Nahai | Ein Schleier aus Mondlicht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Nahai Ein Schleier aus Mondlicht

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96655-630-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-96655-630-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Zwischen altem Glanz und dem Aufbruch in eine neue Zeit Persien, Anfang des 20. Jahrhunderts. Noch nie hatte Roxana das Gefühl, wirklich hierher zu gehören - die starren Gesetze des jüdischen Ghettos drohen sie mehr und mehr sie zu ersticken. Einzig ihre nächtlichen Träume geben ihr das Gefühl, Atem schöpfen zu können: Wenn sie über die Weite des Kaspischen Meeres davonfliegt, frei wie ein Vogel ... Doch auch wenn ihr Bett jeden Morgen von dem Duft nach Salzwasser eingehüllt zu sein scheint - die Fesseln des Alltags lassen sie nicht los. Erst als Roxana der jungen Mercedes begegnet, die genauso unbändig nach Freiheit strebt, scheint sich das Blatt zu wenden. Doch dann verliert Roxana ihr Herz an einen Mann, der für immer Teil ihres Lebens sein wird - und den sie dennoch nicht lieben darf. Nun muss Roxana eine schicksalshafte Entscheidung treffen, die auch ihre Tochter Lili stets wie ein Schatten begleiten wird ... Fein gewebt und farbenprächtig wie die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht: »Eine Geschichte, die den Leser in ihren Bann schlägt« Publishers Weekly. Eine epische Familiensaga über Mut und Sehnsucht, die alle Fans von Alka Joshis »Die Hennakünstlerin« und Pierre Jarawans »Frau im Mond« begeistern wird.

Gina B. Nahai, 1961 in Teheran als Tochter iranischer Juden geboren, ging 1977 in die USA. Dort gilt sie als politische Stimme der iranischen Juden und publiziert u. a. in der Los Angeles Times, der Chicago Tribune und dem San Francisco Chronicle. Ihre Orientromane wurden in 16 Sprachen übersetzt. Die Geschichte ihrer Großmutter, einer engen Vertrauten des letzten Schahs, inspirierte sie zu ihrem Roman »Die Töchter des Pfauenthrons«. Gina B. Nahai lehrt heute an der University of Southern California und lebt in Los Angeles. Bei dotbooks veröffentlichte Gina B. Nahai ihre Romane »Die Töchter des Pfauenthrons«, »Im Land der tausend Sterne« und »Ein Schleier aus Mondlicht«, die auch im Sammelband erhältlich sind.
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Kapitel 3


Begonnen hatte alles, wie es häufig bei Tragödien der Fall ist, mit einer Frau, der russischen Frau eines Rabbiners aus Lubowitsch. Der Rabbi war gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit dem festen Vorsatz nach Teheran gekommen, die dortigen Juden zur Tugend und Rechtschaffenheit anzuleiten. Zu diesem Zweck hatte der Rabbi seine Frau, vier Töchter und einen Maulesel, beladen mit Büchern und Schriftrollen, mitgebracht, die, wie er versicherte, als Zeugnis für seine Reden und Predigten dienen würden. Er gründete eine Synagoge und verfolgte eifernd sein Ziel. Es sollte nicht lange dauern, und er hatte die Juden davon überzeugt, daß er die höchste Autorität auf der Welt in allen Fragen des Bösen und seiner Verhinderung war. Da er glaubte, daß fast immer die Frauen die Ursache alles Bösen sind, auch dessen, was er »Taten der Verderbtheit« nannte, hatte der Rabbi ein Buch über das korrekte weibliche Verhalten verfaßt. Darin war den Frauen das Lachen untersagt, weil es ein Luxus sei, der sie übermütig stimme. Zudem verlangte er von ihnen, beim Sprechen die Hand vor den Mund zu legen, damit sie die Männer nicht durch die Zurschaustellung des rosigen Fleisches in ihrem Mund in Versuchung führten.

