E-Book, Deutsch, 270 Seiten
Nanasaki Bis wir uns fanden - Japans erstes schwules Ehepaar - Roman
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-646-72652-7
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Berührende autobiografische Geschichte eines japanischen LGBTQ-Aktivisten!
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-646-72652-7
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
2016 heiratete Ryousuke Nanasaki seinen Ehemann - diese Hochzeit sollte die erste religiös anerkannte gleichgeschlechtliche Hochzeit Japans werden. Noch heute gehört Ryousuke zu den einflussreichsten LGBT-Aktivist*innen Japans - dies ist seine Geschichte. In diesem berührenden autobiografischen Roman erzählt Ryousuke über seine Erfahrungen als schwuler Mann in Japan. Die tiefen Einblicke in sein Seelenleben erzählen von vorsichtigen Erkenntnissen in der Kindheit, zarten Schwärmereien, peinlichen Date-Momenten und vielen schmerzhaften Erlebnissen. Ein wichtiges Buch, dessen Erzählkraft vielen Menschen Mut und Hoffnung gibt. Parallel dazu veröffentlicht HAYABUSA auch die Manga-Adaption von Yoshi Tsuzuki, das die wichtigsten Eckpunkte aus Ryousukes Biografie aufgreift und in wundervolle Bildern umsetzt.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel – Ich bin nicht normal? Das gibt noch viel Ärger! Ein »normaler« Junge Fragte man mein Umfeld, so war ich ein »normaler Junge«. Ich war in Hokkaido geboren und aufgewachsen. Vor dem Wohnblock, in dem ich damals wohnte, befand sich ein kleiner Park, in dem sich die Kinder der Nachbarschaft versammelten. Im Park gab es eine Schaukel, die für vier Personen gedacht war, und wenn man bis zum Anschlag schaukelte, machte sie laut »Klack«. Deshalb nannten wir den Park »Klack-Park«. Mein Lieblingsspiel hieß: »Hab dich!« Eine Version von Dosen-Versteckspielen, die ohne Dose gespielt wurde. Statt die Dose zu treten, rief man »Hab dich!« und musste eine Straßenlaterne berühren. Wenn der Winter kam, waren die Geräte auf dem Spielplatz immer unter einer dicken Schneeschicht begraben. Jeder spielte auf seine Weise damit, grub darin oder sprang vom Dach des Fahrradschuppens, um in einen Schneehaufen einzutauchen. Für uns, die in Hokkaido geboren waren, war ein großer Haufen Schnee ein Spielgerät, das ausschließlich in dieser Jahreszeit verfügbar war. Ich war ein normaler Junge, der gerne draußen spielte. Das stand nie zur Debatte. Doch wenn es um Sport ging, sah es ganz anders aus. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter waren Sportskanonen. Mein Vater war sogar Vorstandsmitglied in einem unternehmenseigenen Sportverein mit olympischen Disziplinen. Meine Mutter hatte bis in ihre Studienzeit Sport getrieben und war eine leidenschaftliche Wettkämpferin. Die beiden hatten wohl einen starken Ehrgeiz und waren selbst jenseits der 50 noch sehr enthusiastisch dabei. Schon vor meiner Geburt hatten sich meine Eltern gesagt, dass sie gerne einen Jungen als erstes Kind hätten. Außerdem war klar, dass dieser Sohn zu einem Sportler gemacht werden sollte. Als ich in die Grundschule kam, stand mein Vater auch an freien Tagen früh auf, um mit mir Ballfangen wie beim Baseball zu spielen. Ich hasste es. Wenn ich die Handschuhe dafür trug, scheuerten meine Finger auf und sie stanken irgendwie. An meinen freien Tagen floh ich deshalb immer vor meinem Vater. Aber wenn er mich dann doch gefunden hatte, rief er mir strahlend entgegen: »Ryousuke, lass uns Ball spielen!