Nalkowska / Nalkowska | Medaillons | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Nalkowska / Nalkowska Medaillons


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7317-6205-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6205-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Medaillons', das sind acht Begegnungen mit Opfern und Handlangern des Nationalsozialismus: Eine Frau befreit sich mühsam aus dem fahrenden Viehwaggon, stolpert über die Gleise und wird auf der Flucht angeschossen. Wie im Traum nimmt sie wahr, dass Menschen um sie herum sich zögerlich fragen, ob sie ihr helfen oder sich lieber in Sicherheit bringen sollen. Eine andere, die für die Ausrottung der Juden Verständnis hat, weil sie deren Hass auf die Polen mehr als die Nazis fürchtet, hört beim Blumengießen auf dem Warschauer Friedhof, wie die verzweifelten Stimmen der im Ghetto Eingeschlossenen zu ihr dringen. Mitarbeiter eines Labors finden nichts dabei, dass ihr deutscher Vorgesetzter aus Menschenknochen Seife herstellt. Es sind Geschichten des Grauens, die eine Beobachterin in einer zugleich glasklaren und poetisch dichten Sprache einfängt. Sie selbst hält sich im Hintergrund und verzichtet auf jegliche Wertung, wodurch sie die geschilderten Verbrechen und Leiden umso intensiver für sich sprechen lässt.Zofia Nalkowskas 1946 erschienene, von Marta Kijowska neu übersetzte und mit einem Nachwort versehene 'Medaillons' gelten als ein Meisterwerk der Miniaturprosa und einer der wichtigsten Texte der polnischen Kriegsliteratur. 'Dieses Schicksal haben Menschen den Menschen bereitet', lautet Nalkowskas Erkenntnis, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren hat.'

Zofia Na?kowska (1884?1954) war die Grande Dame der polnischen Literatur, die bedeutende psychologische Romane schrieb, in Warschau einen berühmten Salon führte und jüngere Schriftsteller wie Witold Gombrowicz und Bruno Schulz förderte. Aus einem gebildeten Elternhaus stammend, studierte sie mehrere Fächer an der sogenannten Fliegenden Universität. Die bekennende Feministin war die einzige Frau in der Polnischen Akademie für Literatur. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie Abgeordnete des polnischen Parlaments und Mitglied einer Kommission zur Untersuchung deutscher Kriegsverbrechen.
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Professor SpannerDer AbgrundDie FriedhofsfrauAm BahndammGrüne DworjaWizaDer Mensch ist starkErwachsene und Kinder in AuschwitzNachwort der Übersetzerin


Professor Spanner

1

An jenem Morgen waren wir dort zum zweiten Mal. Es war ein klarer, kühler Maitag. Vom Meer her wehte ein frischer Wind; er rief etwas in Erinnerung, das Jahre zurücklag. Hinter den Bäumen der breiten asphaltierten Allee stand eine Mauer, dahinter erstreckte sich ein großer Innenhof. Wir wussten bereits, was wir zu sehen bekommen würden.

Diesmal wurden wir von zwei älteren Herren begleitet. Sie waren als Spanners »Kollegen« gekommen – beide Professoren, beide Ärzte und Wissenschaftler. Der eine hochgewachsen, grauhaarig, mit schmalem, edlem Gesicht, der andere genauso groß, aber beleibt und schwer. Sein volles Gesicht drückte Gutmütigkeit und eine Art Besorgnis aus.

Sie waren ähnlich gekleidet, aber nicht auf unsere Art, eher provinziell – in lange schwarze Frühlingsmäntel aus guter Wolle. Auf den Köpfen trugen sie weiche schwarze Hüte.

Etwas abseits, in einer Ecke des Hofs, stand ein bescheidenes, unverputztes Backsteinhäuschen – der unbedeutende Pavillon des großen Gebäudes, in dem sich das Anatomische Institut befand.

