E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Nadolny Ein Baum wächst übers Dach
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0801-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0801-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Isabella Nadolny wurde 1917 als Tochter eines aus Moskau stammenden Malers in München geboren. Sie lebte als freie Schriftstellerin und Übersetzerin am Chiemsee. 2004 starb Isabella Nadolny im Alter von 87 Jahren.
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1
»Wenn wir«, sagte mein Bruder Leo, »jeden Sommer zu viert auf Sommerfrische gehen, so kostet das pro Jahr … Warte mal.« Er griff nach einem Blatt Papier und fragte mich über die Schulter:
»Wie lange dauern deine Ferien eigentlich?«
Ich gab mürrisch Auskunft. Gegen die Autorität eines um elf Jahre älteren Bruders war nichts auszurichten.
»Und zwei Jahre mußt du doch noch zur Schule gehen – ist sowieso wenig genug«, murmelte er, »zweimal Ferien à sechs Wochen. Also das macht …« Er blinzelte gegen den Rauch seiner Zigarette und rechnete. »Da ist es viel billiger, wir bauen uns ein Sommerhaus.«
Er strich die Zahlen aus und begann einen Grundriß zu zeichnen.
Wir saßen im Eßzimmer, Mama in dem Sessel unter ihrem Porträt, so daß man prüfen konnte, ob es ähnlich genug war. Nur drei der vielen Porträts, die von Mama gemalt worden waren, hatten in unserer Wohnung Platz gefunden, einer großen, altmodischen Wohnung mit hochherrschaftlichen Stuckdecken.
»Ein Sommerhaus«, sagte Mama und drehte mit gedankenvoll gerunzelter Stirn an ihrem Ring, »ein Sommerhaus wäre fein. Man könnte einen Hund dort halten!«
Hunde und Pferde waren vielleicht das einzige, was Mama seit jenem Tage entbehrt hatte, als sie neunzehnjährig das Schloß ihrer Ahnen verließ, um zu heiraten. Hätte sie, der Pferde und Hunde wegen, damals den ungarischen Offizier genommen, der sie so glühend verehrte, so wäre ich heute schwarzhaarig und braunäugig, was ich mir immer gewünscht habe. Sie verzichtete jedoch auf die Pferde und Hunde und heiratete Papa. Das ist zu verstehen. Papa war reizend, hochmusikalisch und ungewöhnlich sprachbegabt, wenn auch etwas schüchtern. In seinem Paß stand als Berufsbezeichnung »Kaufmann«, ein dehnbarer Begriff, der nichts besagte, außer daß Papa Geld genug hatte, um nur gelegentliche weite Geschäftsreisen unternehmen zu müssen, und zwar von Moskau aus, wo er und seine ganze Verwandtschaft lebten. Mama zog mit ihm nach Rußland. Nach ein paar Jahren äußerte Papa den ungewöhnlichen Wunsch, Rußland zu verlassen und ausgerechnet in München malen zu lernen. Nichts hinderte ihn, auch Mama nicht. Sie war nicht einmal verblüfft, sondern packte ihre Koffer, nahm den kleinen Leo, die russische Kinderfrau, fuhr nach Bayern und suchte sich mit Papa eine Wohnung in Schwabing. Eine hochherrschaftliche Wohnung mit Stuckdecken. Papa lernte malen, Mama, die bildschön war, wurde gemalt, und beide besuchten mit Erfolg die legendären Künstlerfeste jener Zeit, die man im Simplicissimus älterer Jahrgänge abgebildet findet.
Als der Weltkrieg vorüber war und die alljährlichen Rußlandreisen zur Familie für immer aufhörten, kam ich zur Welt. Und just um diese Zeit begannen auch die ersten Vermögensschwierigkeiten und die ersten Sorgen. Papa malte weiter, ihm genügte es, von den leidigen Geldangelegenheiten nicht zu sprechen und alles damit Zusammenhängende zu ignorieren. Von Mamas Gefühlen und Erwägungen ist nichts bekannt, sie war eine echte Dame und ließ sich nichts anmerken. Nun zum erstenmal seit Jahren sahen wir die Hoffnung auf einen Hund zugleich mit dem Gedanken an ein Sommerhaus in ihrem Auge aufleuchten.
