E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Nassehi / Felixberger / Anderl Kursbuch 216
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-96196-328-7
Verlag: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Passt euch an!
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-96196-328-7
Verlag: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Anpassung" hat einen schlechten Ruf. Die Angepassten passen sich an, statt selbst Akzente zu setzen. Es ist fast ein Schimpfwort, fast ein Synonym für Feigheit, auf jeden Fall für Passivität. Das Kursbuch fordert deshalb: Passt Euch an! Denn Anpassung ist nur auf den ersten Blick etwas Passives. Fast alle Beiträge dieses Kursbuchs weisen darauf hin, dass Anpassung ein höchst komplexer Vorgang ist. Dabei wird deutlich: Wir sind immer schon angepasst! Und selbst wenn wir aktiv auf die Dinge zugreifen, gerade nicht angepasst sein wollen, bedarf es der Anpassung an die Verhältnisse. Ohne adaptives Verhalten und adaptive Strategien keine Überwindung von Anpassung.
Deutlich sichtbar im Beitrag von Joachim Müller-Jung, der die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Anpassungsmöglichkeiten an Klimawandelfolgen auslotet. Frauke Kreuter wiederum fragt, wie sich Künstliche Intelligenz und die Gesellschaft zueinander verhalten. Hans-Otto Thomashoff zeigt, dass Konflikte, binäre Schemata, Freund/Feind-Unterscheidungen, überhaupt soziale Interaktion stets mit gegenseitigen Anpassungsleistungen zu tun haben, die sich derart stabilisieren können, dass es daraus keinen Ausweg gibt. Sibylle Anderl macht auf nicht-lineare Formen der Ordnungsbildung aufmerksam, auf Feedback-Schleifen und darauf, dass es evolutionär geradezu naturgesetzlich zu Komplexitätssteigerungen kommt.
Die Paläoklimatologin Madeleine Böhme zeigt schließlich, dass es in der Erdgeschichte schon öfter Erwärmungsphasen gegeben hat – und wie sich diese zu der gegenwärtigen Menschengemachten verhalten. Die Intermezzo-Frage lautete diesmal Wie angepasst sind Sie? Antworten von Katharina Berger, Juliane Engel, Suzanna Randall, Irmhild Saake Philipp Staab und Olaf Unverzart.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Sibylle Anderl
Bis es kippt
Über nichtlineare, komplexe Anpassung in Systemen Ständig sollen wir uns anpassen. An das sich verändernde Klima, an neue Zielgruppen, sich verändernde Weltlagen, schnellere Arbeitsrhythmen. Gott sei Dank sind nicht nur wir betroffen. Unsere Umwelt ist mit ähnlichen Erwartungen konfrontiert. Büros sind so geplant, dass sie sich an wechselnde Homeoffice-Besetzungen und variierende Arbeitskontexte anpassen können, wir erwarten von unserem Streamingdienst, dass er sich an die Entwicklung unseres Geschmacks anpasst, und bei meiner Topfpflanze hoffe ich, dass sie sich an meine individuellen Gießroutinen anpassen kann. Das ist alles nicht selbstverständlich. Und dass wir die Möglichkeit der Anpassung oft ganz unkritisch voraussetzen, sagt einiges über unsere Art des Denkens aus. Denn wenn wir erwarten, dass eine kleine Änderung der äußeren Bedingungen auch eine nur kleine Änderung aufseiten des darin existierenden stabilen Systems als Anpassung erfordert (das sollte ja wohl möglich sein!), dann ist dieses Denken linear – und damit sehr typisch für unsere menschliche Grundstrategie der Weltdeutung seit der naturwissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert. Ursachen haben demnach klar vorhersagbare Wirkungen, und Wirkungen sind zu ihren Ursachen proportional. Dass es in Wirklichkeit nicht so einfach ist, sehen wir allein daran, dass Topfpflanzen bisweilen doch eingehen, wenn man es mit der Gießflexibilität übertreibt, dass der Streamingdienst nicht mitkommt, wenn sich unser Geschmack zu abrupt ändert, dass T-Shirt-Bündchen ausleiern, wenn man sie überdehnt, und Menschen manchmal aus heiterem Himmel kündigen, wenn eine Kleinigkeit ihre Arbeitnehmergeduld final überstrapaziert. Derartige Katastrophen