Zuerst stiegen wir in einen riesigen, dunklen Keller. In dem schrägen Licht, das aus den fernen, hochgelegenen Fenstern fiel, lagen die Toten genauso wie gestern. Ihre Körper, nackt, cremeweiß, jung, harten Skulpturen ähnlich, waren in ausgezeichnetem Zustand, obwohl sie hier schon seit vielen Monaten auf den Moment warteten, in dem sie endlich nicht mehr gebraucht würden.

Sie lagen in den langen zementierten Bassins mit angehobenen Deckeln wie in Sarkophagen – der Länge nach, einer über dem anderen. Die Arme am Körper entlang und nicht, wie es das Bestattungsritual verlangt, an der Brust verschränkt. Die Köpfe so säuberlich von den Rümpfen abgetrennt, als wären sie aus Stein.

In einem dieser Sarkophage lag obenauf der uns schon bekannte »Seemann« ohne Kopf – ein prachtvoller Jüngling, riesig wie ein Gladiator. Auf seiner breiten Brust war der Umriss eines Schiffs tätowiert. Quer über die Konturen der beiden Schornsteine verlief die Inschrift eines vergeblichen Glaubens: »Gott mit uns«.

Wir gingen nacheinander an den mit Leichen gefüllten Bassins vorbei; auch die beiden ausländischen Herren gingen und schauten. Sie waren Ärzte und verstanden besser als wir, was das bedeutete. Für den Bedarf des Anatomischen Instituts der hiesigen Universität hätte ein Vorrat an vierzehn Leichen genügt. Hier waren es dreihundertfünfzig.

Zwei Bottiche enthielten nur die haarlosen Köpfe, die von jenen Körpern abgetrennt worden waren. Sie lagen übereinander, wie es gerade kam; die einen auf der Seite, so wie man auf einem Kissen liegt, die anderen nach unten oder nach oben gekehrt – menschliche Gesichter, die wie in eine Grube geschüttete Kartoffeln aussahen. Sie waren gelblich, glatt, ebenfalls hervorragend erhalten, ebenfalls ordentlich vom Nacken abgeschnitten, wie aus Stein.

In der Ecke eines Bottichs ruhte das kleine cremefarbene Gesicht eines Jungen, der vielleicht achtzehn gewesen sein konnte, als er starb. Die leicht schrägen dunklen Augen waren nicht geschlossen, sondern von den Lidern nur halb verdeckt. Die vollen Lippen, von derselben Farbe wie das Gesicht, hatten den Ausdruck eines geduldigen, traurigen Lächelns angenommen. Die gleichmäßigen, starken Augenbrauen hoben sich zu den Schläfen hin, als wäre er fassungslos. In dieser merkwürdigen, seine Vorstellungskraft übersteigenden Situation wartete er auf das endgültige Urteil der Welt.

Dann kamen weitere Bassins mit Leichen und anschließend Bottiche mit Menschen, die in zwei Hälften geteilt, in Stücke geschnitten und enthäutet waren. Nur in einem Bassin lagen separat und etwas abseits einige Frauenleichen.

Außerdem sahen wir im Keller noch ein paar leere Bassins, gerade fertiggestellt und ohne Deckel. Sie bedeuteten, dass der Vorrat an Leichen, der von den Lebenden benötigt wurde, nicht ausreichend war und dass man vorhatte, das ganze Unternehmen zu erweitern.

Später gingen wir mit den beiden Professoren zu dem roten Häuschen, und dort sahen wir auf einem erkalteten Herd einen riesigen Kessel voller dunkler Flüssigkeit. Jemand, der sich hier auskannte, schob den Deckel beiseite und holte mit einem Schürhaken einen triefenden, ausgekochten, enthäuteten menschlichen Rumpf hervor.

Zwei andere Kessel waren leer. Aber daneben, in den Regalen eines Glasschranks, lagen in einer Reihe ausgekochte Schädel und Knochen.

Wir sahen auch eine Kiste und darin in Schichten die von Fett gereinigten, dünn präparierten Scheiben menschlicher Haut. In einem Regal Gläser mit Ätznatron, an der Wand einen eingemauerten Kessel mit Mörtel und einen großen Ofen zum Verbrennen von Abfällen und Knochen.

