Ausnahmezustand Normalität
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-96196-247-1
Verlag: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gemeinsam ist allen Beitra¨gen, dass sie sich nicht auf das Spiel einlassen, den Ausnahmezustand durch eine wie auch immer geartete Normalita¨t heilen zu wollen. Horst Bredekamp etwa pocht auf den Ausnahmezustand, den das a¨sthetische Erleben hervorbringen kann, Carolin Mu¨ller-Spitzer macht deutlich, dass die Herstellung sprachlicher Normalzusta¨nde eine Machtfrage ist, Leonhard Schilbach zeigt am Beispiel des Autismus, wie kontingent Vorstellungen sozialer Normalita¨t sind, Sibylle Anderl macht auf den revisionsfa¨higen Status aller normalwissenschaftlichen Selbstversta¨ndlichkeiten aufmerksam. Und Levi Israel Ufferfilge beschreibt an ju¨dischen Schulen einen drastischen Fall eines Ausnahmezustands Normalita¨t als Insel in permanentem Anderssein. Die sieben Intermezzi beantworten schließlich die Frage: »Wann wurde fu¨r Sie aus einem Ausnahmezustand Normalita¨t?« Antworten von Gerhard Roth bis Ethel Matala de Mazza.
Autoren/Hrsg.
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Levi Israel Ufferfilge
»War nie weg, wird immer sein«
Von den Normalitäten jüdischen Lebens und des Antisemitismus in Deutschland Ich starrte meine Finger an, die gespreizt auf zehn Tasten meines Laptops warteten, dass ich ein weiteres Wort schreiben würde. Sie zitterten beinahe unmerklich. Mein Blick wanderte von meinen Fingern zu einem Wassertropfen, der sich am unteren Bildschirmrand bildete. Es war, als würden sich immer mehr Tropfen auf dem Laptop formen. Ein Schleier seichter Wellen schob sich von unten nach oben über die weiße Seite digitalen Papiers, das meine nun merklich bebenden Finger zu beschreiben suchten. Ich tippte »verabschieden« und schluckte angestrengt. Dabei stürzte sich Schmerz meine Kehle und die seichten Wellen auf meinem Bildschirm als Tränen meine Wangen hinunter. Ich hatte meine Oma, die Frau, die mich großgezogen hatte, der ich alles zu verdanken, zu der ich aufgesehen hatte, die weise war, die ein letztes Überbleibsel einer alten Welt war, die gütig war, der ich stets vertraut, alles anvertraut hatte, die mich beschützt und auf jede Weise unterstützt hatte, die ich geliebt hatte – ich hatte sie verloren. Ich hatte sie verabschieden müssen aus dieser Welt. Ich hatte die letzten Wochen ihres Lebens neben ihr am Bett, auch neben ihr auf dem Bett verbracht. Wir hatten uns alles noch einmal erzählt, gelacht, geweint, zusammen Musik gehört, ferngesehen. Ich habe ihr vorgelesen und sie hat mir noch so viele Weisheiten wie irgend möglich mitgeben wollen. Was meine Welt ins Wanken brachte und ihre Welt erlöschen ließ, mochte etwas sein, was nicht überraschend kam, was nicht ungewöhnlich war; es mochte etwas sein, was Abertausende Male in jedem Moment irgendwo auf der Erde geschah. Doch hinter meinen verweinten Augen in meinem Bewusstsein gab es nur noch Gedanken um diesen einen Menschen. Ich saß im Zug, hatte noch schnell aus meiner Wohnung einen schwarzen Anzug für die Beerdigung meiner Oma geholt. Auf dem Weg wollte ich die Trauerrede für sie schreiben. Ich konnte mir kaum Worte abringen. Mein Kopf spielte pausenlos mehrere Kindheitserinnerungen an sie zugleich ab – derart lebendige Fragmente aus früheren Zeiten mit ihr, dass ich mich so fühlte, als wäre ich gerade fünf Jahre, neun Jahre, zwölf Jahre und 20 Jahre zur selben Zeit. Ich nahm meine Brille ab und rieb mir erschöpft die Augen. Ich schaute durch das Fenster auf die vorbeiziehende, nun umso