E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Musso Das Mädchen aus Brooklyn
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-96588-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-492-96588-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Guillaume Musso wurde 1974 in Antibes geboren und kam bereits im Alter von zehn Jahren mit der Literatur in Berührung, als er einen guten Teil der Ferien in der von seiner Mutter geleiteten Stadtbibliothek verbrachte. Da die USA ihn von klein auf faszinierten, verbrachte er mit 19 Jahren mehrere Monate in New York und New Jersey. Er jobbte als Eisverkäufer und lebte in Wohngemeinschaften mit Menschen aus den verschiedensten Ländern. Mit vielen neuen Romanideen kehrte er nach Frankreich zurück. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, wurde als Lehrer in den Staatsdienst übernommen und unterrichtete mit großer Leidenschaft. Ein schwerer Autounfall brachte ihn letztendlich zum Schreiben. In »Ein Engel im Winter« verarbeitet er eine Nahtoderfahrung - und wird über Nacht zum Bestsellerautor. Seine Romane, eine intensive Mischung aus Thriller und Liebesgeschichte, haben ihn weltweit zum Publikumsliebling gemacht. Seit zehn Jahren ist er der meistgelesene Autor in Frankreich. Weltweit wurden mehr als 22 Millionen Bücher des Autors verkauft, er wurde in über 40 Sprachen übersetzt.
Weitere Infos & Material
Inhaltsverzeichnis Auf und davonErster Tag Verwischte Spuren1. Der Papiermensch2. Der Professor3. Die dunkle Nacht der Seele4. Verschwinden lernen5. Die kleine Indianerin und die Cowboys6. Riding with the King Zweiter Tag Der Fall Claire Carlyle7. Der Fall Claire Carlyle8. Geistertanz9. Die Blaubeerstraße10. Zwei Schwestern lebten in Frieden11. Frauen, die keine Männer liebten12. Harlem bei Nacht13. In den Augen der anderen Dritter Tag, morgens Der Fall Joyce Carlyle14. Angel Falls15. Der Fall Joyce Carlyle16. Cold Case17. Florence Gallo Dritter Tag, nachmittags Die Drachen in der Nacht18. Die Straße Richtung Westen19. Biopic20. Alan und die Muckrakers21. Die Zeit des Kummers22. Zorah23. Rauchender Colt24. Ein Nachmittag in Harlem Die Welt teilt sich in zwei Teile ...AnnaClaireRaphaëlMarcLouise Anmerkung des AutorsQuellennachweise
Auf und davon ...
Antibes,
Mittwoch, 31. August 2016
Drei Wochen vor unserer Hochzeit kündigte sich dieses lange Wochenende wie ein kostbares Intermezzo an – ein Moment der Intimität unter der Spätsommersonne der Côte d’Azur.
Der Abend hatte wunderbar begonnen: Spaziergang auf der Befestigungsmauer der Altstadt, ein Glas Merlot auf einer Terrasse und ein Teller Spaghetti mit Venusmuscheln unter dem steinernen Gewölbe des Michelangelo. Wir hatten über deinen Beruf gesprochen und über meinen und auch über die bevorstehende Zeremonie, die im kleinsten Rahmen geplant war. Zwei Freunde als Trauzeugen und mein Sohn Theo zum Beifallklatschen.
Auf dem Rückweg fuhr ich mit unserem gemieteten Cabrio langsam über die kurvenreiche Küstenstraße, damit du die Aussicht auf die kleinen Buchten des Kaps genießen konntest. Ich erinnere mich genau an diesen Augenblick: an deine klaren smaragdgrünen Augen, deinen unkonventionellen Haarknoten, deinen kurzen Rock, deine dünne Lederjacke, die du offen über einem kräftig gelben T-Shirt mit dem Slogan »Power to the people« trugst. Wenn ich in den Kurven schalten musste, betrachtete ich deine gebräunten Beine, wir tauschten ein Lächeln aus, du trällertest einen alten Hit von Aretha Franklin. Alles war gut. Die Luft war mild und erfrischend. Ich erinnere mich genau an diesen Moment: an das Funkeln in deinen Augen, dein strahlendes Gesicht, deine Haarsträhnen, die im Wind flatterten, deine Finger, die auf dem Armaturenbrett den Takt klopften.
Die Villa, die wir gemietet hatten, lag in der Domaine des Pêcheurs de Perles, einer geschmackvollen Wohnanlage mit einem Dutzend Häuser oberhalb des Meers. Während wir die Kiesallee durch den duftenden Pinienwald hinauffuhren, hast du beim Anblick des spektakulären Panoramas vor Begeisterung die Augen aufgerissen.
