E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Musso Ein Wort, um dich zu retten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-99556-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-492-99556-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Guillaume Musso wurde 1974 in Antibes geboren und kam bereits im Alter von zehn Jahren mit der Literatur in Berührung, als er einen guten Teil der Ferien in der von seiner Mutter geleiteten Stadtbibliothek verbrachte. Da die USA ihn von klein auf faszinierten, verbrachte er mit 19 Jahren mehrere Monate in New York und New Jersey. Er jobbte als Eisverkäufer und lebte in Wohngemeinschaften mit Menschen aus den verschiedensten Ländern. Mit vielen neuen Romanideen kehrte er nach Frankreich zurück. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, wurde als Lehrer in den Staatsdienst übernommen und unterrichtete mit großer Leidenschaft. Ein schwerer Autounfall brachte ihn letztendlich zum Schreiben. In »Ein Engel im Winter« verarbeitet er eine Nahtoderfahrung - und wird über Nacht zum Bestsellerautor. Seine Romane, eine intensive Mischung aus Thriller und Liebesgeschichte, haben ihn weltweit zum Publikumsliebling gemacht. Seit zehn Jahren ist er der meistgelesene Autor in Frankreich. Weltweit wurden mehr als 22 Millionen Bücher des Autors verkauft, er wurde in über 40 Sprachen übersetzt.
Weitere Infos & Material
1 Erste Voraussetzung für einen Schriftsteller
Erste Voraussetzung für einen Schriftsteller
ist ein gutes Sitzfleisch.
Dany Laferrière, Tagebuch eines Schriftstellers im Pyjama[3]
1.
Dienstag, 11. September 2018
Der Wind ließ die Segel bei strahlend blauem Himmel flattern.
Die Jolle hatte kurz nach dreizehn Uhr an der Küste des Département Var abgelegt und sauste mit einer Geschwindigkeit von fünf Knoten in Richtung Île Beaumont. Ich saß in der Nähe des Ruders neben dem Skipper und berauschte mich an der Betrachtung des funkelnden goldenen Schimmers über dem Mittelmeer und an der verheißungsvollen Seeluft.
Am Morgen hatte ich meine Pariser Wohnung verlassen und war um sechs Uhr früh in den TGV nach Avignon gestiegen. Von der Papststadt aus war ich mit einem Bus bis nach Hyères gefahren und von dort weiter mit einem Taxi zum kleinen Hafen Saint-Julien-les-Roses, der einzigen Anlegestelle, die Fährverbindungen zur Île Beaumont anbot. Wegen einer der vielen Verspätungen der Bahn hatte ich das einzige Schiff, das mittags fuhr, um fünf Minuten verpasst. Während ich, meinen Koffer im Schlepptau, auf dem Kai umherirrte, hatte mir der Kapitän eines niederländischen Segelschiffs, der es soeben startklar machte, um seine Fahrgäste von der Insel abzuholen, freundlicherweise angeboten, mich mitzunehmen.
Ich war kürzlich vierundzwanzig Jahre alt geworden und stand an einem Wendepunkt in meinem Leben. Zwei Jahre zuvor hatte ich eine Pariser Handelsschule mit meinem Diplom in der Tasche verlassen, mir jedoch keine meiner Ausbildung entsprechende Arbeit gesucht. Das Studium hatte ich nur absolviert, um meine Eltern zu beruhigen, verspürte allerdings keine Lust auf ein Leben, das von Betriebswirtschaft, Marketing oder Finanzen bestimmt sein würde. In den beiden zurückliegenden Jahren hatte ich mehrere kleine Jobs angenommen, um meine Miete bezahlen zu können, meine gesamte kreative Energie aber in das Schreiben eines Romans gesteckt, Die Unnahbarkeit der Baumkronen, der von zehn Verlagen abgelehnt worden war. Ich hatte alle Ablehnungsschreiben an die Pinnwand über meinem Schreibtisch gehängt. Bei jeder Nadel, die ich in den Kork steckte, glaubte ich sie mir ins Herz zu stechen, denn meine daraus resultierende Niedergeschlagenheit war ebenso groß wie meine Leidenschaft fürs Schreiben.