verschwommenere Julilandschaft, die so harmonisch grün und bunt aussah, dass ich es kaum ertragen konnte. Ich brauchte dringend einen Schlag kaltes Wasser ins Gesicht, um klarere Gedanken zu bekommen und den Hesped, also die Trauerrede für meine Oma, noch fertig zu bekommen. Die Beerdigung würde in nur wenigen Stunden stattfinden. Ich setzte also meine Brille wieder auf und ging in meinen Erinnerungen verloren zur nächsten Toilettenkabine im Wagen. Eine Frau wartete dort bereits darauf, sie benutzen zu können. Ich stellte mich also in diese nur zweigliedrige Schlange und wartete auf das kalte Wasser zum Aufwachen aus der Vergangenheit, zum Wieder-zu-mir-Kommen. Die Frau musterte mich mitleidlos. »Sie müssen nicht hier mit mir warten!«, wies sie mich an. »Es gibt noch mehrere andere Toiletten im Zug. Sie können einfach weitergehen.« »Schon gut, ich kann warten«, entgegnete ich kraftlos. »Ich möchte aber nicht mit Ihnen hier warten, ist das klar? Ich möchte, dass Sie gehen. Ja? Leute wie Sie … Ihre Leute bringen nur Unglück über uns.« »Unglück?«, fragte ich irritiert. »Sie haben mich schon verstanden«, zischte die Frau und schaute mich grimmig an, während sie auf meine bestattungsschwarze Kippa im blassen Spiegelbild des Bahnfensters im Gang deutete. »Was!?«, sagte ich leise, aber hörbar, akzentuiert und voll der Trauer und Wut, die sich lang in mir aufgebaut hatten. Ich merkte in mir, dass ich derlei viel Trauer und Wut unmöglich meine Kehle herunterschlucken konnte. Also sah ich vor meinem inneren Auge, wie ich die Frau an ihrer hasserfüllten Kehle packte und nicht etwa gegen die Scheibe der Zugwand drückte, sondern durch sie hindurch, damit diese Frau herausgeschleudert und als Geschoss die fröhliche Julilandschaft dort draußen verwüsten würde. Zugleich aber bildeten sich hinter meinen Lippen Worte, die der Frau erklären würden, wer ich bin, warum ich im Zug bin, welcher absolut wundervolle Mensch meine Oma sel. A. gewesen war und dass sie nun nicht mehr war und ich deshalb Schmerzen in meiner Brust und meiner Kehle, in meinen Augen und meinen Fingern fühlen würde und nicht weiß, wie ich eine Trauerrede für meine Oma schreiben könnte, die ihr auch nur irgend gerecht werden könnte. Das würde diese Frau gewiss verstehen und sich dann dafür entschuldigen, dass sie mich wegschicken wollte und dass sie Juden für Unglücksbringer hält. Doch als sich meine Lippen voneinander zum Sprechen lösten, schluchzte ich überwältigt von dieser Bosheit und weinte. Die Frau hatte genau gesehen, dass ich trauerte. Das Schwarz, die verquollenen Augen, der gedankenverlorene, abwesende Blick, die schutzlose Haltung. Der Frau war es egal, wie es mir ging. Sie schaute mich nicht an wie einen Trauernden. Sie schaute mich gar nicht an. Sie schaute auf mich. Sie schaute auf mich wie auf einen Schädling. »Sie müssen gar nicht so eine Show abziehen. Dafür interessiert sich niemand«, sagte sie kühl und betrat die gerade frei gewordene Toilettenkabine. Ich stand weiterhin im Gang und versuchte, nicht über ihre Worte nachzudenken, mich nicht verletzen zu lassen. Es ging nicht. Ich schaute aus dem Fenster und sah die Worte dieser Frau schwarz auf weißen Wolken. So überwältigt ich von meiner Trauer und von den wiederauferstandenen Erinnerungen meiner Kindheit auch war, so wenig hätte beides besudelt werden dürfen von der Abscheu dieser Frau. Die Frau brauchte seltsam lang. Bald hörte ich sie kichern. Sie öffnete endlich die Kabinentür und sagte grinsend: »Die kann man jetzt leider nicht mehr benutzen. Tut mir leid. Beim nächsten Mal gehst du besser gleich dorthin, wo ihr hingehört.