« Lehnte ich diese Einladung ab, sah mich meine Mutter traurig an und sagte: »Ich bitte dich, Ryousuke. Dein Vater hat sich schon vor deiner Geburt darauf gefreut, mit seinem Sohn Ball spielen zu können.« Danach konnte ich natürlich nicht mehr Nein sagen und zog niedergeschlagen die Handschuhe über meine Finger. Diese brandneuen und immer noch unbenutzten Handschuhe, die mein Vater irgendwann mal gekauft hatte. Da ich keine Lust darauf hatte, konnte das natürlich nicht gut gehen. Als meine Eltern das erkannten, probierten sie es mit Fußball. Danach kam Schwimmen, und als auch das nicht funktionierte, ließen sie mich Kampfsport und viele andere Sportarten ausprobieren. Aber ich enttäuschte meine Eltern wieder und wieder. Ich war damals in der Grundschule. Ungefähr zu dieser Zeit begannen meine Mitschüler damit, mich Schwuchtel zu nennen. Anscheinend war mein Benehmen, also wie sich beispielsweise meine Arme bewegten, wenn ich rannte, oder wie ich meine Beine beim Sitzen anwinkelte, mädchenhaft, auch wenn mir das selbst nicht bewusst war. Und mädchenhafte Jungs waren offenbar Schwuchteln. Ich war natürlich nicht begeistert davon, Schwuchtel genannt zu werden, aber wenn ich mich von Natur aus mädchenhaft verhielt, dachte ich, könnte ich halt nichts daran ändern, so genannt zu werden. Also unternahm ich nichts. Unangenehm wurde es, als meine Eltern und meine Lehrer ein großes Ding daraus machten. Ich fing an, mich deshalb schlecht zu fühlen. Mir war zwar egal, wie ich genannt wurde, aber ich bekam immer mehr Angst, dass auch andere Erwachsene davon erführen. Das prägte meinen Schulalltag bis zu einem Tag in der 2. Klasse, als etwas geschah, was mir schlagartig bewusst machte, dass ich eben doch nicht normal war. Es war während der Abschiedsrunde, die wir vor Schulschluss mit unserer Klassenlehrerin hatten. Sie sagte: »Ryousuke, kannst du mal nach vorne kommen?« Unsere Klassenlehrerin war eine ältere, freundliche Dame, die immer ein Lächeln auf den Lippen trug. Aber in diesem Moment war kein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Ich war zwar überrumpelt, kam ihrer Bitte aber nach und stellte mich an ihre Seite. Ich schaute in die Gesichter der gesamten Klasse. Verwundert blickten mich meine Mitschüler an. Da fiel mir ein, dass es schon mal ein Kind gegeben hatte, das bei der Abschiedsrunde nach vorne gerufen worden war. Damals hatte unsere Lehrerin verkündet, dass das Kind die Schule wechseln würde. Daher dachte ich zu diesem Zeitpunkt, dass auch ich die Schule wechseln müsste. Meine Lehrerin legte jedoch eine Hand auf meine Schulter und fragte die Klasse: »Ist Ryousuke eine Schwuchtel?« Mein Herz blieb stehen und ich spürte, wie mein Bewusstsein komplett abdriftete. Der Klassenraum war grabesstill und alle starrten mich schweigend an. Aber ich war zu nichts anderem fähig, als den Kopf zu senken und den Boden anzustarren. Meine Lehrerin wiederholte: »Ist Ryousuke eine Schwuchtel? Ich denke, dass er ein ganz normaler Junge ist. Also … wieso nennen ihn dann alle so?« Würde ich der Lehrerin lachend sagen, dass es mir egal sei, und an meinen Platz zurückkehren, wäre es vielleicht so, als wäre nichts geschehen. Die Klasse würde ruhig bleiben. Würde ich jedoch nachgeben und schniefen, würde die ganze Klasse merken, dass ich weinte. Also biss ich die Zähne zusammen und starrte nach unten. Aber die Tränen liefen mir über die Wangen und tropften auf die kalten Fliesen. Ich war jämmerlich. Armselig. Erbärmlich. Es war meine Schuld, dass sich meine Lehrerin und die Klasse solche Umstände machten. Nur mein unterdrücktes Schluchzen hallte im Klassenzimmer wider. Die Lehrerin strich mir über den Rücken. »Was meinst du, Kikuchi? Ist Ryousuke eine Schwuchtel?