Schließlich, auf einem hohen Tisch, Stücke von weißlicher rauer Seife und ein paar kleine, mit eingetrockneten Seifenresten beschmutzte Metallformen.

Diesmal kletterten wir nicht mehr die Leiter zum Dachboden hinauf, um die Schädel und Knochen zu betrachten, die sich dort türmten. Wir blieben nur für einen Moment in dem Teil des Hofs stehen, wo die Spuren von drei völlig ausgebrannten Gebäuden, die Überreste der metallenen Öfen von dem Typ, der in den Krematorien benutzt wurde, und zahllose Rohre und Leitungen zu sehen waren. Es war bekannt, dass das rote Häuschen schon zweimal in Brand gesteckt worden war. Doch jedes Mal wurde das entstandene Feuer bemerkt und gelöscht.

Wir traten hinaus, zusammen mit den Professoren, die uns sofort verließen und, begleitet von einem Fremden, ihren Weg gingen.

2

Vor der Kommission sagt ein junger, dünner und blasser Mann mit klaren blauen Augen aus, der zum Verhör aus dem Gefängnis geholt worden ist. Und der keine Ahnung hat, was wir von ihm wollen.

Er spricht mit Bedacht, ernst und traurig. Er spricht Polnisch, nur mit fremdem Akzent, das R leicht französisch artikulierend. Er sagt, er komme aus Danzig. Er hatte die Grundschule besucht, dann schloss er sechs weitere Klassen ab und machte das kleine Abitur. Er war Pfadfinder, er war Kriegsfreiwilliger. Im Krieg wurde er gefangen genommen, aber er konnte fliehen. Er arbeitete auf der Straße beim Schneeräumen, dann in einer Munitionsfabrik. Von dort floh er auch. Das meiste davon geschah in Danzig.

Nachdem sein Vater in ein Konzentrationslager gekommen war, zog bei seiner Mutter ein Deutscher ein. Dieser Deutsche gab ihm Arbeit im hiesigen Institut für Anatomie. So kam er zu Professor Spanner.

Professor Spanner, der ein Buch über Anatomie schrieb, stellte ihn für das Präparieren der Leichen ein. Er hielt Vorlesungen an der Universität, einen Präparationskurs für Studenten. Er wollte sein Buch veröffentlichen, er arbeitete für dieses Buch. Sein Stellvertreter, Professor Wohlmann, arbeitete auch, aber er könne nicht sagen, ob auch für irgendein Buch oder nur so …

Dieses Nebengebäude wurde 1943 als Brennerei fertiggestellt. Dann besorgte Spanner Maschinen, die Fleisch und Fett von den Knochen trennen. Aus den Knochen sollten Skelette gemacht werden. Im Jahr 1944 befahl Professor Spanner den Studenten, das Fett der Leichen getrennt aufzubewahren. Jeden Abend, wenn sie nach dem beendeten Kurs gegangen waren, brachten die Arbeiter die Teller mit Fett weg. Es gab auch Teller mit Sehnen und mit Fleisch. Das Fleisch wurde weggeworfen oder verbrannt. Aber die Menschen in der Stadt beschwerten sich bei der Polizei, deshalb befahl der Professor, es nachts zu verbrennen, weil der Gestank zu groß war.

Den Studenten wurde auch gesagt, sie sollten die Haut fein säuberlich entfernen, dann das Fett, auch ganz ordentlich, und zum Schluss die Muskeln bis zu den Knochen, so wie es im Lehrbuch stand. Das Fett, das von den Arbeitern mitgenommen wurde, blieb den ganzen Winter über liegen und wurde später, nachdem die Studenten abgereist waren, fünf oder sechs Tage lang zu Seife verarbeitet.

Professor Spanner sammelte auch menschliche Haut. Er und der ältere Präparator von Bergen wollten sie gerben und etwas aus ihr machen.