« Sie hatte große Freude aus diesen Sätzen gezogen. Und daraus, den Plastiktütenspender komplett entleert, die Tüten zusammengeknotet und mit ihnen die Toilette verstopft zu haben. Stolz deutete sie mit den Augenbrauen auf ihrem zur offenen Kabinentür geneigten Kopf auf das Chaos, das sie verursacht hatte, damit nicht ein Jude nach ihr die volksdeutsche Toilette benutzen können würde. Ich starrte ihre diabolischen Lachfalten auf ihrer Stirn und über ihren Brauen an und wie klein und schwarz ihre Augen vor Schadenfreude wurden. Mein Kopf zuckte mich aus dem Starren heraus. Ich schaute jetzt durch die Frau hindurch und hörte mich sagen: »Keine Sorge, ich wollte nur einen Schlag Wasser ins Gesicht.« Ich ging in die Kabine, wusch mein Gesicht und betrachtete mein nasses, verheultes Gesicht im Spiegel. Ich sah armselig aus. Die Wochen am Sterbebett meiner Oma hatten mich allen Schlaf gekostet. Ich sah übermüdet und kraftlos aus. Zum ersten Mal in meinem Leben war die Haut unter meinen Augen blau, meine Wangen waren eingefallen. Vor allem aber sah ich vulnerabel aus; ein einfaches Opfer für jene Frau. Ich schaute auf das Chaos, das die Frau angerichtet hatte. Mich packte die Wut. Das hätte am Tag der Beerdigung meiner Oma nicht passieren dürfen! Ich trat gegen die verdammte Toilette und schrie gegen die Tür: »Das ist doch nicht normal! Das ist doch nicht normal! Sie sind doch nicht normal, so etwas zu machen! So etwas zu sagen! Ich bin doch ein Mensch. Ich bin doch ein Mensch!« Ich hoffte, dass die Frau noch auf der anderen Seite stehen würde. Niemand antwortete mir. Es war der Tag, an dem meine Oma ihren letzten Weg nicht mehr selbst gehen, sondern dabei getragen werden würde. Welchen langen Weg sie gegangen war. 87 Jahre lang. Wie sehr sich dieses Land, diese Gesellschaft auf diesem Weg geändert hatte. Hätte ändern müssen. Doch am letzten Tag ihres Weges durfte noch eine bösartige Frau auftreten, angreifen, so als hätte es gar keine Veränderung gegeben. Meine Oma hatte es verdient, dass ihre Welt am letzten Tag besser endete, als sie begonnen hatte. Aber dieser Illusion war ich beraubt worden. Die schlechten Dinge im Leben meiner Oma, auch in meinem Leben waren beständig. Keine Geschichte der Progression, sondern der Kontinuität. »Das ist normal«, sagte ich mehrmals vor mich hin. So, als sei mir ein Licht aufgegangen. Dieser Hass, diese Bosheit, diese menschliche Leere uns Juden gegenüber sind noch immer derart verbreitet, für zu viele Menschen noch immer selbstverständlich. Dieses Empfinden ist für sie normal. Und es ist Teil meiner Normalität, dass sie mir damit begegnen, sobald sie mich als Juden erkennen. Ich setzte mich zurück an meinen Platz und vor meinen Laptop. Meine Oma musste das immer gewusst haben, dachte ich. Ich holte tief Luft und atmete das Erlebnis mit der Antisemitin aus. (Sie wird uns am Ende noch einmal begegnen.) Antisemitismus ist normal? Dieses Erlebnis fiel mir als erstes unter dem Stichwort »Normalität« eines jüdischen Daseins in Deutschland ein. Ich verliere herzlich selten die Fassung; wohl deshalb höre ich mich noch immer in dieser Toilettenkabine schreien: »Das ist doch nicht normal!« War diese Frau normal? In den ersten Jahren, in denen ich offenen Antisemitismus erfahren hatte – da war ich ein junger Teenager –, nahm ich an, jeder Antisemit müsste ein psychisches Problem haben. Eine solche Person konnte nicht geistig gesund sein. Viele Antisemiten begegneten mir derart verhaltensauffällig, dass ich sehr lang diese Haltung vertrat. Doch mit den...