Um den anderen mit gutem Beispiel voranzugehen, bewachte der Rabbi seine eigene Frau nebst Töchtern auf das strengste. Er hieß sie, sich in mehrere Lagen schwarzes Tuch zu wickeln, unter denen sie fast erstickten, erlaubte ihnen nie, auch nur ein Wort zu sagen, selbst nicht in der Gegenwart anderer Frauen, und er verriet niemandem ihre Namen. Der Bademeister des Ghettos mußte sogar alle vierzehn Tage das Badehaus zwei Stunden früher öffnen, damit des Rabbis Frau und Töchter unter sich waren, wenn sie sich zum Waschen entschleierten. Die übrige Zeit verbrachten sie zu Hause, lautlos und fern der Welt, den anderen Frauen in ihrer Zurückgezogenheit unheimlich. Untereinander verständigten sie sich mit Gesten, aus Furcht, ein anderer als der Rabbi könnte ihre Stimme hören. Auf die Leute, die an die Tür kamen oder die sie vom Dach aus beobachteten, wirkten sie wie Taubstumme, die sich in einem langsamen, endlosen Nebel bewegten. Die Spekulationen über ihr Aussehen, das der Rabbi so sorgfältig vor den Blicken seiner Gemeinde verbarg, überboten einander an Phantasie. Die Frau mußte ein Ausbund an Häßlichkeit sein, eine Hasenscharte haben und von den Pocken gezeichnet sein. Wahrscheinlich war sie auch völlig zahnlos. Die Töchter hatten mit Sicherheit ihr schlechtes Aussehen geerbt. Deshalb hatte der Rabbi ihnen gar nicht erst einen Namen gegeben. Er wußte, daß eine häßliche Frau nie einen Mann finden würde und deshalb gar kein Recht hatte zu leben. Hinter dem Rücken des Rabbi nannten die Juden dessen Familie »Die Krähe und ihre Töchter«.

So lebte die Krähe viele Jahre, und das wäre auch das Ende ihrer Geschichte gewesen, hätte sie nicht plötzlich an Jom Kippur im Jahre 1800 den Verstand verloren. Wie immer an diesem Tag hatte Gott das Wetter für die Jahreszeit viel zu heiß gemacht. Er wollte den Juden, die an die dreißig Stunden nichts trinken durften, das Leben zusätzlich erschweren. Selbst die Rattenheere und die Skorpione, die normalerweise ihr Unwesen trieben, hatten sich, auf der Suche nach Kühle, tief in Erdspalten versteckt. Es war fast Mittag. In der Lubowitscher Synagoge drängten sich die Betenden und bereuten ihre Sünden. Die Männer saßen im Heiligtum, die Gebetbücher lösten sich in ihren schweißigen Händen auf. Die Frauen standen im Hof, schwitzten unter ihren Schleiern und flüsterten sich die neuesten Skandalgeschichten aus dem Ghetto zu. Da hörten sie ein Geräusch und blickten hoch.

Eine Frau sang ein Lied. Ihre Stimme war von fließender Weichheit. Der Gesang tropfte von ihren Lippen und hinterließ eine kühle Spur, ergoß sich in den Körper der Männer und brachte ihre Lenden zum Erglühen. Eine Hurenstimme. Hemmungslos und frei sang sie ein altes Liebeslied, das nur die Männer der niedrigsten Kaste, die Spaßmacher, singen durften. Zuerst vernahmen es die Frauen im Hof, dann drang es zu den Betenden in der Synagoge vor, als letztes zum Rabbi. Als die Männer den Blick erhoben, sahen sie durch die gelben Hitzewellen hindurch, die dem vertrockneten Erdreich entstiegen, die Krähe. Sie war völlig nackt.

Sie war weiß wie das schäumende Wasser des Flusses, blond vom Scheitel bis zur Sohle. Wie das Traumbild junger Männer war sie schlank, wohlgerundet und duftend. Die Augen geschlossen, schritt sie in die Synagoge, die Hände rechts und links an den Mund gelegt, damit ihr Gesang lauter erschalle. Betört von ihrem Gesang, folgten ihr die vier verschleierten Töchter. Bei ihrem Anblick wurde der Rabbi schwarz vor Wut.

»Haltet die Sünderin!« wollte er schreien, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Verzweifelt wurde er Zeuge, wie seine Frau die Synagoge durchschritt, das Pult umkreiste und dann wieder ins Freie trat. Die Frauen warfen ihr neiderfüllte Blicke zu. Die Männer prägten sich jeden Zentimeter ihres Körpers ein und gaben die Erinnerung an ihre Söhne weiter. Es war kein Wunder, daß ihr alle folgten, als sie die Synagoge verließ.

Sie schritt auf die Straße, ihre Töchter im Gefolge und die Gemeinde hinter ihnen. Sie überquerte den größten Platz, auf dem sich einen Augenblick zuvor nur eine Bande gelber Köter getummelt hatte, zog durch die schweigenden Gassen und die engen Bogengänge des Ghettos, vorbei an den elenden Häusern und den erbärmlichen Läden, in denen ihr Mann das Lachen verboten hatte, bis sie das Tor nach Teheran erreichte. Zu guter Letzt unterbrach sie ihren Gesang und drehte sich zu ihren Töchtern um. Ihre Augen waren blicklos wie die einer Besessenen, und als sie lächelte, duftete ihr Atem wie Wasser.

Und dann verschwand die Krähe in der unbarmherzigen Sonne des Versöhnungstages.

