende SchülerInnen bei den Fridays for Future-Protesten, hitzige Debatten im Bundestag und doch nur ein Schmalspurprogramm zum Klimaschutz, Plastik in den Weltmeeren, Mikroplastik im Trinkwasser, Gletscherschmelze, Tiersterben, Flygskam! Natur- und Klimaschutz sind zum beherrschenden Thema einer übererregten Öffentlichkeit geworden – bis der globale Shutdown die Aufmerksamkeitsökonomie auf andere, viralere Themen lenkte. Bevor aber die Autos auf unseren Auto- und die Flugzeuge auf den Startbahnen die globale Wirtschaft wieder anrollen lassen und der Klimaschutz damit an einem Scheidepunkt steht, nutzen wir die Zeit, und sezieren das Klima der Debattenlage: Wer redet wie, was, wann und wo mit wem? Eisige Winde der Negation, Jetstreams der Erzürnung, Monsunregen der Kritik, Orkane des blinden Aktivismus – kann die Gesellschaft der existentiellen Bedrohung durch die Klimakrise auf diese Weise noch Herr werden? Wir schalten noch einmal zum Klima und durchleuchten, warum uns der Tanz der Perspektiven so durcheinanderwirbelt.
Mit Beiträgen von Marlen Gabriele Arnold, Franz Josef Radermacher, Joachim Wille, Jörg Staude, Solvejg Nitzke, Berit Glanz u.v.m.
Autoren/Hrsg.
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Franz Josef Radermacher
Das Rio/Kyoto/Paris-Dilemma
Eine klimapolitische Rekonstruktion verpasster Chancen und ein konkreter Ausweg Auf den Punkt Die Weltgemeinschaft ist im Hinblick auf den Klimawandel in einer extrem schwierigen Situation. Es spricht sehr viel dafür, dass das 2-°C-Ziel nicht erreicht werden kann – egal, wie viel Energie und Optimismus Aktivisten mit ihren Durchhalteparolen verbreiten. Wie sind wir in diese Lage gekommen? Der vorliegende Beitrag zeigt, dass zu den Stichjahren 1990, 2000 und 2010 jeweils gute Optionen bestanden hätten, die Situation massiv zu entschärfen, zum Beispiel über kluge Cap-and-Trade-Systeme, wie sie damals diskutiert wurden, kombiniert mit massiven Investitionen in naturnahe Lösungen, etwa die Aufforstung zur Erzeugung von Negativemissionen. Letztlich wurden derartige Lösungen nicht realisiert, unter anderem, weil die reichen Länder zu »dumm« waren, das von den Entwicklungs- und Schwellenländern geforderte Prinzip der Klimagerechtigkeit zur Aufteilung eines vereinbarten Cap für die weltweiten Emissionen zu akzeptieren. Die Folgen waren ganz andere als erwartet: Die Welt erlebte ein von China getriebenes hohes Wirtschaftswachstum, das die Klimasituation massiv verschlechterte. Insbesondere die Industrieländer haben – neben China selbst – von diesen Wachstumsprozessen profitiert und so indirekt eine substanzielle Externalisierung von Umweltkosten zur Verbesserung ihrer Wohlstandssituation betrieben. Mit den Folgen müssen wir uns jetzt als Weltgemeinschaft auseinandersetzen – ohne jedoch zu wissen, wie wir der heutigen Situation noch Herr werden können. Die Lage Die Welt befindet sich bezüglich der Klimasituation in einem höchst prekären Zustand. Einerseits hat sich die Weltgemeinschaft mit dem Paris-Vertrag auf das Ziel verständigt, den Temperaturzuwachs im Verhältnis zur vorindustriellen Zeit auf höchstens 2 °C, besser 1,5 °C zu beschränken. Andererseits reichen die dafür beschlossenen freiwilligen Maßnahmen der Staaten bei Weitem nicht aus. Diese werden bestenfalls zu einer 3-°C-Erwärmung, unter Umständen auch zu einer 4-°C-Erwärmung führen. Zudem ist mit den USA der stärkste Akteur aus den Vereinbarungen ausgestiegen. Die weltweiten CO2-Emissionen steigen ständig weiter – allen Ankündigungen