Bruder Leo zeichnete noch immer. Jetzt ergriff er ein Lineal und zog eine Linie.
»Wie viele Zimmer brauchen wir denn?« fragte er.
»Bloß nicht zu viele«, sagte Mama, die sich seit langem in der Wohnung mit einem Mädchen behelfen mußte.
Papa saß am Schreibtisch und legte eine Patience. Er hatte noch den Malmantel an, mit dem er aus dem Atelier gekommen war, und an seinem Hosenbein klebte ein wenig Preußischblau. Er hatte Schwierigkeiten beim Durchzeichnen einer Birkengruppe in einem Abendhimmel und durfte sich eine Pause gönnen. Rein zufällig geriet er in das allgemeine Sinnen und Trachten.
»Hinter dem Haus muß ein Tisch stehen, auf dem man die Fische schuppen kann, die ich fange«, sagte er und schaute mit zusammengepreßten Lippen nach, wo die Pique-Zehn hingehörte.
Ich hatte die letzten fünf Minuten am Flügel herumgelungert, wie eben ein Backfisch lungert, der noch unfähig ist, schlicht und frei im Raum zu stehen. Nun warf ich mich in den großen Teppichsessel und flocht Zöpfchen in die Fransen. Das ganze Projekt interessierte mich recht wenig. Es war nicht anzunehmen, daß ausgerechnet in diesem geplanten Sommerhaus Willy Fritsch unser Nachbar würde, oder daß mich dort jemand für Hollywood entdeckte. Der Ort des Bauvorhabens stand nämlich fest. Es war Seeham in Oberbayern.
Papa hatte dieses Dörfchen einst auf einem Ausflug mit seiner Malklasse von München aus entdeckt und war seinen Reizen von Stund an verfallen. Es lag am Ufer eines Sees in jenem Gebiet, das in den Wetterberichten als »am Alpenrand auch anders« eine Sondererwähnung erfährt. Dieses Ufer war flach, bestand aus abwechslungsreich geformten und gefärbten Steinen, und durch die Spiegelung des klaren Wassers sah man die bläulich behauchten Berge doppelt. Durchdrang man die zum Trocknen gespannten Fischernetze, die den Strand vom Landesinneren trennten und Seeham silbern verschleierten, so konnte man, einer Legende zufolge, zwanzig Stunden lang wandern, ohne je den Wald zu verlassen. Und was war das für ein Wald, teils lieblich, teils majestätisch, je nach dem Anpflanzungsjahr des bayerischen Forstverwaltungsamtes. Die Aussicht von dem Kirchturmhügel, der Seeham beherrschte, war zum Jauchzen schön, und man fühlte sofort das dringende Bedürfnis, sie mit anderen zu teilen. Führte man jedoch Leute dorthin, um ihnen diese Pracht zu zeigen, so nebelte sich das Gebirge ein, und man war gezwungen, mit einer weiten Armbewegung zu sagen: »Schade, was ihr dort nicht seht, das sind die Ostalpen!« An dieser Eigenheit Seehams hatte sich seit dem Jahre 1910 kaum etwas geändert.