beruhen auf Nichtlinearität. Kleine Ursachen können manchmal und auch unvorhergesehen große, ja dramatische Folgen haben. Von Anpassung kann man dann nicht mehr sprechen. Brücken brechen, der Hefeteig kollabiert, der See kippt um. Auf der anderen Seite ist Nichtlinearität aber die Grundlage, dass Anpassung überhaupt möglich ist, denn nur wenn Systeme ausreichend komplex sind, können sie ihre interne Organisation variieren und so umstellen, dass sie in einer veränderten Umgebung weiterexistieren können: Komplexe, nichtlineare Systeme haben viele kausal wirksame Komponenten, die untereinander in Wechselwirkung stehen und sich bei Bedarf untereinander auch funktional ersetzen können. Nichtlineare Dynamik Die Wissenschaft, die man braucht, um diese komplexen Systeme und ihr Verhalten zu verstehen, ist die nichtlineare Dynamik, die in enger Verwandtschaft zur Chaostheorie steht. Typisch für die von ihr behandelten Systeme sind Rückkopplungen, die komplexes Verhalten hervorbringen können: koexistierende Kaninchen und Schafe etwa, deren Populationen bei ausreichendem Futterangebot exponentiell wachsen, bis relevant wird, dass sich die Tiere (Artgenossen wie fremde Tiere) gegenseitig das Gras wegfressen. Die Populationen werden daraufhin wieder dezimiert, was sich wieder auf das Nahrungsangebot auswirkt: Das Gras reagiert auf die Tiere, und die Tiere reagieren auf das Gras – und aufeinander sowieso. Ein anderes, hübsches Beispiel für Feedbackschleifen sind Beziehungsdynamiken, die erstmalig im Rahmen der nichtlinearen Dynamik 1988 vom Mathematiker Steven Strogatz beschrieben wurden. Das Modell funktioniert etwa so: Romeo und Julia sind ein Paar. Aber je mehr Romeo Julia seine Liebe ausdrückt, desto stärker wächst bei ihr der Impuls, der Nähe auszuweichen. Wenn Romeo irgendwann frustriert sein Werben einstellt, findet Julia ihn wieder attraktiv – so lange, bis Romeo sich darauf einlässt und wieder ihre Nähe sucht. Nichtlineare Systeme prägen dynamische Muster aus, in diesem Beispiel etwa das ewige Oszillieren zwischen Phasen der Liebe und verschiedenen Varianten der Beziehungskrisen, sofern Romeo und Julia nicht irgendwann einen beiderseitig emotionslosen Zustand erreichen, der ebenfalls ein stabiler Zustand ihres Pärchensystems wäre.1 Abhängig von der Anzahl der relevanten Systemvariablen (im ersten Beispiel die Populationsgrößen von Schafen und Kaninchen, im zweiten die Stärke der Liebe/Abneigung von Romeo und Julia) und der Parameter (im ersten Beispiel Reproduktionsraten und Erfolgswahrscheinlichkeit im direkten Konflikt um Grashalme für Kaninchen und Schafe, im zweiten die jeweilige Reaktion auf die Liebe des anderen) sowie von den konkreten Parameterwerten können solche nichtlinearen Systeme im Laufe der Zeit ein überaus vielfältiges Verhalten entwickeln. Es vorauszuberechnen, kann sehr schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Durch positives Feedback können kleine Variationen in den Anfangsbedingungen sehr schnell massiv verstärkt werden. Eine Zerlegung des Systems in seine Einzelteile zum besseren Verständnis ist, anders als bei linearen Systemen, aufgrund der Wechselwirkung der Einzelteile untereinander kaum möglich. »Das Gesamtsystem ist mehr als die Summe seiner Teile«, so die Beschreibung nichtlinearer Systeme. Die nichtlineare Dynamik wählt daher einen anderen Weg als die quantitative Berechnung der Systeme: Sie schaut, wie sich diese Systeme qualitativ verhalten. Der erste Schritt ist die Suche nach stabilen oder instabilen Gleichgewichten. Bei den Kaninchen und Schafen etwa gibt es (im einfachsten Fall) zwei stabile Situationen: Wenn es nur Schafe oder nur Kaninchen gibt, wird sich deren Population auf das konstante Nahrungsangebot einstellen. Und wenn sich auf eine Weide mit stabiler Population ein Paar der jeweils anderen Spezies verläuft, wird es nicht lange dauern, bis es gestorben ist und die dominante Spezies den Platz wieder für