zum Trotz. Es ist überdies zu erwarten, dass die seit Kurzem wütende Corona-Krise die Situation weiter verkomplizieren wird. Während in Deutschland und Europa bis zum Ausbruch der Corona-Krise zum Teil in fast schon panischer Atmosphäre Stimmung gemacht wurde und Elemente einer Klimaplanwirtschaft zulasten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und des Lebensstandards diskutiert wurden, sorgten die stärksten Akteure auf dem Globus, also die USA, Russland, China und weitere dafür, dass die Nutzung von fossilen Energieträgern, die das Klimaproblem verursachen, weiter zunahm. Fossile Energieträger sind preiswert. Fossile Energieträger bieten sich sehr häufig als die ökonomisch naheliegende Lösung an – gerade auch in Entwicklungs- und Schwellenländern, was nach der Corona-Krise noch mehr das Bild bestimmen wird als zuvor. China setzt als der mit Abstand größte CO2-Emittent – neben anderen Ansätzen – wie auch Japan und Indien weiter auf den Ausbau der Kohle. Die USA sind mit der forcierten Förderung von Schieferöl und Schiefergas mittels Fracking mittlerweile zum größten Ölproduzenten der Welt aufgestiegen. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge kann die Weltgemeinschaft ab 2020 bis 2050 noch etwa 450 Milliarden Tonnen CO2 emittieren, wenn das 2-°C-Ziel (mit Wahrscheinlichkeit von etwa 66 Prozent) erreicht werden soll, für das 1,5-°C-Ziel verbleiben nur noch etwa 300 Milliarden Tonnen CO2 – und das bei heutigen jährlichen Emissionen im Energiesektor von fast 40 Milliarden Tonnen. Die U. S. Energy Information Administration (EIA) schätzt in ihrem International Energy Outlook 2019 die Gesamtemissionen, die von 2020 bis 2050 zu erwarten sind, auf etwa 1150 Milliarden Tonnen. Die Internationale Energieagentur, eine Organisation der OECD (der reichen Staaten), kommt auf ähnliche Größenordnungen, was mit der Einschätzung zusammenhängt, dass die Nutzung fossiler Energieträger mindestens bis 2040 im Umfang sogar noch ansteigen wird. Zusammengenommen sieht es heute so aus, dass die Weltgemeinschaft nur wenig Aussichten hat, die Paris-Ziele zu erreichen. Dies umso mehr, als es gerade die militärisch stärksten Akteure sind, die den fossilen Weg forcieren. Dagegen ist aus machtpolitischen Gründen nichts auszurichten, schon gar nicht von den Europäern. Die Lage in Europa, vor allem auch in Deutschland, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen weit überwiegend wollen, dass etwas gegen den Klimawandel unternommen wird. Dies ist auch eine Folge des wirksamen Auftretens von Greta Thunberg und Fridays for Future oder von Felix Finkbeiner und der Organisation Plant-for-the-Planet. Dabei sind die deutschen Emissionen mit zehn Tonnen pro Kopf im Vergleich sehr hoch – fast doppelt so hoch wie die französischen. Aber das wird nicht thematisiert. Die Deutschen glauben, sie seien in Bezug auf das Klima die »Guten« und sie könnten, wenn sie sich nur etwas Mühe geben, ein Vorbild für die Welt sein. Deshalb soll die Regierung mehr tun. Die Maßnahmen zur »Rettung der Welt« sollen aber nicht wehtun. Die meisten Menschen in Deutschland folgen gleichzeitig der fixen Idee, die besten Möglichkeiten, um zur Stabilisierung des Weltklimas beizutragen, bestünden für deutsche Bürger und Unternehmen in Aktivitäten in Deutschland. Weltweite Betrachtungen kommen fast nicht vor. Es lässt sich nachvollziehen, woher dieser Impuls kommt. In einer globalen Welt, in der die USA, Russland und China den Ton angeben, kann man aus Europa heraus politisch