»Der ältere Präparator von Bergen war mein unmittelbarer Vorgesetzter. Stellvertreter von Professor Spanner war Dr. Wohlmann. Professor Spanner war Zivilist, er hatte sich aber bei der SS als Arzt gemeldet.«

Wo Dr. Spanner jetzt sei, wisse der Gefangene nicht.

»Spanner ist im Januar 1945 abgereist. Als er wegfuhr, trug er uns auf, das während des Semesters gesammelte Fett weiter zu verarbeiten, fleißig Seife zu machen und Anatomie zu betreiben. Und immer aufzuräumen, damit es ordentlich aussah. Das Rezept ließ er uns nicht beseitigen, vielleicht hatte er es vergessen. Er sagte, er werde zurückkommen, aber er kam nicht zurück. Die Post wurde ihm nach seiner Abreise an die Adresse Halle an der Saale, Anatomisches Institut geschickt.«

Während seiner Aussage sitzt er auf einem Stuhl an der Wand, gegenüber den Fenstern, im Licht. Er ist dabei vollkommen sichtbar – in seinem Überlegen und Zögern, in seinem hartnäckigen Wunsch, alles genau so darzustellen, wie es war, nichts auszulassen. Er ist allein, und wir sind ein gutes Dutzend Personen: Mitglieder der Kommission, Vertreter der lokalen Behörden und der Gerichtsbarkeit.

Sein Übereifer bewirkt, dass er sich manchmal unklar ausdrückt.

»Was war das für ein Rezept?«

»Das Rezept hing an der Wand. Eine Assistentin, die aus einem Dorf kam, hatte von dort ein Rezept für Seife mitgebracht und es aufgeschrieben. Sie hieß Koitek. Eine technische Assistentin. Auch sie ist abgereist, aber nach Berlin. Neben dem Rezept hing noch eine Notiz...


Kijowska, Marta
Marta Kijowska, geboren 1955 in Krakau, lebt in München. Sie arbeitet als Journalistin für Zeitungen und Hörfunk, vor allem zu Themen der polnischen Kultur, Literatur und Geschichte. Gleichzeitig ist sie als Sachbuchautorin und Übersetzerin aus dem Polnischen tätig. Zu den von ihr übertragenen Autoren gehören u. a. Stefan Chwin, Slawomir Mrozek, Maria Nurowska, Dominik W. Rettinger und Seweryna Szmaglewska.

Nalkowska, Zofia
Zofia Nalkowska (1884-1954) war die Grande Dame der polnischen Literatur, die bedeutende psychologische Romane schrieb, in Warschau einen berühmten Salon führte und jüngere Schriftsteller wie Witold Gombrowicz und Bruno Schulz förderte. Aus einem gebildeten Elternhaus stammend, studierte sie mehrere Fächer an der sogenannten Fliegenden Universität. Die bekennende Feministin war die einzige Frau in der Polnischen Akademie für Literatur. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie Abgeordnete des polnischen Parlaments und Mitglied einer Kommission zur Untersuchung deutscher Kriegsverbrechen.

Zofia Nalkowska (1884-1954) war die Grande Dame der polnischen Literatur, die bedeutende psychologische Romane schrieb, in Warschau einen berühmten Salon führte und jüngere Schriftsteller wie Witold Gombrowicz und Bruno Schulz förderte. Aus einem gebildeten Elternhaus stammend, studierte sie mehrere Fächer an der sogenannten Fliegenden Universität. Die bekennende Feministin war die einzige Frau in der Polnischen Akademie für Literatur. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie Abgeordnete des polnischen Parlaments und Mitglied einer Kommission zur Untersuchung deutscher Kriegsverbrechen. Marta Kijowska, geboren 1955 in Krakau, lebt in München. Sie arbeitet als Journalistin für Zeitungen und Hörfunk, vor allem zu Themen der polnischen Kultur, Literatur und Geschichte. Gleichzeitig ist sie als Sachbuchautorin und Übersetzerin aus dem Polnischen tätig. Zu den von ihr übertragenen Autoren gehören u. a. Stefan Chwin, Slawomir Mrozek, Maria Nurowska, Dominik W. Rettinger und Seweryna Szmaglewska.



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