Mykle | Liebe ist eine einsame Sache | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 768 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Mykle Liebe ist eine einsame Sache

Roman
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2170-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 768 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-2170-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Schlüsselwerk der norwegischen Literatur in neuer Übersetzung Zum ersten Mal seit Jahren fährt der 32-jährige Komponist Ask Burlefot in seine Heimatstadt Trondheim - zur Beerdigung seines jüngeren Bruders Balder. Auf seiner Reise erinnert er sich an die 1930er, als er Hilfslehrer an einer Handelsschule in Nordnorwegen war und es endlich schaffte, sich von seinem dominanten Vater zu befreien. Doch das schlechte Gewissen, seinen kleinen Bruder im Stich gelassen zu haben, verfolgt ihn Zeit seines Lebens. Ein großer Roman über Zweifel und Glauben, Unsicherheit und Sehnsucht. 

Agnar Mykle, geboren 1915 in Trondheim, ist ein norwegischer Kultautor. Seine Bücher stehen in der Tradition des Realismus. Seine beiden Romanen 'Liebe ist eine einsame Sache' (1954) und 'Das Lied vom roten Rubin' (1956) sind zwei der wichtigsten Werke der norwegischen Literatur und in Skandinavien bis heute beliebt, ihr großer Einfluss zeigt sich u.a. in den Werken von Karl Ove Knausgård, Tomas Espedal und Jan Kjærstad. 'Das Lied vom roten Rubin' brachte ihm aufgrund des 'pornografischen Inhalts' des vermeintlich autobiografischen Romans einen Gerichtsprozess ein. Das Verbot des Buches wurde später aufgehoben, Mykle erholte sich jedoch nie ganz von den Folgen. Er schrieb und publizierte in der Folge nur noch selten und starb 1994 in Asker.
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Den Leuten graut vor so einem unvernünftigen Gerede,denn sie hatten eben genau das selbst gedacht.Olav Duun

Die Ouvertüre


Der Kurs für das Leben eines Menschen scheint in einem bestimmten Augenblick festgelegt zu werden, irgendwann zwischen dem 18. und dem 21. Jahr. Das ist die Zeit, wenn der junge Mensch das Elternhaus und den Heimatort verlässt, um sich eine Arbeit zu suchen, an einen fremden Ort zu reisen, an einer höheren Schule anzufangen, oder wenn er die Straße, den Hinterhof, die Demütigung verlässt.

Das ist ein wundervoller Augenblick im Leben eines Menschen, erfüllt von derselben zitternden und angespannten Erwartung wie im Theatersaal, wenn das Licht verlöscht, der Dirigent in den Orchestergraben steigt und die ersten Töne der Ouvertüre erklingen.

Der Unterschied ist nur der, dass eine Ouvertüre in der Regel als eine Komprimierung der fertig geschriebenen und also bekannten Oper komponiert wird, während die erste Reise fort vom Elternhaus eine Ouvertüre zu einer noch ungeschriebenen und noch unbekannten Oper ist. Kein Musikkritiker, kein musikalisches Nachschlagewerk, kein Opernführer vermag etwas über den Inhalt Oper zu sagen. Die ersten Takte der Ouvertüre sind genauso unergründlich, genauso geheimnisvoll wie das Auge eines Waldsees und das Antlitz des Himmels; wird die Oper im Schloss spielen oder im Schweinestall, im Olymp oder im Hades, wird sie ein Spiel sein über einen Prinzen oder einen Bettler, ein Spiel in der goldenen Stadt oder im tristen Seitental, oder wird es um einen himmelstürmenden Triumphator oder um das bleiche Gesicht des Gefangenen hinter den eisernen Gitterstäben gehen?

Jedem Menschen, der gelebt hat, ist dieser Augenblick bekannt. Es fühlt sich mit Recht so an wie die Einführung in das große Spiel um Leben und Tod. Und wie es wenige Kompositionen gibt, die so geheimnisvoll und ergreifend sind wie die Ouvertüren von Mozart, Suppé, Verdi, Berlioz und Rossini – weil sie alle die Botschaft eines Vorhangs haben, der sich gleich heben wird –, so gibt es im Leben eines Menschen keine Zeit so zitternd vor verlockender Erwartung wie die Zeit, wenn ein junger Mensch an einem Dampferkai steht, wenn nur noch zehn Minuten bis zur Abfahrt bleiben und wenn es die Reise ins Reich der Selbstständigkeit ist.