Ich erinnere mich genau an diesen Moment: Es war das letzte Mal, dass wir glücklich waren.
—
Das Zirpen der Grillen. Das Wiegenlied der Brandung. Die leichte Brise, die seidige feuchte Luft.
Auf der Terrasse, die sich zum Felsrand hin erstreckte, hattest du Duftkerzen und Windlichter angezündet, die die Mücken vertreiben sollten, ich hatte eine CD von Charlie Haden aufgelegt. Wie in einem Roman von F. Scott Fitzgerald hatte ich mich hinter die Theke der Freiluftbar begeben, wo ich uns einen Cocktail mixte. Deinen Lieblingscocktail: einen Long Island Iced Tea mit viel Eis und einer Limettenscheibe.
Selten hatte ich dich so heiter gesehen. Wir hätten einen schönen Abend verbringen können. Wir hätten einen schönen Abend verbringen müssen. Stattdessen war ich von einem Gedanken wie besessen, der mir seit einiger Zeit nicht mehr aus dem Kopf ging, den ich bislang jedoch unterdrückt hatte: »Weißt du, Anna, wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben.«
Warum stieg diese Angst, dich nicht wirklich zu kennen, ausgerechnet an diesem Abend wieder in mir hoch? War es die kurz bevorstehende Hochzeit? Die Angst vor diesem Schritt? Das Tempo, in dem wir beschlossen hatten, uns zu binden? Sicher eine Mischung aus allem, wobei meine eigene Geschichte noch hinzukam, die durch den Verrat von Menschen geprägt war, die ich zu kennen geglaubt hatte.
Ich reichte dir dein Glas und nahm dir gegenüber Platz.
»Ich meine es ernst, Anna. Ich will nicht mit einer Lüge leben.«
»Das trifft sich gut, ich nämlich auch nicht. Aber nicht mit einer Lüge zu leben, das bedeutet nicht, keine Geheimnisse zu haben.«
»Du gibst es also zu: Du hast welche!«
»Aber alle haben doch Geheimnisse, Raphaël! Und das ist auch gut so. Unsere Geheimnisse prägen uns. Sie sind ein Teil unserer Identität, unserer Geschichte, unserer Rätselhaftigkeit.«
»Ich habe keine Geheimnisse vor dir.«
»Ach, das solltest du aber!«
Du warst enttäuscht und wütend. Und ich war es auch. Die ganze Freude und gute Laune vom Beginn dieses Abends waren verflogen.Wir hätten das Gespräch an dieser Stelle abbrechen müssen, aber ich ließ nicht locker, wobei ich sämtliche Argumente aufbot, um zu der Frage zu kommen, die mich nicht losließ.
»Warum weichst du mir immer aus, wenn ich etwas über deine Vergangenheit wissen möchte?«
»Weil die Vergangenheit definitionsgemäß vergangen ist. Man kann sie nicht mehr rückgängig machen.«
Ich reagierte gereizt.
»Du weißt genauso gut wie ich, dass die Vergangenheit Aufschluss über die Gegenwart gibt. Was, um Himmels willen, versuchst du vor mir zu verbergen?«
»Nichts, was unserer Beziehung gefährlich werden könnte. Vertrau mir! Vertrau uns!«
»Hör auf mit diesen Floskeln!«
Ich hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen, woraufhin du zusammengezuckt warst. Dein schönes Gesicht veränderte sich und zeigte jetzt einen Ausdruck von Hilflosigkeit und Angst.
Ich war wütend, weil ich unbedingt beruhigt werden wollte. Ich kannte dich erst seit sechs Monaten, und seit unserer ersten Begegnung hatte ich alles an dir geliebt. Aber ein Teil dessen, was mich anfangs betört hatte – deine Rätselhaftigkeit, deine Reserviertheit, deine Diskretion, deine Zurückhaltung –, waren jetzt Anlass zu einer Angst geworden, die mich fest im Griff hatte.
»Warum willst du unbedingt alles verderben?«, fragtest du, und in deiner Stimme lag Überdruss.
»Du kennst mein Leben. Ich habe mich schon ein Mal getäuscht und kann mir keinen Irrtum mehr erlauben.«
Ich wusste, wie sehr ich dir wehtat, aber ich hatte das Gefühl, ich würde alles hören können, würde aus Liebe zu dir alles ertragen. Solltest du mir etwas Schmerzliches zu gestehen haben, würde ich die Last mit dir teilen und sie damit für dich erleichtern.