Zum Glück hielten diese depressiven Verstimmungen nie sehr lange an. Bisher war es mir immer wieder gelungen, mir einzureden, solche Fehlschläge seien das Vorzimmer zum Erfolg. Um mich auch wirklich davon zu überzeugen, hielt ich mich an berühmte Beispiele. Stephen King berichtete häufig, dreißig Verlage hätten sein Buch Carrie abgelehnt. Die Hälfte der Londoner Verleger beurteilte den ersten Band von Harry Potter als »viel zu umfangreich für Kinder«. Und bevor er der meistverkaufte Science-Fiction-Roman wurde, hatte Der Wüstenplanet von Frank Herbert etwa zwanzig Absagen erhalten. Was F. Scott Fitzgerald anbelangt, so tapezierte er anscheinend die Wände seines Büros mit den einhundertzwanzig Absagebriefen, die er von Zeitschriften bekam, denen er seine Erzählungen anbot.
2.
Aber diese Autosuggestion nach der Coué-Methode stieß allmählich an ihre Grenzen. Trotz aller Willenskraft fiel es mir schwer, weiterzuschreiben. Es war nicht das Leere-Blatt-Syndrom oder ein Mangel an Ideen, die mich lähmten. Es war der gefährliche Eindruck, beim Schreiben nicht voranzukommen und nicht mehr so genau zu wissen, wohin es gehen sollte. Ich hätte jemanden gebraucht, der meine Arbeit mit unvoreingenommenem Blick betrachtete. Zugleich wohlwollend und kompromisslos. Anfang des Jahres hatte ich mich zu einem Kurs in Creative Writing angemeldet, der von einem angesehenen Verlag organisiert wurde. Auf diesen Schreib-Workshop hatte ich große Hoffnungen gesetzt, war aber schnell desillusioniert worden. Der Autor, der den Kurs abhielt – Bernard Dufy, ein Romanschriftsteller, der seine Glanzzeit in den Neunzigerjahren erlebt hatte –, stellte sich selbst als Goldschmied des Schreibstils vor. »Ihre gesamte Arbeit muss sich um die Sprache drehen, nicht um die Geschichte«, wiederholte er immer wieder. »Die Erzählung hat nur die Funktion, der Sprache zu dienen. Ein Buch darf keinen anderen Zweck verfolgen, als die Suche nach der Form, dem Rhythmus, der Harmonie. Darin liegt die einzig mögliche Originalität, denn seit Shakespeare sind bereits alle Geschichten erzählt worden.«
Die tausend Euro, die ich für diesen Schreibkurs berappen musste – drei jeweils vierstündige Sitzungen –, hatten mich wütend gemacht und finanziell ruiniert. Vielleicht hatte Dufy ja recht, aber ich persönlich dachte genau das Gegenteil: Der Stil war kein Selbstzweck. Die wichtigste Qualität eines Schriftstellers war es, seine Leser durch eine gute Geschichte zu fesseln. Durch eine Erzählung, die ihn aus seinem Alltag zu reißen vermochte, um ihn ins Innerste und in die Wahrheit der Protagonisten zu versetzen. Der Stil war nur das Mittel, um die Schilderung lebendig und mitreißend zu gestalten. Im Grunde konnte mir die Meinung eines akademischen Schriftstellers wie Dufy gleichgültig sein. Die einzige Meinung, die ich gern eingeholt und die in meinen Augen Bedeutung gehabt hätte, wäre die meines ewigen Idols gewesen: meines Lieblingsschriftstellers Nathan Fawles.
Ich hatte seine Bücher gegen Ende meiner Teenagerjahre entdeckt, zu einer Zeit, als Fawles bereits seit Langem mit dem Schreiben aufgehört hatte. Seinen dritten Roman Les Foudroyés hatte mir Diane Laborie, meine feste Freundin in der Abiturklasse, geschenkt, als sie mit mir Schluss machte. Der Roman hatte mich stärker erschüttert als der Verlust einer Liebe, die keine gewesen war. Nach der Lektüre hatte ich mir seine ersten beiden Bücher besorgt: Loreleï Strange und A Small American Town. Seither hatte ich nichts vergleichbar Aufwühlendes mehr gelesen.