« Kikuchi dachte einen Moment nach, bevor sie antwortete. »Ich finde nicht, dass er eine Schwuchtel ist.« Natürlich sagte sie das, ihr blieb ja nichts anderes übrig. Davon verleitet schloss sich ein weiteres Kind an. »Ich finde auch, dass Ryousuke ein ganz normaler Junge ist!« Und so argumentierten meine Klassenkameraden laut dafür, dass ich keine Schwuchtel sei, und kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass ich ein normaler Junge war. Ich konnte ihnen da nicht zustimmen. Denn wenn ich tatsächlich ein normaler Junge gewesen wäre, hätte das gar nicht erst zur Diskussion gestanden. Wenn ich mich verhielt, wie es für mich normal war, war ich komisch. Ich war eine Schwuchtel. Daher musste ich mich seitdem darum bemühen, mich wie ein normaler Junge zu benehmen. Die Lehrerin zog folgenden Schluss daraus: »Lasst uns aufhören, ihn Schwuchtel zu nennen.« Aber ich konnte mir selbst gegenüber nicht gnädig sein. Ich war ein erbärmliches, jämmerliches Ding, das einfach verschwinden sollte. Doch die Lehrerin zeigte mir dasselbe Lächeln wie immer. »Hey, ist doch alles wieder okay!« Die magische Kriegerin und der Weihnachtsmann Bei mir war seitdem überhaupt nichts mehr okay. Meine Lehrerin hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich seltsam war. Ich überlegte rund um die Uhr, wie ich mich am besten wie ein normaler Junge verhalten konnte. Wenn ich lief, wenn ich saß, wenn ich sprach, dann heuchelte ich den Menschen um mich herum den normalen Jungen vor. Nur bei meinen liebsten Zeichentrickserien und meinen Hobbys konnte ich mich einfach nicht von dem trennen, was ich mochte. Meinen Lieblings-Anime über die magische Kriegerin Mika, konnte ich dank meiner drei Jahre jüngeren Schwester Shi mitgucken. Aber weil es ein Anime für Mädchen war, verriet ich niemandem, wie sehr ich ihn liebte. Mir war bewusst, wie enttäuscht meine Eltern sein würden, wenn ich ihn mal allein guckte. Aber da war etwas, was ich um jeden Preis haben wollte: Den Zauberstab, den Mika benutzte, wenn sie ihre Feinde angriff. In Spielzeugform. Was würden meine Eltern sagen, wenn sie erfuhren, dass ich mir den wünschte? Was würden sie über mich denken? Das machte mir so große Angst, dass ich meine Gefühle tief in meinem kleinen Herzen versteckte. Allerdings hatte ich mir einen geheimen Plan ausgedacht, mit dem ich das Mika-Spielzeug doch in die Hände bekommen könnte! Bald war Weihnachten. Und zu Weihnachten kam der Weihnachtsmann – ein lieber alter Herr – und schenkte einem das, was man sich am allermeisten wünschte. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um diese einmalige Chance zu nutzen. Anfang Dezember wurde auch bei uns in der Wohnung ein kleiner Weihnachtsbaum aufgestellt. Jeden Morgen nach dem Aufstehen kniete ich mich vor ihn, faltete die Hände und betete. »Ich will Mikas Zauberstab! Ich möchte Mikas Zauberstab, Herr Weihnachtsmann, bitte, bitte!« Natürlich habe ich das nicht laut gesagt, sondern nur daran gedacht. Ich glaubte daran, dass mein Wunsch den Weihnachtsmann durch den Baum erreichen würde. Meine Mutter wirkte in dieser Zeit gestresst. Tagelang fragte sie mich »Was hast du dir vom Weihnachtsmann gewünscht?« oder sagte »Ich werde dem Weihnachtsmann weitergeben, was du dir wünschst!«. Aber trotzdem erwähnte ich es mit keinem Wort. Ich wollte sie nicht traurig machen, weil ich mir ein Mädchenspielzeug wünschte. »Mach dir keine...