sich allein hat. Anders ausgedrückt: Es gibt ein bestimmtes kritisches Verhältnis von Kaninchen zu Schafen. Wenn es mehr Kaninchen gibt, werden die sich durchsetzen, andernfalls die Schafe. Wenn das Verhältnis aber genau dem kritischen Wert entspricht, dann können beide Spezies koexistieren. Sobald das Verhältnis nur leicht von diesem Wert abweicht, ist wiederum eine von beiden Spezies dem Untergang geweiht. Das Gleichgewicht ist instabil. Der nächste Schritt der Analyse besteht darin, zu fragen, wie diese Gleichgewichte auf Veränderungen bestimmter Parameter reagieren. Das Gleichgewicht »nur Schafe« könnte beispielsweise instabil werden, wenn die Kaninchen sich plötzlich sehr viel schneller vermehren würden. Dann würden vielleicht schon wenige eingewanderte Kaninchenpaare ausreichen, die Dominanz der Schafe zu brechen und ein Kaninchenimperium zu etablieren. Die Änderungen der Eigenschaften von Fixpunkten unter Veränderung bestimmter äußerer Bedingungen werden als Bifurkationen bezeichnet. Ein vorher stabiles System kann plötzlich instabil werden und in einen ganz anderen Gleichgewichtszustand übergehen – ein Phänomen, das dem bereits erwähnten linearen Denken (»kleine Änderung, kleine Anpassung«) grundsätzlich widerspricht. Tatsächlich kann man solche Reaktionen nichtlinearer Systeme auf äußere Änderungen mit etwas gutem Willen bereits als Anpassung (oder gescheiterte Anpassung) bezeichnen. Die nichtlineare Dynamik kann ein Verständnis liefern, wann Änderungen externer Umstände zu Bifurkationen, zu plötzlichen dramatischen Systemänderungen, führen und wann ein System weiterhin in einem leicht angepassten Gleichgewicht existieren kann. Anpassung im engeren, aus der Biologie entlehnten Sinne erfordert allerdings noch mehr: Ein System muss ein potenziell so variables und variantenreiches Verhalten aufweisen können, dass sich angesichts von Umweltveränderungen evolutionäre Vorteile gegenüber anderen Systemen ergeben können. Eine solche Anpassung im engeren Sinne erfordert die nötige Komplexität. Komplexität und Chaos Wenn man sich das Beispiel einer reinen Kaninchenpopulation anschaut, die sich bei gegebenem Nahrungsangebot auf eine bestimmte Größe einstellt, ist das System zwar nichtlinear, aber gleichzeitig nicht besonders vielfältig: Man landet bei einer konstanten Populationsgröße, und das Gras wird immer gleichmäßig abgefressen. Ähnliches gilt für das Beispiel von Romeo und Julia: Eine packende Soap mit vielen Staffeln wird sich aus deren zyklischem Beziehungsverhalten nicht konstruieren lassen. Viele nichtlineare Systeme besitzen aber bestimmte Kontrollparameter, deren Veränderung dem Verhalten des Systems zu deutlich größerer Vielfalt verhelfen kann. Im Beispiel der Kaninchen ist das deren Reproduktionsrate: der Faktor, um den sich die Größe der Nachfolgegeneration von derjenigen der Vorgängergeneration unterscheidet, sofern es keinen Mangel an Nahrung gibt. Wenn eine Reproduktionsrate immer größer wird, die Kaninchen also – vielleicht aufgrund nahrhafteren Futters – immer fruchtbarer werden, kommt es zu einer Bifurkation. Plötzlich springt die Populationsgröße abwechselnd zwischen zwei Werten hin und her: Eine Generation hat mehr Nahrung, als sie eigentlich brauchen würde, und vermehrt sich dadurch stark. Die Folgegeneration ist wiederum für das bestehende Nahrungsangebot zu zahlreich, wodurch sie weniger Nachkommen produziert. Bei einer weiteren Zunahme des Reproduktionsparameters kommt es zu immer neuen Bifurkationen dieser Art. Das Verhalten des Systems, das durch die berühmte logistische Gleichung beschrieben wird, wird schließlich beim Überschreiten eines kritischen Parameterwertes chaotisch: Es lässt sich nicht mehr vorhersagen, bei welcher Größe eine Population enden wird, die Werte springen beliebig hin und her. Das ist genau die Stelle, an der sich komplexes Verhalten findet: Es hält sich an der Grenze zwischen Regularität und Chaos auf, zwischen...