Für den Ruf der Familie wäre ihr Verschwinden schon schlimm genug gewesen. Doch es sollte nicht bei diesem einen Vorfall bleiben, sondern der Anfang einer langen Reihe ähnlicher Vorkommnisse sein: In jeder Generation der Nachfahren des Rabbis lief ein weibliches Mitglied der Familie fort. Die jüngste Tochter der Krähe verließ beispielsweise eines frühen Morgens ihr Zuhause. Sie war vierzehn Jahre alt und wurde nie wieder gesehen. Die Enkelin der Krähe rannte neunjährig mit Zigeunern davon, die in den Bergen um Teheran ihr Lager aufgeschlagen hatten. Andere Mädchen schlossen sich Banditen an, wurden von Nomaden entführt, verkauften sich an Hurenhändler. Die Großmutter Schuschas warf sich in den Karaj. Sie hatte gehofft, zum Meer getragen zu werden. Statt dessen landete sie violett und aufgeschwemmt am Südufer des Flusses, wo sie langsam verfaulte. Schuschas Tante wurde von ihrem Vater auf der Flucht ertappt. Er brachte sie zurück nach Hause, legte ihr eine Fessel um die Knöchel und band sie für den Rest des Lebens an einen Ziegelpfeiler.

Immer wieder hatte man der schönen Schuscha die Geschichten ihrer unbotmäßigen Ahninnen erzählt. Man hatte behauptet, daß sie, nackt und ihr Schicksal verfluchend, durch die Wüsten im Herzen des Iran geirrt seien, wo selbst die Skorpione nicht überleben konnten; daß sie um Verzeihung gefleht hätten, nach Hause hätten zurückkehren wollen, es aber nicht durften. Als Kind empfand Schuscha ihre Sonderstellung und die Verachtung, mit der man ihr begegnete, als große Schmach. Sie war ganz durchdrungen von der Angst, eine alte Jungfer zu werden oder eines Tages wegzulaufen, weil es ihr »im Blut« lag. Ihr Vater starb, als sie zwei Jahre alt war. Ihre Mutter BeeBee zog sie im Hinterzimmer ihres Ladens groß, inmitten von fauligem Obst und Gemüse. Laut Gesetz durften die Juden kein frisches Gemüse essen. Ihren Kunden gegenüber war BeeBee streng, Schuscha gegenüber von grausamer Härte. BeeBee fand nichts dabei, einer Bettlerin, an deren Brust ein ausgemergeltes Kind hing, einen wurmstichigen Apfel vorzuenthalten. Ihre Tochter Schuscha lehrte sie Gehorsam, indem sie sie mit einem Zweig des Granatapfelbaumes peitschte, bis das Blut auf der geplatzten Haut perlte. Um zu verhindern, daß sich Schuschas Schicksal erfüllte und sie von zu Hause wegrannte, befolgte BeeBee das Beispiel ihres eigenen Vaters und band Schuschas Knöchel zusammen, wenn sie schlief.

Schuscha wurde still und traurig. Sie war so verschüchtert, daß sie kaum das Essen zu schlucken wagte, das die Mutter ihr gab. Schließlich war sie so fest davon überzeugt, allein und unverheiratet zu sterben, daß sie Stoffreste für ihr Leichentuch zu sammeln begann. Es würden sowieso nicht viele Bewerber um ihre Hand anhalten, da ihr Name durch das Vermächtnis der Krähe beschmutzt war. Zudem hatte BeeBee Schuscha immer gesagt, daß sie ihr nicht gestatten würde zu heiraten, selbst wenn ein Bewerber auftauche.

»Ich werde der Schande ein Ende setzen«, hatte BeeBee verkündet. »Wenn du heiratest, bekommst du eine Tochter wie ich, und sie wird weglaufen oder ihre Tochter wird weglaufen. Ich sorge dafür, daß du keine Kinder bekommst. Auf diese Weise gebe ich dem Schicksal der Familie eine neue Wendung.«

Mit vierzehn war Schuscha so wunderschön, daß Beebee ihr vor lauter Angst, sie würde eitel und ungehorsam, verbot, in einen Spiegel zu schauen. Mit sechzehn erhielt Schuscha Heiratsangebote von den Vermittlern reicher Moslems, die im ganzen Land nach schönen Mädchen für den Harem ihrer Auftraggeber suchten. Mit achtzehn hatte Schuscha ihr Leichentuch fertig und war fest davon überzeugt, niemals Mutter zu werden. Sie weinte bitterlich in ein Tränenkrüglein, das sie von ihrer geflohenen Tante geerbt hatte, und trank es zum Zeichen ihres Schmerzes mit einem einzigen Schluck leer. Das war am Vorabend von Schawuot. BeeBee war in Teheran unterwegs, auf der Suche nach Obst und Gemüse. Am...



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