nicht viel bewirken. Schon gar nicht mit dem neuen US-Präsidenten und in Zeiten von Brexit und Corona. Plakative, sichtbare Entscheidungen – wie das Schließen von Atomkraftwerken – kann man, wenn überhaupt, nur zu Hause treffen, in der eigenen Demokratie vor Ort. Politisch hat man sich dann sichtbar durchgesetzt. Allerdings sollte jedem klugen Kopf auffallen, dass das, was man dann zu Hause bewirkt, in Bezug auf die Weltklimasituation fast keine Auswirkungen hat. Denn die wirklichen Wachstumsprozesse bezüglich CO2 passieren in den Entwicklungs- und Schwellenländern. China hat das mit seinem exorbitanten Wirtschafts- und CO2-Wachstum vorgemacht. Die Folge sind chinesische CO2-Emissionen, die heute größer sind als diejenigen der USA, Europas und Japans zusammen. Heute verfolgen Indien und der afrikanische Kontinent ähnliche Wachstumspläne wie China, und das in einem Umfeld, in dem die Bevölkerung noch viel größer ist als diejenige in China, vor allem durch das exorbitante Bevölkerungswachstum in Afrika. Hier wird sich die Bevölkerung in 30 Jahren verdoppeln. Entwicklungsminister Gerd Müller fragt angesichts dieser Situation, ob noch verhindert werden kann, dass Afrika ein »schwarzer« Kontinent wird. Damit meint er, ob verhindert werden kann, dass in Afrika 500 neue Kohlekraftwerke entstehen, um alle Afrikaner an das Stromnetz anzubinden, was fast schon ein Menschenrecht ist – dies auch im Sinne der Agenda 2030, der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Es spricht aktuell viel dafür, dass die CO2-Emissionen in Indien und seinen Nachbarländern und auf dem afrikanischen Kontinent bis 2050 um insgesamt zehn Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr wachsen werden. Das ist mehr, als für die ganze Weltbevölkerung im Jahr 2050 in Verbindung mit dem 2-°C-Ziel noch zulässig ist. Die Corona-Pandemie könnte allerdings zur Folge haben, dass das nicht passiert. Die Armut in großen Teilen der Welt wird nicht überwunden. Die Klimasituation würde dann ein weiteres Mal zulasten der ärmeren Teile der Welt stabilisiert, denen eine faire Partizipation an weltweitem Wohlstand weiterhin vorenthalten würde. Wir alle würden aber mit einem nach wie vor hohen Bevölkerungswachstum in diesen Ländern konfrontiert werden, dessen Folgen nicht absehbar sind. Zur Historie Schaut man sich das aktuelle Scheitern der Klimapolitik an, drängt sich die Frage auf, wie die Weltgemeinschaft in diese Situation gekommen ist. Wann haben die Staaten der Welt an welchen Stellschrauben politisch mögliche Optionen nicht genutzt? Schaut man in die internationalen Debatten zu Umwelt-, Ressourcen- und Klimaschutz, zu Wachstum und nachhaltiger Entwicklung, ist ein wichtiger Ausgangspunkt die erste Weltumweltkonferenz 1972 in Stockholm. Es war die Zeit, in der der Club of Rome seinen legendären Bericht Grenzen des Wachstums publiziert hat. Die erste Weltumweltkonferenz scheiterte, weil die damalige junge indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi im Namen der sich entwickelnden Länder gegenüber den Industrieländern unmissverständlich klarmachte, dass für die ökonomisch zurückliegenden Länder Entwicklung erste Priorität hat, nicht Umweltschutz. Nachholende Entwicklung war das Ziel und ein Wohlstand, wie die Industrieländer ihn vorlebten. Indira Gandhi hat nachvollziehbar argumentiert, dass der Reichtum der Industrieländer auf wenig nachhaltige Weise entstanden ist. Es gilt noch heute: Wenn man den Entwicklungs- und Schwellenländern verbieten würde, ihr...