Ich hätte den Rückzug antreten und aufhören sollen, aber die Diskussion ging weiter. Und ich habe dir nichts erspart. Denn ich spürte, dass du mir dieses Mal etwas anvertrauen würdest. Also habe ich meine Pfeile systematisch platziert, um dich so zu erschöpfen, dass du dich nicht mehr verteidigen würdest.
»Ich suche nur die Wahrheit, Anna.«
»Die Wahrheit! Die Wahrheit! Du führst dieses Wort im Mund, aber hast du dich jemals gefragt, ob du in der Lage wärst, die Wahrheit auch zu ertragen?«
Dieses Wortgefecht säte Zweifel in mir. Ich erkannte dich nicht wieder. Dein Eyeliner war verlaufen, und in deinen Augen brannte ein Feuer, das ich bisher noch nicht gesehen hatte.
»Du willst wissen, ob ich ein Geheimnis habe, Raphaël? Die Antwort lautet: Ja! Du willst wissen, warum ich nicht mit dir darüber sprechen will: Weil du, sobald du es kennst, nicht nur aufhören wirst, mich zu lieben, sondern mich sogar verabscheuen wirst.«
»Das stimmt nicht, du kannst mir alles sagen.«
Zumindest war ich in diesem Moment felsenfest davon überzeugt, dass nichts, was du mir enthüllen würdest, mich erschüttern könnte.
»Nein, Raphaël, das sind nur leere Worte! Worte, wie du sie in deinen Romanen schreibst, aber die Wirklichkeit ist stärker als Worte.«
Irgendetwas hatte sich verändert. Ein Damm war gebrochen. Jetzt begriff ich, dass auch du dich fragtest, wie viel Mut ich tatsächlich hatte. Auch du wolltest es jetzt wissen. Ob du mich immer lieben würdest, ob ich dich genügend liebte. Ob unsere Beziehung der Granate, die du zünden würdest, standhielte. Dann hast du in deiner Handtasche gewühlt und dein Tablet herausgeholt. Du hast ein Passwort eingegeben und die Foto-App geöffnet. Langsam hast du dich durch die Bilder gescrollt, um ein bestimmtes Foto zu finden. Du hast mir fest in die Augen geblickt, einige Worte gemurmelt und mir das Tablet gereicht. Und ich sah das Geheimnis vor mir, dessen Enthüllung ich dir abgerungen hatte.
»Das habe ich getan«, wiederholtest du mehrmals.
Wie vor den Kopf geschlagen, starrte ich mit leicht zusammengekniffenen Augen auf das Display, bis es mir den Magen umdrehte und ich mich abwenden musste. Ein Frösteln durchlief meinen Körper. Meine Hände zitterten, das Blut pochte mir in den Schläfen. Mit allem hatte ich gerechnet. Ich glaubte, alles im Voraus bedacht zu haben. Aber niemals wäre ich auf diesen Gedanken gekommen.
Mit weichen Knien stand ich auf. Von Schwindel ergriffen, schwankte ich, aber ich zwang mich, mit festem Schritt das Wohnzimmer zu verlassen.
Meine Reisetasche stand noch im Eingang. Ohne dich auch nur anzusehen, nahm ich sie und verließ das Haus.
—
Fassungslosigkeit. Gänsehaut. Aufsteigende Übelkeit. Schweißtropfen, die meinen Blick trübten.
Ich schlug die Tür des Cabrios zu und fuhr wie ferngesteuert durch die Nacht. Wut und Verbitterung tobten in mir. In meinem Kopf drehte sich alles: die Brutalität des Fotos, Verständnislosigkeit, das Gefühl, dass mein Leben in Scherben vor mir lag.
Nach einigen Kilometern bemerkte ich die gedrungene Silhouette des Fort Carré, auf einem Hügel hinter dem Hafen erbaut, um die Stadt zu verteidigen.
Nein. So konnte ich nicht gehen. Ich bedauerte mein Verhalten bereits. Unter dem Schock hatte ich die Fassung verloren, aber ich konnte nicht verschwinden, ohne mir deine Erklärungen anzuhören.
Ich trat auf die Bremse und wendete mitten auf der Straße, wobei ich auf den unbefestigten Seitenstreifen geriet und beinahe mit einem Motorradfahrer zusammengestoßen wäre, der in der Gegenrichtung fuhr.
Ich musste dich dabei unterstützen, diesen Albtraum aus deinem Leben zu verjagen. Ich musste mich so...