Es ist ein feierlicher Augenblick. Klingt nach Zirkus und Parade, nach Prozession und Maskenball, nach den Fanfaren des Trompeters und nach Fahnen, die im Wind knattern. Die kleine Schar der Anwesenden ist vielleicht im Festtagsgewand gekommen, jemand hat Blumen mitgebracht, und es ist sogar möglich, dass einer Luftschlangen in der Hand hält, bereit, sie zu werfen.

Aber mehr als alles andere ist es ein fürchterlicher Augenblick. Den Anwesenden passiert es, dass sie sich gegenseitig mustern und sie ein kurzer, schrecklicher Schauer durchfährt, dass die dunklen Sonntagskleider, die frisch rasierten Männergesichter, die frisch geföhnten Frauenköpfe, die Blumen und die frisch gebügelte Seidenschleife im Haar des kleinen Mädchens nicht nur zu einem Fest der Freude passen.

In einem solchen Augenblick, mitten im Verkehrslärm, wurde es still am Kai, einen Sekundenbruchteil froren sie und mussten schlucken, denn sie hatten den Laut des Tieres gehört. Vielleicht schrie der Wind oben in der Takelage des Schiffes, vielleicht verdunkelte sich eine Sekunde der Himmel, vielleicht hörten sie den Todesvogel mit den schwarzen Flügeln und den braunen Glasaugen heiser schwatzen; vielleicht vernahmen sie den Laut der großen Ratte, die sich auf dem Bauch an einem Spant im Frachtraum des Schiffes vorwärtsschob (der lange, empfindliche Schwanz scheuert über Wellblech, und in der Dunkelheit wird sie den Kopf mit den blinden Augen drehen und sich witternd im Raum orientieren); vielleicht war es die Schlange, versteckt in dem Bananenbüschel drinnen im Paketraum, die einen Zoll vom Stängel abglitt und lautlos mit der gespaltenen Zunge zuschlug. Vielleicht kam der Laut von den Wasserwirbeln, von einem grauweißen, schlabbernden Meerestier, versteckt unter der sich langsam drehenden Schiffsschraube. Niemand kennt das Tier, aber das Geräusch lässt die Herzen der Menschen eine Sekunde stocken, und in diesem hastigen Augenblick scheint es, als sei das Schiff aus weißen, sonnengebleichten Menschenknochen gebaut.

Deshalb ist eine solche Abschiedsszene immer von Hysterie geprägt. Am stärksten zeigt sich das bei der Mutter des Abreisenden; es blubbert unablässig in ihrem Hals – vor Aufregung ebenso wie vor tödlicher Angst –, denn sie hat tausend Ratschläge parat, tausend Warnungen, und sie hat all die tausend Dinge, die sie sagen wollte, vergessen und deshalb redet sie unaufhörlich mit stotternder Fistelstimme, und ihr Gesicht ist hässlich und bereits geschwollen von kommenden Tränen, und ständig kramt sie mit der Hand tief in der Tasche, um sich zu vergewissern, dass ein Taschentuch bereitliegt.

Der junge Abreisende ist ebenfalls hysterisch, aber er hat sich besser in der Gewalt. Sein Gesicht ist weiß und sein Lächeln ist schief und sein ganzer Unterleib ist taub vor Anspannung, Verlegenheit, Angst und Erwartung, aber er ist zwanzig Jahre alt und er meint, es gehört sich nicht, dass Menschen die Besinnung verlieren.

Gro verabschiedet sich


An einem grauen, frostigen, windigen Tag im März stand eine kleine Schar von Menschen zusammengedrängt weit draußen auf der zementierten Landungsbrücke einer mittelgroßen norwegischen Stadt.