Im übrigen war Seeham ein ganz gewöhnliches Dorf mit Spritzenhaus und Viehwaage, einem Bach mit Enten und Forellen, mit drei Dorftrotteln, zwei Kropfträgern und einer Schwäche für den Fremdenverkehr. Schon in den guten alten Zeiten vor meiner Geburt hatten die Eltern alljährlich samt Mädchen und Großmama eine Etage in einer jener Villen gemietet, die in so manchen Dörfern Oberbayerns herumstehen und deren Dächer in eine Unzahl sinnloser Türmchen und Erkerchen ausblühen. Bei dieser Sommergewohnheit war man geblieben. Die Fotoalben im Salon, deren Messingbeschläge die Tischplatten zerkratzten, wenn man sie besah, waren voller Strandbilder: die fröhlichen Eltern, Fische räuchernd, Schwemmholz zusammentragend, Bruder Leo in gestreifter Badehose und schließlich eines Tages sogar ich, heidnisch nackt, die Korkenzieherlocken hochgebunden, damit sie nicht in den See hingen, mißvergnügt gegen die Sonne in die Kamera blinzelnd. Das war nun eine Weile her. Ich hatte nur noch Erinnerungen an die wundervollen Steine, die ich sorgfältig abwusch und wieder ins Wasser legte.
Bruder Leo zeichnete noch immer an seinem Plan. Papa schob die Patiencekarten zusammen und sah ihm über die Schulter.
»Das Lange dort, soll das eine Kegelbahn werden?«
»Das ist eine Veranda«, sagte Leo.
»Wir werden ja hauptsächlich draußen essen«, sagte Mama entschieden. Essensgeruch war ihr stets zuwider, sie fand ihn spießig.
»Du kennst Oberbayern noch immer nicht genügend, scheint’s«, sagte Papa sanft und schloß leise die Tür hinter sich.
»Die Hundehütte muß windgeschützt stehen, die könnte zum Beispiel innerhalb der Veranda in einer Ecke untergebracht werden«, schlug Mama vor.
Leo sah auf und grinste. Ich glaubte, die Haut seiner Wangen knistern zu hören.
»Je nachdem, was wir investieren«, sagte er, »wird vielleicht das ganze Projekt nur eine Hundehütte. – Wir bauen sowieso aus Holz!«
»Natürlich«, bekräftigte Mama, »in Rußland baut man immer aus Holz, auch für den Winter.«
Ich entflocht die Sesselfransen und stand auf. »Holz?« fragte ich. »Da quellen doch immer die Türen und Fensterrahmen und nachher geht nichts mehr auf und zu, oder?«
Bruder Leo sah mich mit jenem Ausdruck an, den man so oft in den Augen älterer Brüder findet. Er besagt, daß man als Kind nicht genügend verhauen worden ist, und schließt die Frage ein, ob vielleicht noch Zeit sei, dies nachzuholen.
Da meine Beiträge zur Diskussion nicht willkommen zu sein schienen, bat ich Mama um sechzig Pfennig, weil ich in die Vieruhrvorstellung im Capitol gehen wollte.
»Aber den Film hast du doch schon zweimal gesehen«, sagte Mama. »Das ist ja Unsinn. Du kommst überhaupt viel zu wenig an die Luft. Hol Inge ab und geht in den Englischen Garten.«
Der Englische Garten war eine der üblichen Härten des Lebens, weil es dort außer der frischen Luft für einen Backfisch nicht das geringste Interessante gab. So blieb ich denn noch ein Weilchen und hörte weiter zu.
»Ein Keller wird zu teuer, ist ja auch unnötig. Soll man ein Bad vorsehen?«
»Ein Bad? Für die paar Wochen? Kinder – Ihr habt ja den See vor der Tür.«
»Nun ja, aber doch wenigstens einen Kachelofen und Doppelfenster«, sagte Leo. »Womöglich heirate ich eines Tages, und von meinen sechs Kindern haben dann mindestens drei gleichzeitig Keuchhusten. Die brauchen Luftveränderung, und wenn es da gerade Winter ist …«
Mama lachte. »Meinetwegen, sieh einen Kachelofen vor, es gibt ja auch mal kühle Sommer. Das Holz holen wir uns vom Strand, da liegt genug«, meinte sie optimistisch.
Leo schlug noch einen kleinen Vorratskeller vor, in den man von der Küche aus durch eine Klappe im Fußboden hinunterstieg, kaum größer als ein Schrank, aber gleichmäßig temperiert.
»Wozu denn?«
»Für die Apfel!«
»Die sind...