Fawles schien sich mit seinem einmaligen Schreibstil direkt an mich zu wenden. Seine Romane waren lebendig, intensiv. Auch wenn ich eigentlich niemandes Fan bin, hatte ich seine Bücher immer wieder gelesen, denn sie erzählten mir etwas über mich, über die Beziehung zu anderen, über die Schwierigkeit, das eigene Leben in den Griff zu bekommen, über die Verletzlichkeit der Menschen und die Fragilität unserer Existenz. Sie gaben mir Kraft und spornten mich zum Schreiben an.
In den Jahren, die auf Fawles’ Rückzug folgten, hatten andere Autoren versucht, seinen Stil zu imitieren, seine Welt aufzugreifen, die Konstruktion seiner Geschichten zu kopieren oder seine Sensibilität nachzuahmen. Meiner Meinung nach war es jedoch niemandem gelungen, ihm das Wasser zu reichen. Es gab nur einen Nathan Fawles. Ob man ihn nun mochte oder nicht, man musste anerkennen, dass Fawles ein einzigartiger Autor war. Auch wenn man nicht wusste, von wem der Text stammte, reichte die Lektüre einer Seite, um ihn als Verfasser identifizieren zu können. Und nach meiner Meinung war das der wahre Hinweis auf Talent.
Auch ich hatte seine Romane eingehend analysiert, um das Rätsel seines Stils zu entschlüsseln, und versucht, ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Später war in mir der ehrgeizige Plan gereift, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Obgleich ich mir keine Hoffnungen machte, eine Antwort zu erhalten, hatte ich ihm mehrfach über seinen Verlag in Frankreich und seinen Agenten in den Vereinigten Staaten geschrieben. Auch mein Manuskript hatte ich ihm geschickt.
Vor zehn Tagen dann entdeckte ich im Newsletter der offiziellen Website der Île Beaumont eine Stellenanzeige. Die kleine Buchhandlung der Insel, La Rose Écarlate, suchte einen Mitarbeiter. Sofort hatte ich mich per Mail um die Stelle beworben, und noch am selben Tag hatte mich Grégoire Audibert, der Besitzer der Buchhandlung, kontaktiert und mir via Facetime mitgeteilt, dass er meine Bewerbung annahm. Es handelte sich um einen auf drei Monate befristeten Job. Die Bezahlung war nicht umwerfend, aber Audibert sagte mir freie Unterkunft und zwei Mahlzeiten pro Tag im Fort de Café zu, einem der Restaurants am Ort.
Ich war begeistert, diesen Job zu bekommen, der mir, soweit ich das den Worten des Buchhändlers hatte entnehmen können, auch Zeit lassen würde, in einer inspirierenden Umgebung zu schreiben. Und der, davon war ich überzeugt, mir die Gelegenheit verschaffen würde, Nathan Fawles zu begegnen.
3.
Ein Manöver des Skippers verlangsamte das Tempo des Segelboots.
»Land in Sicht, geradeaus!«, rief er und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Silhouette der Insel, die sich am Horizont abzeichnete.
Die Île Beaumont, eine Dreiviertelstunde mit dem Boot von der Küste des Département Var entfernt, hat die Form einer Mondsichel. Ein rund fünfzehn Kilometer langer und sechs Kilometer breiter Bogen. Die Insel wurde stets als ein unberührtes und geschütztes Schmuckstück gepriesen. Eine der Perlen des Mittelmeers, wo sich kleine Buchten mit türkisgrünem Wasser, Pinienwäldern und Sandstränden abwechselten. Wie die Côte d’Azur, nur ohne Touristen, Verschmutzung und Beton.
Während der letzten zehn Tage hatte ich alle Zeit der Welt, die einzige Broschüre zu studieren, die ich über die Insel finden konnte. Seit 1955 gehörte Beaumont einer diskreten italienischen Industriellenfamilie, den Gallinaris, die Anfang der Sechzigerjahre wahnsinnige Summen in die Erschließung der Insel gesteckt hatten, groß angelegte Arbeiten zur Wasserversorgung und Erdaufschüttungen durchführen ließen, sodass aus dem Nichts einer der ersten Jachthäfen an der Küste...