Es war dieser Frühling, in dem Kipling und König George starben, in dem das schwedische Lazarett in Äthiopien von den Italienern bombardiert wurde, in dem die ihre erste Probefahrt machte, in dem Hitler das Rheinland besetzte, in dem der Arbeiterführer Shoemaker in Florida verprügelt, geteert und gefedert und getötet wurde, in dem mit dem Bau der Brücke über den Bosporus begonnen wurde und in dem Charlie Chaplin für die Goldmedaille des Völkerbundes erhielt. Das waren für die wenigen Menschen, die dicht gedrängt draußen auf der Landungsbrücke standen, weit entfernte Ereignisse, ebenso weit weg wie der Protest der 100 000 Demonstranten der Volksfront in Frankreich, die wegen des Attentats auf Léon Blum auf die Straße gingen. Die große Welt erfuhren sie eher am eigenen Leib durch die Gesichter von Hermann Thimig und Paul Kemp, Luise Ullrich und Anny Ondra (oh Anny Ondra), dieser Frühling in Norwegen wurde eingespielt von Paul Muni, von Ginger Rogers und Fred Astaire in , und Mickey Rooney war elf Jahre alt und spielte in Max Reinhardts Verfilmung von den Puck. Aber am nächsten stand ihnen ihre eigene Welt, Norwegen. Würden sich die Menschen an der Landungsbrücke an etwas Bestimmtes in diesem Frühling erinnern, würde es die alte Dame Gulla Grundt sein, die die norwegischen Abiturientinnen beschuldigte, illegal abzutreiben, oder die aufregende Geschichte von der jungen Frau in der Gemeinde Bykle, die mit einem Holzscheit ihren Vater erschlug und freigesprochen wurde.

Vor der Anlegestelle lag der Fjord blaugrün im Wind, mit kleinen kreideweißen Wellenkämmen, und in der Luft war ein kalter Geruch nach Eisen. Denn noch war es Winter, und in den Bergen auf der anderen Seite des Fjords lag Schnee.

Die Stadt, oberhalb von ihnen, war an sich eine schöne, alte und wohlhabende Stadt, eine Stadt mit Zeugen aus dem Mittelalter, mit Kirchen, Stadttoren und Festungen, aber auch mit modernen zehnstöckigen Geschäftsgebäuden. Die Stadt war eine merkwürdige Mischung von Alt und Neu: Asphaltierte Straßen vom vorigen Jahr kreuzten alte Gassen, deren glatte, runde Pflastersteine Geschichten aus dem 13. Jahrhundert erzählen konnten, es war eine Stadt mit alten Zugbrücken, Speichern, Salutkanonen aus Bronze und alten Patrizierhäusern, aber auch mit allem, was zu einer modernen Stadt gehört: Fabriken mit großen Glasfenstern, Straßenbahnen, Autos, Busse, Züge, einige Kaufhäuser, drei Kliniken (davon eine nicht nur privat, sondern auch katholisch), sechs Volksschulen, drei Mittelschulen (davon eine privat), zwei Gymnasien (davon das eine staatlich, das andere ein privates Wirtschaftsgymnasium, kommunal subventioniert), drei Kinos, die alle gut liefen, und ein Theater, das so schlecht lief, dass es nur vier der zwölf Monate des Jahres spielte, und jedes Mal unter einer anderen Leitung. Ab und an kam es vor, dass ein Flugzeug über die Stadt brummte, und da liefen die Jungs der Stadt auf die Straße und schrien hinauf: »Wirf Geldscheine runter«, aber der Flieger hörte sie nie.

Mitunter wirkte die Stadt einladend und freundlich, aber der Kai, wo die Menschen standen, war eine Landungsbrücke und nur einige flache Lagerschuppen gewährten Schutz vor dem kalten Märzwind. Der junge Mann, der abreisen sollte und der im Mittelpunkt dieser Abschiedsszene stand, hatte sich kurz in einen der Lagerschuppen begeben, wo er sich auf die Lippen biss und mit einem groß gewachsenen Mädchen in seinem Alter redete.

»Das ist für dich«, sagte sie und zog ein längliches Päckchen aus der tiefen Tasche ihres Gabardinemantels. »Ist von uns Jungs.«

Sie lachte ein metallisches Lachen und entblößte eine Reihe perlweißer, aber...


Mykle, Agnar
Agnar Mykle, geboren 1915 in Trondheim, ist ein norwegischer Kultautor. Seine Bücher stehen in der Tradition des Realismus. Seine beiden Romanen "Liebe ist eine einsame Sache" (1954) und "Das Lied vom roten Rubin" (1956) sind zwei der wichtigsten Werke der norwegischen Literatur und in Skandinavien bis heute beliebt, ihr großer Einfluss zeigt sich u.a. in den Werken von Karl Ove Knausgård, Tomas Espedal und Jan Kjærstad. "Das Lied vom roten Rubin" brachte ihm aufgrund des "pornografischen Inhalts" des vermeintlich autobiografischen Romans einen Gerichtsprozess ein. Das Verbot des Buches wurde später aufgehoben, Mykle erholte sich jedoch nie ganz von den Folgen. Er schrieb und publizierte in der Folge nur noch selten und starb 1994 in Asker.



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